Physik-Nobelpreis 2015 Jäger der Geisterteilchen

Physik-Nobelpreis 2015: Jäger der Geisterteilchen
Foto: FILES/ AFPSie sind überall, aber wir merken nichts von ihnen. 60 Milliarden Neutrinos prasseln pro Sekunde auf jeden Quadratzentimeter von uns ein. Sie rasen unbemerkt durch unseren Körper. Eine weitere, wenn auch viel kleinere Neutrino-Quelle steht in jeder Küche. Beim radioaktiven Zerfall in Speisesalz werden Neutrinos freigesetzt. Und selbst der Mensch strahlt etwa 5000 der rätselhaften Geisterteilchen pro Sekunde ab, weil im Körper Bleiatome zerfallen.
Der Österreicher Wolfgang Pauli hatte die Existenz eines sehr leichten und ladungsfreien Teilchens 1930 vorhergesagt - doch so richtig glücklich war er damit nicht: "Ich habe etwas Schreckliches getan: Ich habe ein Teilchen postuliert, dass man nicht nachweisen kann."
Der Nachweis gelang dann doch, und zwar 1956 - zwei Jahre vor Paulis Tod. Doch erst Experimente in Japan und Kanada Ende der Neunzigerjahre haben gezeigt, dass Neutrinos tatsächlich eine Masse besitzen. Für diesen Nachweis haben nun der Japaner Takaaki Kajita, 56, und der Kanadier Arthur B. McDonald, 72, den Physik-Nobelpreis bekommen.
"Wir sind natürlich sehr zufrieden, dass wir dem Wissen der Welt in der Physik etwas auf einem sehr grundlegenden Level hinzufügen konnten", sagte McDonald. Was er mit dem Preisgeld mache, wisse er noch nicht.
"Für mich war das nur eine Frage der Zeit", sagte Manfred Lindner vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg zur Entscheidung der Juroren. Von den beiden Preisträgern hält er nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht viel: Beide seien sehr umgängliche Menschen ohne Starallüren.
Lichtblitze in alter Zinkmine
Die Erkenntnisse der beiden Nobelpreisträger waren und sind fundamental. "50 Jahre dachte man, Neutrinos sind masselos", sagt Arnulf Quadt, Vorstand der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Quadt war als junger Postdok dabei, als Takaaki Kajita auf einer Konferenz in Vancouver über seine spektakulären Beobachtungen berichtete.
Mit dem Super-Kamiokande-Detektor, einem 50.000 Tonnen Wasser fassenden Zylinder tausend Meter unter der Erde, hatten Kajita und seine Kollegen nach Neutrinos gefahndet. Die Anlage befindet sich in einer alten Zinkmine 250 Kilometer nordwestlich von Tokio. Sie kann Myon-Neutrinos detektieren, das ist einer von drei heute bekannten Neutrino-Typen. Es gibt außerdem noch Elektron- und Tau-Neutrinos.

Nobelpreis für Physik: Forschen unter Tage
Wenn sie mit beinahe Lichtgeschwindigkeit durch den Tank rasen, kollidieren die Teilchen sehr selten mit Wassermolekülen. Dann entsteht Strahlung, die von Sensoren im Tank penibel registriert wird. In den ersten zwei Jahren des Betriebs von Super-Kamiokande geschah dies nur rund 5000 Mal.
Myon-Neutrinos entstehen in der Atmosphäre. Sie rasen deshalb aus zwei Richtungen auf den Detektor zu: Einmal von oben durch die Luft und 1000 Meter Gestein - und dann noch von der gegenüberliegenden Seite quer durch die über 12.000 Kilometer dicke Erde. Die Messdaten verblüfften die Physiker: Direkt von oben kamen mehr Neutrinos zum Detektor als quer durch die Erde.
Identität der Neutrinos ändert sich
Die Myon-Neutrinos müssten auf der längeren Reise ihre Identität gewechselt haben, folgerte Kajita. Also zu Tau- oder Elektron-Neutrinos oszilliert sein. Und das ist laut den Gesetzen der Quantenmechanik und Teilchenphysik nur möglich, wenn die Neutrino-Arten unterschiedliche Massen besitzen.
Arthur B. McDonald jagte am Sudbury Neutrino Observatory in Kanada ebenfalls Neutrinos. Doch der 1000-Tonnen-Tank in der alten Nickelmine im Bundesstaat Ontario war mit sogenanntem schwerem Wasser gefüllt, also mit Wassermolekülen, bei denen der Kern des Wasserstoffatoms besonders schwer ist. Damit konnten die kanadischen Physiker von der Sonne produzierte Neutrinos nachweisen, sogenannte Elektron-Neutrinos. Zudem erlaubt der Detektor die Messung aller drei Neutrino-Typen gemeinsam.
Mit dem Neutrino-Observatorium konnten McDonald und seine Kollegen zeigen, dass zwei Drittel der in der Sonne erzeugten Elektron-Neutrinos die Erde als Myon- beziehungsweise Tau-Neutrinos erreichen. Ein weiterer Beweis dafür, dass Neutrinos ihre Art ändern können, wie es Physiker formulieren. Und diese sogenannte Oszillation ist nur möglich, wenn zwei der drei Neutrinos eine Masse größer als Null haben.
"Wir glauben, dass alle drei Neutrinos eine Masse haben", sagt Thomas Lohse von der Humboldt-Universität Berlin. Aber bewiesen ist das bislang nicht. Die Physiker wissen nicht einmal, wie schwer die Neutrinos genau sind. Nur so viel: Sie sind um Größenordnungen leichter als alle anderen bekannten Teilchen. Auch woher ihre Masse kommt, bleibt mysteriös. "Wir vermuten, dass es nicht der Higgs-Mechanismus ist", meint Lohse. Ein anderer Mechanismus müsse erst noch gefunden werden - vielleicht eines der Rätsel, das zum nächsten Nobelpreis führt.
Für Neutrino-Detektoren interessieren sich längst nicht mehr nur Teilchenphysiker. Vor zwei Jahren seien erstmals extragalaktische Neutrinos nachgewiesen worden, berichtet Matthias Steinmetz, Astrophysiker an der Universität Potsdam. Dies biete ganz neue Möglichkeiten, in den Kosmos zu schauen.