Neuentdeckter Indianerstamm "Das kann der Anfang vom Ende sein"
Berlin - Feuerrot und pechschwarz angemalte Menschen, mit archaischen Waffen auf die fremden Späher im Himmel zielend - so zeigen die Bilder der brasilianischen Indianerschutzbehörde Funai den neu entdeckten Indianerstamm im Urwald Brasiliens, nahe der Grenze zu Peru. In einer geraden Linie, zwischen turmhohen Bäumen aufgestellt, reihen sich die astbedeckten Hütten, in der Nähe liegen bepflanzte Felder.
Die Funai-Beamten um José Carlos dos Reis Meirelles Júnior sind mit dem Flugzeug über die Heimat des Stammes geflogen - und haben ihre sensationellen Fotos mit einer klaren Absicht veröffentlicht: "Es geht darum zu beweisen, dass diese Menschen existieren", erklärt Fiona Watson von der Organisation Survival International im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
Im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet gebe es derzeit massive Probleme durch illegalen Holzeinschlag, vor allem auf der peruanischen Seite. "Dadurch kommen andere unberührte Indianerstämme über die Grenze nach Brasilien und bringen Konflikte mit", sagt Watson. Der Entdecker des Stammes, Meirelles, nannte den illegalen Holzeinschlag ein "monumentales Verbrechen" gegen die Natur und die dort lebenden Stämme. Die Indianerschützer beschuldigen vor allem Perus Präsident Alan García, die Existenz der unentdeckten Stämme immer wieder zu negieren. Mit den Bildern wollte Funai nun Beweise auf den Tisch legen.
Etwas mehr als 60 unentdeckte Stämme gibt es nach Erkenntnissen der Gesellschaft für bedrohte Völker in Brasiliens Urwäldern. Weltweit gehen die Kollegen von Survival International von rund hundert Gruppen dieser Art aus. Der größte Teil der betroffenen Stämme hat sich freiwillig für die Isolation entschieden: wegen Streitigkeiten mit anderen Stämmen - und vor allem wegen der als bedrohlich empfundenen Auswirkungen der Zivilisation.
"Diese Menschen haben sich bewusst zurückgezogen, vor Störungen von außen, vor Straßenbau, vor Kautschukzapfern, die es seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Amazonas gibt", sagt Yvonne Bangert von der Gesellschaft für bedrohte Völker im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Ihre Verstecke würden die scheuen Waldbewohner nur aus zwei Gründen verlassen: wenn sie es bewusst wollten - oder wenn sie mit Gewalt dazu gezwungen würden.
Im Sommer 2007 war zum Beispiel das kleine Volk der Metyktire unvermittelt in einem Dorf im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso aufgetaucht. Die aus knapp 90 Menschen bestehende Gruppe war offenbar auf der Flucht vor Holzfällern. Die oftmals unbekleideten Männer des Ureinwohner-Stammes trugen schwarz-rote Gesichtsbemalungen und tellergroße Scheiben in der Unterlippe. Frauen rasierten in Stammestradition die Köpfe kahl. Rund 50 Jahre lang lebten die Metyktire vollkommen zurückgezogen.
In Colíder, der nächstgelegenen Stadt, hatte ein Häuptling vom Stamm der Kayapó, zugleich Chef der Indianerbehörde, vom Besuch aus dem Dschungel gehört. Er organisierte Medikamente gegen Grippe und Malaria, verhängte eine Zugangssperre über das Reservat und machte sich auf den Weg ins Dorf. Aber er kam zu spät: Nach zwei Tagen waren die Metyktire wieder im Wald verschwunden.
Der Kontakt mit der Außenwelt ist für die Indianer gefährlich: "Das kann der Anfang vom Ende sein", sagt Bangert. Und Gerd-Dieter Burchard vom Tropeninstitut in Hamburg bestätigt: "Eingeschleppte Krankheiten wären ein Riesenproblem. Gefährlich sind vor allem Masern und Tuberkulose." Die britische Indianer-Aktivistin Watson wirbt deswegen mit eindringlichen Worten für eine Kontaktsperre: "Es gibt Beispiele, wo 50 Prozent eines Stammes innerhalb eines Jahres nach dem ersten Kontakt gestorben sind."
Wie ließen sich solche Probleme beheben? "Einen realistischen Weg gibt es nicht", sagt Tropenmediziner Burchard. Zwar könne man in gut vorbereiteten Missionen zunächst den Gesundheitszustand der Indianer untersuchen, dann könne man gezielt impfen, aber auch dieses Vorgehen biete keinen vollständigen Schutz.
Bedrückende Erfahrungen bei den Yanomami
Beispielhaft für das Scheitern eines Kontakts mit der Außenwelt sind die Erfahrungen der Yanomami. Dieses Indianervolk mit etwa 25.000 Mitgliedern lebt am Oberlauf des Orinoco, im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Venezuela. Die Yanomami traten erstmals Mitte des 20. Jahrhunderts in Kontakt mit Weißen.
Die Yanomami leben als Ackerbauern vom Brandrodungsfeldbau, sowie als Jäger und Sammler. Zum Verhängnis wurde ihnen, dass in den achtziger Jahren in ihrem Gebiet Gold und Uran gefunden wurden. Die Folge war, dass Anfang der Neunziger Tausende Goldsucher und Kleinbauern ihr Gebiet überrannten. 20 Prozent der Yanomami starben daraufhin - innerhalb von nur sieben Jahren.
Doch immerhin, den verbleibenden Yanomami gelang es, ihren Lebensraum zu verteidigen - mit Unterstützung Prominenter. Der Musiker Sting beispielsweise setzte sich damals für die Sache ein, bis Brasilien den Ureinwohnern eine Schutzzone versprach. In Deutschland wurden die Yanomami durch Rüdiger Nehberg bekannt, der in den achtziger Jahren zu ihnen reiste und mit ihnen lebte. Nehberg schrieb mehrere Bücher über die Yanomami und die Ausbeutung ihres Lebensraumes.
Trotz Schutzzonen sind die Yanomami noch immer bedroht: In den vergangenen Jahren kamen die Goldsucher wieder und scherten sich nicht um die Gesetze. Die brasilianische Hauptstadt ist weit weg, die Polizei machtlos. "Die Garimpeiros [illegale Goldsucher] bringen Alkohol, Prostitution und Krankheit", klagte Dario Yanomami, der Sohn des Häuptlings. "Unser Volk stirbt."
Ende 2007 traf sein Vater, Häuptling Davi Yanomami, auf einer Konferenz Brasiliens Regierungschef Lula da Silva. Der Indianer sah dem Präsidenten in die Augen. Und dann sagte er: "Deine Regierung muss sehr vorsichtig sein. Denn ihr wisst nicht, wie man mit der Natur umgeht. Aber ich sage dir, dass die Maschine, die die Löcher gräbt, die Lunge der Erde beschädigt. Die ganze Welt wird bluten."
Die Brasilianer wollen dem neu entdeckten Stamm solche unerfreulichen Begegnungen mit der Zivilisation ersparen. Niemand soll erfahren, wo genau der neu entdeckte Indianerstamm lebt. "Ich glaube, dass das einzigartige Fotos sind", sagt Indianerschützerin Watson. Niemand außer den Funai-Mitarbeitern wüsste, wo genau im riesigen Urwaldgebiet die Indianer zu finden seien. "Solch einen Flug wird es vorerst nicht wieder geben."