Evolutionsforschung Das Geheimnis in Europas ältestem See

Blick auf den Ohridsee
Foto: Martin Siepmann / imagebroker / imago imagesWenn man von den Höhen des Galičica-Nationalparks auf den schimmernden Ohridsee hinunterschaut, kann man sich für einen Augenblick vorstellen, dass dort keine Hotels und Restaurants stehen, keine Einkaufsmärkte und Fabriken. Man kann, kurz zumindest, ein Gefühl dafür bekommen, wie es war, als die Grenzregion zwischen Nordmazedonien und Albanien menschenleer war.
Seit etwa 6500 Jahren siedeln Menschen an den Ufern des Sees, doch das Gewässer hat eine viel, viel längere Geschichte. "Der Ohridsee ist der älteste See in Europa. Er existiert seit 1,36 Millionen Jahren ohne Unterbrechung", sagt der Geograf Bernd Wagner von der Universität Köln. "Es ist einmalig, dass wir ein Ökosystem über einen so langen Zeitraum verfolgen können."
Zum Vergleich das Alter der Gewässer in Deutschland: Bodensee, Müritz und andere entstanden zumeist erst nach der letzten Eiszeit vor etwa 10.000 Jahren, als die Gletscher schmolzen. Einzig die Maare der Eifel sind zum Teil noch etwas älter.
Der Ohridsee ist Mitglied in einem ziemlich exklusiven Klub, dem der ältesten Seen der Erde. Zu ihm gehören auch Baikal-, Tanganjika- oder Titicacasee. Wagner hat zusammen mit Kollegen einen 565 Meter langen Sedimentkern mit Ablagerungen vom Boden des Gewässers ausgewertet. Die Proben sind ein einmaliges Archiv für die Entwicklung des Klimas im Mittelmeerraum . Sie ermöglichen aber, wie das Team nun im Fachmagazin "Science Advances" berichtet, auch einen Blick in ein einzigartiges Labor des Lebens.
"Es gibt viele endemische Arten, die nur hier vorkommen", sagt der Evolutionsbiologe Thomas Wilke von der Universität Gießen. Und wer diese Arten näher untersucht, wer ihr Werden und Verschwinden studiert, kann der Evolution bei der Arbeit zusehen.
Er kann sehen, wie lange es dauert, bis sich in einem neuen Lebensraum eine neue Spezies bildet, kann deren Konkurrenz um Lebensraum und Nahrung analysieren. Und er kann feststellen, wann und warum sie schließlich wieder verschwinden. All diese Informationen finden sich in den unzähligen Lagen des Sedimentkerns, von denen die ältesten ganz unten und die jüngsten ganz oben liegen. "Der Bohrkern ist ein Bilderbuch der Geschichte des Sees", sagt Wilke.
Unverwüstliche Winzlinge
Rund 200 Arten kennen die Forscher, die einzig im Ohridsee zu Hause sind. Am bekanntesten ist die rund 60 Zentimeter lange, mit bunten Flecken gezeichnete Ohridforelle. Wilke und seine Kollegen aber hatten vor allem Augen für viel kleinere Seebewohner, die sich im Sediment finden: Kieselalgen. Mehr als 150 verschiedene Spezies dieser sogenannten Diatomeen konnte das Team nachweisen.
Die Diatomeen verfügen über eine harte Hülle aus Siliziumdioxid. Und die ist ziemlich unverwüstlich, deswegen haben die Exemplare im Sediment teils viele Hunderttausend Jahre unbeschadet überstanden. Unter dem Mikroskop weisen sie, je nach Art, charakteristische Formen und Strukturen auf. Diese individuellen Ausprägungen halfen den Forscher zu verstehen, in welchen Zeiträumen neue Arten im See entstanden - und wann diese schließlich wieder ausstarben.

Verschiedene Kieselalgen aus dem Ohridsee in einer nachkolorierten Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme
Foto: Zlatko Levkov / Elena JovanovskaDie neue Arbeit wirft ein Paradigma der Evolutionsforscher über den Haufen. Bis jetzt, sagt Wilke, sei man von folgender Situation ausgegangen: Wenn irgendwo auf der Welt ein neues Habitat entsteht, ist die Bildungsrate neuer Arten am Anfang hoch, weil alle Spezies noch einen für sie passenden Lebensraum finden können. Die Aussterberate, so die bisherige Meinung, liege am Anfang dagegen sehr niedrig. "Es sieht aber komplett anders aus", fasst Wilke die Erkenntnisse aus dem Ohridsee zusammen.
Bei der Analyse des Sediments zeigte sich, dass es hohe Aussterberaten auch schon zu Beginn der Entwicklung des Lebens im See gab. Zwar hätten viele Arten eine ökologische Nische gefunden, an dem die Konkurrenz gering war, erklärt der Evolutionsbiologe. Oft genug sei diese aber doch ungeeignet gewesen - und die Spezies sei schließlich verschwunden. Erst nach und nach sei Ruhe im See eingekehrt: "Am Anfang haben viele Arten nur ein paar Tausend Jahre existiert", sagt Wilke. "Aber jetzt sind es Millionen." Das Ökosystem des Sees ist mit der Zeit stabil geworden.
Für die Evolutionsforschung interessanter als Galápagos
Was bringt es nun aber, wenn man die Artbildungsraten von Algen in einem See auf dem Balkan kennt? Man kann damit, so sagen die Forscher, auch das Schicksal anderer Spezies an anderen Orten der Welt gut studieren. "Man könnte meinen, dass solche kleinen Algen kommen und gehen", so Wilke. "Aber die Zeiträume, in denen Spezies bei Kieselalgen entstehen und wieder verschwinden, sind vergleichbar mit denen von Säugetieren." Die Diatomeen aus dem Ohridsee, sagt der Forscher, seien "gute Modelle für die Evolution".
Man könne mithilfe der winzigen Kieselalgen sogar mehr über die Entwicklung der Arten lernen als etwa auf den durch Charles Darwin gerade dafür bekannten Galápagos-Inseln, so Wilke. Im Ohridsee existieren zum einen deutlich mehr Spezies, die es nur dort gibt. Die wissenschaftliche Analyse wird durch die größere Stichprobe deutlich präziser. Zum anderen sind die Fossilien der Kieselalgen im Sedimentkern perfekt erhalten. Von den Arten auf Galápagos, Echsen und Vögel, fehlen fossile Überreste dagegen weitestgehend.
Am Ohridsee könne man exemplarisch sehen, was ein stabiles Ökosystem ausmache, sagt Wilke. Nach der turbulenten Anfangszeit seien die Lebensgemeinschaften verblüffend stabil geblieben, auch wenn sich Umweltfaktoren geändert hätten. Warmzeiten und Kaltzeiten kamen und gingen - und das Leben lief weiter. Die Arten hatten irgendwo im tiefen Seewasser ihren jeweiligen Platz gefunden, mussten wenig untereinander konkurrieren. So konnten sie Stress von außen vergleichsweise gut aushalten.
Der See hält vieles aus - aber nicht alles
"Der See kann vieles abpuffern", so Wilke. Das sei im Prinzip bis heute so: Steigende Lufttemperaturen in Zeiten des menschengemachten Klimawandels, Nährstoffüberfluss aus der Landwirtschaft, Müll, eingeschleppte Arten - der Ohridsee und das Leben in ihm scheinen bisher damit so leidlich klarzukommen, so der Forscher. Aber dieser Eindruck sei trügerisch: "Ich kann viel mit dem See machen", warnt Wilke. "Aber eben nicht alles."
Zur Erklärung, was schieflaufen kann, führt der Biologe das Beispiel der Korallenriffe in den Weltmeeren an. Diese seien seit Jahrzehnten im Stress - durch Raubbau, Müll und Dynamitfischerei zum Beispiel. Die steigenden Wassertemperaturen durch den Klimawandel als weiterer Faktor hätten die Riffe schließlich vielerorts über einen Tipping Point kippen lassen. Nun kämpften die Riffe ums Überleben - und so könne es auch im See kommen.
Es müsse darum gehen, alle Belastungen - durch Müll und eingeschleppte Arten etwa - möglichst gering zu halten, damit die Folgen des Klimawandels den See nicht über den Kipppunkt brächten. Wann dieser Tipping Point droht? Das könne man nicht seriös voraussagen, sagt Wilke. "Eine winzige Veränderung kann aber ausreichen, um eine Katastrophe auszulösen." Dann verliere man nicht nur eine oder zwei der spezialisierten Arten im See, sondern etwa 80 Prozent. "Dann werden die Karten neu gemischt, dann beginnt der Kampf ums Überleben neu."