Phänomen am Eiger Wackel-Wand versinkt im Eis

Die Bergsturzflanke des Eiger im Berner Oberland rutscht hinab: Täglich gleiten fünf Millionen Tonnen Felsgestein bis zu 70 Zentimeter in die Tiefe - direkt hinein in den Gletscher. Geologen halten das Phänomen für weltweit einzigartig.
Von Joachim Hoelzgen

Bei Hansruedi Burgener, dem Pächter der Bäregghütte im Berner Oberland, herrscht immer noch ganz schön Betrieb. Bis zu 200 Wanderer trotten täglich hoch zu seinem Berggasthof, um das dramatische Bild gleich gegenüber zu bestaunen: eine zerschrundene und steile Felsflanke, die langsam, aber sicher bergab rutscht - zum Unteren Grindelwaldgletscher, von dem hin und wieder rauchige Nebel emporsteigen.

Am Abend des 13. Juli hat sich hier ein Bergsturz abgespielt, der die Bäregghütte in der ganzen Welt bekannt machte. Vom Fuß des finsteren, 3970 Meter hohen Eiger waren an diesem Tag 460.000 Tonnen Fels und Geröll abgebrochen und krachend auf den Gletscher darunter gestürzt. Kolonnen Schaulustiger pilgerten daraufhin zur Bäregghütte - hauptsächlich Turnschuhtouristen, unter ihnen japanische Feriengäste mit Strohhüten und Inderinnen im Sari.

Auch diese Woche ist die Terrasse der Hütte gut besetzt. Burgener hat nur die Sonnenschirme weggestellt, "weil es halt früh schattig wird". Die Besucher trinken "Bergsturzkaffi" - eine Melange aus Pflaumenschnaps, Kaffee und Rahm. Und sie futtern die Vorräte der Küche weg, so dass Hüttenwirtin Marianne Burgener am Mittwoch die Spaghetti Bolognese mit Apfelmus als Beilage servieren musste, weil der Salat ausgegangen war.

Eislawinen vom Hängegletscher

Drüben, an der Ostflanke des Eiger, sackt derweil die Felswand ab. Ein vorgelagertes Felspaket, das 2,5 Millionen Tonnen wiegt, gleitet täglich 15 Zentimeter in die Tiefe. Und dahinter hat eine Felsmasse Fahrt aufgenommen, die pro Tag sogar 70 Zentimeter talwärts rutscht. Seit dem Bergsturz im Juli ist der Koloss, der gleichfalls 2,5 Millionen Tonnen schwer ist, 40 Meter abgerutscht.

Sonst sei es am Eiger aber eher ruhig, erzählt Hansruedi Burgener. Nur manchmal jagten einzelne Felsbrocken nach unten. Spektakulär sei aber, dass oft Eislawinen in die Tiefe donnerten, die sich vom sogenannten Challifirn gelöst haben - ein Hängegletscher hoch über den Abgründen und Klippen vis-à-vis.

Das Phänomen der wegsackenden Felswände beschäftigt vor allem den Eiger-Geologen Hans-Rudolf Keusen, Chef der Firma Geotest AG in Zollikofen nahe Bern. Zu dem Bergsturz war es wegen der Klimaerwärmung gekommen: Schmelzwasser im Inneren des Massivs drückte nach außen und ließ einen Spalt entstehen, der zunächst nur ein paar Zentimeter breit war. Hüttenwirt Burgener schlug nach zwei kleineren Felsstürzen Alarm.

Am Tag des Bergsturzes war die Spalte 250 Meter lang und auf fünf Meter Breite angewachsen. Inzwischen aber ist sie 24 Meter weit und verläuft fast senkrecht durch die beiden Wandteile, die beim Felscrash stehenblieben. Und nun geschieht, was Keusen "einmalig" nennt: Die Wände gleiten unter ihrem eigenen Gewicht seitlich in den Unteren Grindelwaldgletscher hinein und verschwinden in dem Eisfeld - und das mit einem Rauminhalt, der jenem von 2000 Einfamilienhäusern gleichkommt.

In zwei oder drei Jahren, so lautet die Prognose Keusens, werde der Gletscher diese Masse "mehr oder weniger" verschlungen haben.

"Der Gletscher verhält sich wie Honig"

"Ein solches Phänomen hat es in den Alpen und weltweit noch nicht gegeben", meint der Geologe, der den Gletscherkessel am Eiger inzwischen so gut kennt wie den Inhalt seiner Hosentasche. Alles hat sich dramatisch verändert, und am Fuß der Abbruchwände ist sogar ein kleiner, türkisfarbiger See entstanden.

Laut Keusen beweist das Türkisgewässer, dass die absinkenden Felsen den Gletscher zusammendrücken und in ihm Hohlräume und Spalten, so dass sich am Ende Wasser staut. Womöglich werde der Untere Grindelwaldgletscher, der hier einen gut 200 Meter tiefen Trichter bildet, auch noch zur Seite gequetscht und steige am gegenüberliegenden Hang in Richtung der Bäregghütte an.

"Der Gletscher verhält sich wie Honig", beschreibt Keusen das wilde Geschehen. "Es kommt zu einer plastischen Verformung, wie wenn man mit dem Daumen in Fensterkitt hineindrückt."

Die Verformung des Gletschers bringt aber auch konkrete Gefahren mit sich. "Wir wissen nicht, auf welchem Niveau der Fels ins Eis hineingleitet", sagt etwa der Gletscherforscher Martin Funk, Lehrstuhlinhaber an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Die neue Situation am Unteren Grindelwaldgletscher sei "sehr speziell und ungünstig".

Im Sommer vorigen Jahres ist oberhalb der Abbruchstelle ein weiterer See entstanden, der nun 25 Meter tief ist und 200.000 Kubikmeter Wasser fasst. "Der See schmelzt Eis ab und und vergrößert sich selbst", hat Funk beobachtet, nachdem er das Gelände mit Radar vermessen hat.

Gefährlich ist, dass dieser See von einer bestimmten Wasserhöhe an den Gletscher anhebt wie Eiswürfel in einem Whiskyglas. Mehrmals ist das schon geschehen: Das Wasser rauschte unter der Eisdecke entlang durchs nachfolgende Gletschertal mit seinem Holzsteg und den Treppen für Touristen und brauste in den Talort Grindelwald hinab.

Erstmals Frühwarnsystem am Eiger installiert

Das schmucke Chalet-Dorf muss sich aber auf noch höhere Fluten einstellen. Denn der Bergsturz hat die Stirn des Gletschers meterhoch mit Schutt und Felsstücken bedeckt und so eine Barriere gebildet, hinter der sich im nächsten Sommer Wasser stauen wird. Das Schmelzwasser könnte die Barriere durchbrechen und mit dem Gebirgsfluß der Lütschine nach Grindelwald und sogar weiter bis Interlaken und dem Brienzersee im Berner Oberland hinabrauschen.

Flutwellen gab es schon, als im Hitzesommer 2003 die Gletscherzunge des benachbarten Oberen Grindelwaldgletschers einstürzte. Vom Fuß des 4078 Meter hohen Schreckhorns strömten sie nach Grindelwald, entwurzelten Bäume und erzwangen die Evakuierung des Campingplatzes in dem Gletscherdorf.

Das Geschehen am Eiger hat eine Sonderwelt geschaffen, in der so schnell kein Heimatgefühl aufkommt. Dafür sorgen auch die Eislawinen vom Challifirn, die über die abrutschenden Felswände und deren Schlucht nun ohne Umwege ins enge Tal donnern. Dort bilden die Eistrümmer eine weitere Barriere, an der sich prompt das Wildwasser des Gletscherbachs anstaut.

Vor kurzem ist dort das Wasser durch die Eisbarriere ausgebrochen und zur Lütschine gerast, "die es gerade noch aufnehmen konnte", wie Geologe Keusen die Gefahrensituation eher vorsichtig umschreibt.

Er ist nun dabei, im Auftrag des Kantons und der Gemeinde Grindelwald ein Frühwarnsystem am Eiger einzurichten. Im großen der beiden Gletscherseen soll eine Drucksonde anzeigen, ob sich der See wieder entleert. Und unterhalb der Bäregghütte wird demnächst eine spezielle Webcam-Kamera aufgestellt, die den Gletscher und die runzligen Felswände darüber inspiziert.

Viel Zeit bliebe bei einem Ausbruch des Gletschersees indessen nicht. Die Gemeinde Grindelwald und deren Rettungschef Kurt Amacher hätten nur 15 Minuten, um vor einer Eiger-Flut zu warnen.

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