
Müll im Meer: Gefährliche Hinterlassenschaften
Meeresforschung Plastikmüll hat die Arktis erreicht
Es ist eine nur schwer vorstellbare Zahl. Rund 300 Millionen Tonnen Plastik produziert die Menschheit pro Jahr. Oder anders ausgedrückt: 300.000.000.000 Kilogramm. Bei einer Wachstumsrate von rund vier Prozent wird dieser Berg ständig größer. Und das Zeug ist verdammt langlebig.
Schätzungen zufolge landen jedes Jahr mindestens 2,7 Millionen Tonnen Kunststoff im Meer - manche Zahlen liegen auch deutlich darüber. Ein guter Teil des Plastikmülls sinkt zum Meeresgrund ab. Doch vermutlich hunderttausende Tonnen - um die genauen Zahlen wird gestritten - treiben im Ozean, wo sie langsam in kleinere Teile zerfallen. Bisher sind weltweit fünf großflächige Müllstrudel auf den Weltmeeren bekannt. (Eine eindrucksvolle Simulation, wie der Abfall dorthin gelangt, sehen Sie hier.)
Nach Modellrechnungen gehen Forscher allerdings davon aus, dass sich ein weiterer Strudel bilden wird. Oder schon gebildet hat. Gespeist wird er aus dem Müll, der an den nordeuropäischen Küsten ins Meer gelangt. Diese sechste, von Meeresströmungen verursachte Abfallsammelstelle dürfte den Simulationen zufolge in der Barentssee liegen, also in der Arktis. Eine aktuelle Veröffentlichung deutscher und belgischer Forscher belegt nun erstmals, dass tatsächlich größere Stücken Plastikmüll im Oberflächenwasser des Arktischen Ozeans schwimmen.
Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven und ihre Kollegen berichten im Fachmagazin "Polar Biology" von Messungen, die sie bereits vor drei Jahren in der Framstraße gemacht haben. Diese liegt zwischen Grönland und Spitzbergen, an der Verbindung von Nordatlantik und Arktischem Ozean. Eigentlich ging es bei der Expedition des Eisbrechers "Polarstern" um Daten für Meeressäuger- und Seevogelstudien. Quasi nebenbei hielten die Forscher zusätzlich nach Müll an der Wasseroberfläche Ausschau, auch bei Flügen des auf dem Schiff stationierten Hubschraubers. Insgesamt 31 Mal wurden die Wissenschaftler fündig, der Großteil der Funde gelang vom Hubschrauber aus.
"Für die sieht das aus wie Nahrung"
31 Fundstücke auf 5600 Kilometern Beobachtungsstrecke, das klingt zunächst nicht viel. Doch im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE schränkt Forscherin Bergmann ein: "Die kleineren Teile haben wir nicht sehen können." Von der Brücke des Schiffes beziehungsweise bei den Helikopterflügen hätten sich nur größere Stücke Treibgut erspähen lassen. Tatsächlich habe die Müllbelastung sicher deutlich höher gelegen - zumal Plastik nach und nach in immer kleinere Fragmente zerfalle. Unter anderem für Seevögel sei der Plastikmüll gefährlich: "Für die sieht das aus wie Nahrung."
Besonders problematisch ist der Müll für Arten wie den Eissturmvogel, der komplett auf hoher See lebt. Aktuelle Untersuchungen aus dem Isfjord auf Spitzbergen zeigen, dass 88 Prozent der dort untersuchten Eissturmvögel Plastikteile verschluckt hatten. Auch in den Mägen von Grönlandhaien wurde schon Plastikmüll nachgewiesen.
Dazu kommt ein weiteres Problem: Große Mengen Müll sinken zum arktischen Meeresboden ab. Dort hatte ihn Bergmann zusammen mit Kollegen bereits nachweisen können - und einen Trend ausgemacht: Der menschgemachte Schrott in der Tiefsee nimmt zu. Seine Dichte dort liegt außerdem zehn- bis einhundertmal höher als an der Oberfläche.
In Zahlen ausgedrückt heißt das: In der Tiefsee fanden die Forscher durchschnittlich 2,2 bis 18,4 Müllteile pro Kilometer Fahrtstrecke ihres Schiffes. An der Oberfläche lag die Zahl zwischen 0 und 0,216. Diese Werte liegen über denen in der Antarktis gemessenen, aber weit unter denen besonders belasteter Meeresregionen wie der Straße von Malakka in Südostasien. Dort wurden knapp 16 Objekte pro Kilometer Fahrtstrecke gezählt.
Sorgen wegen der Fleecejacke
Die Arktis ist also noch vergleichsweise sauber, aber längst nicht mehr unberührt. Ob der Müll, den die Forscher dort nachweisen konnten, tatsächlich aus einem neuen, sechsten Strudel stammt, wissen sie bisher noch nicht. Möglich sei das Ganze, sagen sie. Es gibt aber auch eine andere Theorie: Fischtrawler, die vom Zurückweichen des Arktiseises verstärkt in die Region gelockt werden, könnten für den Müll verantwortlich sein.
Auch wenn sich die Plastikabfälle nach und nach zersetzen, drohen Gefahren. Mikroplastik kann Giftstoffe freisetzen, die sich in Meereslebewesen anreichern - und nach und nach die Nahrungskette hinaufwandern. In einem aktuellen Fachartikel in "Nature Scientific Reports" berichten Forscher um Amy Lusher vom Galway-Mayo Institute of Technology im irischen Galway erstmals von Mikroplastikmessungen in der hohen Arktis. Sie hatten südlich und südwestlich von Spitzbergen an der Wasseroberfläche und in sechs Metern Tiefe gemessen - und Mikroplastik in mehr als 90 Prozent ihrer Proben nachweisen können.
An der Oberfläche zählten die Forscher im Schnitt 0,34 Plastikteilchen pro Kubikmeter Wasser, vergleichbar mit den Werten für Nordatlantik und Pazifik. In sechs Metern Tiefe fanden sich durchschnittlich 2,68 Mikroplastikteile pro Kubikmeter. Auch diese Werte sind vergleichbar mit dem Nordatlantik. Interessant war, dass die Wissenschaftler einen hohen Anteil an Kunststofffasern nachweisen konnten. Bei diesen gebe es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass marine Kleinstlebewesen mit ihnen in Kontakt kämen.
Auch wenn sie sich sonst eher mit größeren Müllteilen befasst, machte sich AWI-Forscherin Bergmann auf ihrer Expedition auch über die Mikroplastik-Belastung Gedanken. Und zwar als es darum ging, ihre Fleecejacke zu waschen - oder eben nicht. Bergmann entschied sich dagegen. Zwar hat die "Polarstern" aus ihrer Sicht eine gute Kläranlage. Doch gelten gerade Fleecejacken als massive Quelle von Mikroplastik - weil sie beim Spülen viele ihrer Kunststofffasern verlieren.
Zusammengefasst : Auch in der bisher vergleichsweise wenig belasteten Arktis fanden Forscher vom Alfred-Wegener-Institut inzwischen Plastikmüll im Meer. In der Tiefsee entdeckten die Forscher durchschnittlich 2,2 bis 18,4 Müllteile pro Kilometer Fahrtstrecke ihres Schiffes. Es könnte sich zu den fünf bisher bekannten ein weiterer Müllstrudel bilden, befürchten die Wissenschaftler. Besonders für Seevögel, die den Müll für Nahrung halten, ist er gefährlich.
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