Neue Studie Forscher warnen vor blitzartigem Klimawandel

Die Erde erwärmt sich viel schneller, als es selbst düsterste Szenarien vorhergesagt haben, für Gegenmaßnahmen bleiben nur noch wenige Jahre. Diese dramatische Warnung haben jetzt renommierte Klimaforscher veröffentlicht. Kritiker halten den Bericht jedoch für überzogen.
Ölraffinerie in Schottland: Forscher warnen vor dramatischen Folgen des Klimawandels

Ölraffinerie in Schottland: Forscher warnen vor dramatischen Folgen des Klimawandels

Foto: Jeff J Mitchell/ Getty Images

Potsdam/Genf - Je näher die Weltklimakonferenz in Kopenhagen rückt, desto drastischer werden die Warnungen vor den Folgen des Klimawandels. In einem neuen Forschungsbericht ist jetzt die Rede davon, dass die Veränderungen deutlich schneller ablaufen als erwartet. Ohne deutliche Verminderungen der Treibhausgas-Emissionen könnte die globale Durchschnittstemperatur bis zum Jahr 2100 um bis zu sieben Grad Celsius ansteigen, heißt es in der "Copenhagen Diagnosis" , einem Überblicksbericht einiger prominenter Klimaforscher. Nach derzeitigem Forschungsstand gilt eine Erwärmung von zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit als die Grenze, die es einzuhalten gilt, um katastrophale Folgen zu verhindern.

Der Bericht, der am Dienstag in Potsdam veröffentlicht wurde, zielt auf den am 7. Dezember beginnenden Klimagipfel. Wörtlich heißt es darin: "Die großen Eisschilde der Erde verlieren zunehmend an Masse; das arktische Meereis schwindet deutlich schneller als noch kürzlich projiziert, und der Meeresspiegel wird wahrscheinlich stärker ansteigen als bisher angenommen."

In ihrem Papier fassen die 26 Forscher - die meisten von ihnen Mitautoren früherer Weltklimaberichte - Ergebnisse der Klimaforschung zusammen, die noch nicht im 2007 veröffentlichten vierten Weltklimabericht enthalten waren, zwischenzeitlich aber an anderer Stelle veröffentlicht wurden. "Dies ist der letzte wissenschaftliche Aufruf an die Unterhändler von 192 Staaten, den Klimaschutz-Zug in Kopenhagen nicht zu verpassen", sagte Hans-Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimaforschung und einer der Autoren des Berichts. "Sie müssen die ganze Wahrheit über die globale Erwärmung und die damit verbundenen nie dagewesenen Risiken kennen."

Die Erkenntnisse der Wissenschaftler im Einzelnen:

  • Sowohl der grönländische als auch der antarktische Eisschild verlieren zunehmend an Masse und tragen zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Dies zeigten Satellitendaten und direkte Messungen.
  • Das arktische Meereis schwindet deutlich schneller, als nach den Vorausberechnungen zu erwarten war: So war der Eisverlust in den Sommern 2007, 2008 und 2009 jeweils rund 40 Prozent größer als der Mittelwert der Simulationsrechnungen, die im vierten Weltklimabericht vom Februar 2007 stehen.
  • In den vergangenen 15 Jahren ist der Meeresspiegel um mehr als fünf Zentimeter gestiegen - rund 80 Prozent mehr, als im dritten Weltklimabericht aus dem Jahr 2001 vorausberechnet worden war. Durch den Schmelzwasserzufluss von Eisschilden und Gebirgsgletschern könnte der Pegel bis zum Jahr 2100 global um mehr als einen Meter bis maximal zwei Meter ansteigen. Im nächsten Jahrhundert muss mit einem weiteren Anstieg gerechnet werden.
  • 2008 wurden rund 40 Prozent mehr Kohlendioxid aus fossilen Quellen freigesetzt als 1990. "Selbst wenn die Emissionen nicht weiter zunähmen, wäre schon innerhalb von 20 Jahren das Emissionsbudget aufgebraucht, das der Welt noch zur Verfügung steht, wenn die globale Erwärmung auf höchstens zwei Grad begrenzt werden soll", heißt es in dem Bericht.

Der Zeitrahmen für Maßnahmen gegen den Klimawandel hat sich dadurch nach Meinung der Wissenschaftler deutlich verengt. Der globale Treibhausgasausstoß müsse schon in fünf bis zehn Jahren seinen Höhepunkt erreichen "und anschließend schnell abnehmen, damit die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels vermieden werden können". Noch in diesem Jahrhundert müssten die Emissionen auf Null gesenkt werden, um das Klimasystem zu stabilisieren.

Kritik an zu lauter Warnung auf Basis kurzzeitiger Effekte

Andere Klimaforscher kritisieren jedoch, dass lediglich auf Basis kurzzeitiger Entwicklungen Alarm geschlagen wird. Ihr Argument: Man müsse Umweltschutzmaßnahmen zwar entschlossen vorantreiben, doch seien allzu laute Warnungen vor einem erhöhten Zeitdruck eher kontraproduktiv.

Die "Copenhagen Diagnosis" sei ein gutes Beispiel dafür, meint Hans von Storch, der am Institut für Meteorologie der Universität Hamburg und am Institut für Küstenforschung in Geesthacht tätig ist. "Die Aussagen sind nicht neu, sondern seit geraumer Zeit in der Community bekannt", so der Forscher. Die Angaben zum Meeresspiegel seien "zumindest problematisch". "Wirklich bedenklich" aber sei der Versuch, aus der Entwicklung weniger Jahre Aussagen über den langjährigen Trend zu ziehen.

Ein Beleg dafür sei die aktuelle Debatte darüber, dass der Klimawandel zwar an einigen Brennpunkten schnell voranschreitet, die globale Durchschnittstemperatur aber stagniert - ein Effekt, den sich Forscher nicht recht erklären können. Überraschend kommt das für von Storch und andere Fachleute nicht: Natürliche Klimaschwankungen hat es immer schon gegeben, verursacht etwa durch Zyklen in der Sonnenaktivität oder in den Ozeanströmungen. Die Warner wiederum sehen darin eine zusätzliche Gefahr: Der Temperaturstillstand könnte den politischen Willen zu massiven Klimaschutzmaßnahmen untergraben. Nach dem Ende der vorübergehend kühlenden Effekte könnten die Temperaturen dann noch rasanter steigen, sollte der menschliche Treibhausgas-Ausstoß ungebremst weiter wachsen.

Von Storch übt scharfe Kritik an den Verfassern der "Copenhagen Diagnosis": "Offensichtlich geht es den Autoren darum, den politischen Prozess in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die politische Signalwirkung scheint wichtiger als die wissenschaftliche Seriosität, wonach man Ergebnisse erst in Ruhe und breit in der Community diskutiert, bevor man die Öffentlichkeit alarmiert." Für die Politik seien die neuen Kenntnisse ohnehin "nicht besonders relevant", weil es schon jetzt genügend unstrittige Ergebnisse zu den Gefahren des Mensch-gemachten Klimawandels gebe. "Politik braucht keine hundertprozentige Sicherheit in allen Details, um zu wirksamen Beschlüssen zu kommen", meint von Storch.

Treibhausgas-Emissionen steigen, anstatt zu sinken

Die Mahner dürfte das wenig beeindrucken. "Unser Spielraum für erlaubte Emissionen, die unsere Klimazukunft nicht zu stark gefährden, ist so gut wie ausgeschöpft", sagte Matthew England, Direktor am Climate Change Research Centre der University of New South Wales. Innerhalb nur eines Jahrzehnts müssten die globalen Emissionen beginnen, abzunehmen. Diese Forderung dürfte allerdings utopisch sein: Anstatt zu sinken, sind die Emissionen in den vergangenen Jahren sogar noch gestiegen - allein zwischen 1997 und 2008 um rund 30 Prozent. Als Ursache gilt vor allem das rasante Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern.

Ein neuer Bericht der Uno-Wetterbehörde WMO bestätigt diesen Trend: Der Kohlendioxid-Gehalt in der Atmosphäre ist 2008 etwas schneller angestiegen als während des vergangenen Jahrzehnts, sagte WMO-Chef Michel Jarraud am Montag. Die Konzentrationen der wichtigsten Klimagase Kohlendioxid, Methan und Lachgas befänden sich auf dem höchsten Niveau seit dem Beginn des Industriezeitalters. Damit könnten die schlimmsten Szenarien zum weltweiten Temperaturanstieg wahr werden, warnte Jarraud.

Die Klimaschutz-Bilanz der vergangenen Jahre fällt damit verheerend aus. Mit der Veröffentlichung des letzten Sachstandberichts des Uno-Klimarats IPCC im Februar 2007 war die Debatte endgültig in der breiten Öffentlichkeit angekommen und erreichte mit der Weltklimakonferenz auf der indonesischen Insel Bali im Dezember 2007 einen weiteren Höhepunkt. Doch geschehen ist seitdem kaum etwas - zumindest nicht im Sinne des Klimaschutzes. Der Abschluss eines verbindlichen internationalen Vertrags in Kopenhagen, der das 2012 auslaufende Kyoto-Protokoll ablösen könnte, erscheint inzwischen in weiter Ferne - obwohl genau das auf Bali beschlossen worden war.

Zudem warnen immer mehr Experten davor, dass der Klimawandel auch zu einem massiven Sicherheitsproblem werden dürfte. Insbesondere im Afrika südlich der Sahara könnte die Zahl bewaffneter Konflikte stark steigen, schreiben der Agrarökonom Marshall Burke von der University of Berkeley in Kalifornien und seine Kollegen im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences". Bis zum Jahr 2030 rechnen die Forscher in Afrika mit einem Anstieg der Kriege um 54 Prozent, wodurch es fast 400.000 zusätzliche Tote geben könnte.

Mit Material von AP
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