Neutrino-Experiment in Karlsruhe So viel wiegt ein Geisterteilchen

Ein Teil der Neutrinos, die unsere Erde passieren, entsteht durch die kosmische Strahlung in der Atmosphäre
Foto: Science Photo Library/ imago imagesWie misst man, was eigentlich nicht zu messen ist? Wie kommt man etwas auf die Schliche, das sich fast jeder Beobachtung entzieht? Wenn sich Forscher mit Neutrinos beschäftigen, stehen sie vor genau diesen Fragen. Die winzigen Partikel jagen in unvorstellbaren Mengen fast lichtschnell durchs Universum. Weil sie aber extrem massearm und elektrisch nicht geladen sind, kommen sie kaum mit anderer Materie in Kontakt. Daher werden sie auch manchmal etwas flapsig als Geisterteilchen bezeichnet.
Die Sache ist nämlich so: Pro Sekunde prasseln 60 bis 100 Milliarden Neutrinos auf jeden Quadratzentimeter der Erde ein - und nichts passiert. Nur an einigen Neutrino-Observatorien, untergebracht an exotischen Orten wie alten Bergwerken oder dem Südpol, lässt sich der Dauerbeschuss nachweisen.
Trotzdem sind Neutrinos für unser Verständnis der Welt wichtig. Mit ihrer Hilfe können Wissenschaftler Rückschlüsse auf die Zeit unmittelbar nach dem Urknall ziehen. Ebenso können sie sich Gedanken über die Bildung großräumiger kosmischer Strukturen machen. Und wer bei der Untersuchung der allerkleinsten Bausteine der Welt in Bereiche jenseits der bekannten Modelle vorstoßen will, sollte sich auch mit Neutrinos befassen.
500.000 Mal leichter als ein Elektron
Bei einem aufwändigen Experiment am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) arbeiten Forschende derzeit daran, die Ruhemasse der geheimnisvollen Teilchen mit bisher nie gekannter Präzision zu bestimmen. Allein die Vorarbeiten dauerten 15 Jahre. Nun hat das Team erste Ergebnisse veröffentlicht. Demnach ist ein Neutrino mindestens 500.000 Mal leichter als ein Elektron. Konkret liegt die Masse der Partikel bei höchstens 1,1 Elektronenvolt.
Die Einheit Elektronenvolt wird in der Atomphysik normalerweise für eine Energie verwendet. Sie kann aber auch für die Masse verwendet werden, weil nach Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie Masse in Energie umgewandelt werden kann.
Frühere Messungen hatten die Obergrenze der Neutrino-Ruhemasse noch mit zwei Elektronenvolt angegeben. Aus früheren kosmologischen Berechnungen haben Forschende auch schon eine Mindestmasse festgelegt. Diese liegt bei 0,1 Elektronenvolt, basiert aber auf einigen Vorannahmen . Das korrekte Ergebnis liegt also irgendwo zwischen etwa 0,1 und 1,1 Elektronenvolt. Der "Katrin" genannte Versuchsaufbau in Karlsruhe könnte den Korridor in den kommenden Jahren noch verkleinern, auf den Bereich zwischen 0,1 und 0,2.

Die Vakuumkammer des "Katrin"-Experiments ist ungefähr so lang wie ein Blauwal
Foto: Uli Deck / dpaWeil Neutrinos sich so beständig der Beobachtung entziehen, werden sie in dem Experiment indirekt vermessen. Das bedeutet, dass der radioaktive Zerfall des Wasserstoffisotops Tritium untersucht wird, das eine Halbwertszeit von gut zwölf Jahren hat. Bei dem Prozess entsteht nicht nur das Isotop Helium-3, sondern auch ein Elektron und eine bestimmte Art des Neutrinos.
In der gut 23 Meter langen Edelstahl-Vakuumkammer des Experiments wird mit einem Spektrometer die Energie der entstehenden Elektronen vermessen. Aus dieser lässt sich dann die Energie der Neutrinos ableiten - und damit auch ihrer Masse.
Es gibt drei Arten der Geisterteilchen
Die Partikel existieren in drei verschiedenen Arten: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Ein Partikel kann aber zwischen diesen Arten hin- und herwechseln. Forschern wurde das vor etwa 20 Jahren klar - und das war auch der Moment, in dem feststand, dass die Teilchen nicht komplett masselos sein können. Sonst wäre solch ein Wechsel nach den uns bekannten physikalischen Gesetzen nicht möglich. Für diese Erkenntnis ging 2015 der Physiknobelpreis an den Japaner Takaaki Kajita und den Kanadier Arthur McDonald.
In Karlsruhe wird konkret die Ruhemasse des Elektron-Neutrinos vermessen. Daraus lassen sich dann die Werte für Myon- und Tau-Neutrino bestimmen. Die aktuell vorgestellten Ergebnisse basieren auf einem 28 Tage langen Messzeitraum. Insgesamt soll das Experiment 1000 Tage laufen - und so noch deutlich präzisere Resultate liefern.
"Dass 'Katrin' nach einer Messkampagne von nur wenigen Wochen im Frühjahr 2019 bereits die weltbeste Sensitivität für die Neutrinomasse besitzt und die mehrjährigen Messungen der Vorgängerexperimente um einen Faktor zwei verbessert, zeigt das außerordentlich hohe Potenzial unseres Projekts", jubeln Christian Weinheimer von der Universität Münster und Guido Drexlin vom KIT. Beide sind Co-Sprecher des Experiments, an dem insgesamt 150 Forschende von 20 Instituten in sieben Ländern mitarbeiten.
Und auch Forschende, die nicht an dem Projekt beteiligt sind, äußern sich lobend: "Es ist beeindruckend, welche großen technologischen Herausforderungen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den vergangenen Jahren gemeistert haben, um die genaueste Waage der Welt zu bauen", sagt Christian Stegmann, Direktor des Bereichs Astroteilchenphysik am Deutschen Elektronen-Synchrotron in Zeuthen, im Gespräch mit dem SPIEGEL.
"Schon das erste Ergebnis des Experiments zeigt, dass wir in Zukunft noch weitere bahnbrechende Ergebnisse erwarten dürfen", hofft Stegmann. Die Masse des Neutrinos, so der Forscher, sei immerhin eine der wesentlichen Unbekannten des Standardmodells der Elementarteilchen und habe einen großen Einfluss auf das Verständnis der Menschen vom Universum.