Nordsee Riesenwellen verblüffen Experten

Der Orkan "Britta" hat die Wellen in der Nordsee zu rekordverdächtigen Höhen aufgepeitscht. Das Bundesamt für Seeschifffahrt meldete die höchsten Seegangsmessungen seiner Geschichte. Selbst Seewetter-Experten staunen angesichts dieser Naturgewalt.
Von Markus Becker und Stefan Schmitt

Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 156 Kilometern pro Stunden fegte am Mittwoch Tief "Britta" über die Nordsee und Norddeutschland. Auch im Bereich der Nordseeinseln erreichte der Sturm teilweise die Stärke eines Orkans. Dadurch kam es zu rekordverdächtigem Seegang. Nachrichtenagenturen meldeten Wellenhöhen von bis zu 17 Metern in der Nordsee.

Nach Angaben des Seewetter-Experten Wolfgang Rosenthal vom GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht wird in der Nordsee eine "Jahrhundertwelle" - ein Brecher, der statistisch gesehen einmal alle 100 Jahre vorkommt - 18 bis 19 Meter hoch. Allerdings gelte das, wenn die Welle bei den schottischen Orkney-Inseln in die Nordsee eintrete. Mit abnehmender Wassertiefe sinke aber auch die Höhe der Welle, so dass eine solche Jahrhundertwelle in der Deutschen Bucht nur noch 10 bis 11 Meter hoch sei.

Eine Messboje des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) hatte gestern im 25 Meter tiefen Wasser vor der Elbmündung zunächst knapp 15 Meter hohe Wellen gemeldet. Dabei handelte es sich nach Angaben des BSH zwar um einen Messfehler, wahrscheinlich aufgrund einer Funkstörung. Dafür aber habe die Forschungsplattform "Fino", die rund 50 Kilometer nördlich der Insel Borkum stationiert ist, Zehn-Meter-Brecher gemessen - "das ist der höchste Seegang, den das BSH in seiner Geschichte jemals beobachtet hat", sagte ein Mitarbeiter des Bundesamts zu SPIEGEL ONLINE.

Eine "Freak Wave" lag wahrscheinlich nicht vor, sagte Rosenthal. "Es ist zwar eine gesicherte Erkenntnis, dass es in der Nordsee zu Freak Waves kommen kann", so der Experte. Als Freak Wave gilt eine Welle aber erst dann, wenn sie mindestens das Doppelte der signifikanten Wellenhöhe erreicht. Dieser Wert ist der Durchschnitt aus dem oberen Drittel aller Wellen. Sie entspricht in etwa der Seegangshöhe, die erfahrene Seeleute mit bloßem Auge schätzen. "In der Nordsee kommt es nach bisherigen Beobachtungen alle 20 bis 50 Jahre zu einer Freak Wave", so Rosenthal.

Rekord-Hochwasser an den Küsten

An den Küsten ging der Sturm nicht spurlos vorüber. Niedersachsen verzeichnete eine der schwersten Sturmfluten der vergangenen 100 Jahre. In der Emsmündung registrierte der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz am gestrigen Morgen die höchsten jemals gemessenen Wasserstände: 3,90 Meter über mittlerem Tidehochwasser am Emssperrwerk bei Gandersum und 3,60 Meter bei Emden. Auf Borkum erreichte das Hochwasser mit 2,70 Meter über dem Durchschnitt die Pegelmarke der großen Sturmflut von 1962, der Pegel Bensersiel zeigte mit 2,91 Meter über der durchschnittlichen Flut den dritthöchsten Stand nach 1906 und 1962.

Auch an der Ostseeküste tobte der Sturm. Die letzte große Flut hat die deutsche Ostseeküste 1996 erlebt."Wir nehmen als Maßstab immer noch die Sturmflut von 1872, da waren es am Pegel von Warnemünde 2,42 Meter", sagte Hans Joachim Meier, der Leiter des staatlichen Amts für Umwelt und Natur in Rostock, zu SPIEGEL ONLINE. In Warnemünde, wo der Rostocker Hafen liegt, waren es damals 1,60 Meter Wasserhöhe mehr als normalerweise. Rund 250 Millionen Euro sind in Mecklenburg-Vorpommern seit Anfang der neunziger Jahre in den Küstenschutz investiert worden. "Wir planen für einen Wasserstand von drei Metern bis 3,10 Metern voraus", sagte Meier, "also etwa 60 Zentimeter über die Höhe von 1872."

Auch damals ereilte keine der deutschen Ostseestädte das Schicksal des sagenhaften Vineta. Der Legende nach ist diese Stadt in den Fluten der Ostsee versunken. Bis heute streiten Forscher darüber, wo die bislang unentdeckte Stadt liegen soll: vor Koserow (Insel Usedom), an der Stelle von Wollin oder vor Barth in der Ostsee.

Digitale Sturmflut der Küstenschützer

Was passiert, wenn die Wellenhöhe doch die Deiche überschreitet - oder einer von ihnen nachgeben sollte, wissen Meiers Mitarbeiter genau. Ein digitales Höhenmodell zeigt die Städte an der Ostseeküste im Computer. Per Knopfdruck können die Folgen einer Überflutung simuliert werden. Beispiel Barth: Nach einem Deichbruch würde der Stadtkern schon ab einem Wasserstand von 2,10 Metern zur Insel.

"Barth ist versunken wie einst Vineta. Überall ist Wasser, nur der mittelalterliche Stadtkern ragt einer Insel gleich aus der Flut", schrieb die "Ostsee-Zeitung" angesichts der Fotomontagen des Küstenstädtchens. Auch für Warnemünde zeigt das Trickbild ein nasses Schicksal: Eine Jahrhundertsturmflut würde fast die gesamte Bebauung überfluten.

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