
Erdbeben in Neuseeland: Monsterwelle unterm Büro
Reflektierte Erschütterungen Echo-Effekt verdoppelte Beben von Neuseeland
Die schweren Verwüstungen nach dem Erdbeben von Neuseeland geben Wissenschaftlern Rätsel auf. Vor einer Woche war der Boden nahe der Großstadt Christchurch auf 17 Kilometer Länge und bis in zwölf Kilometer Tiefe aufgerissen; die Erdstöße hatten Hunderte Gebäude einstürzen lassen. Mindestens 154 Menschen kamen in den Trümmern zu Tode, viele werden noch vermisst.
Die Zerstörungen sind erstaunlich groß angesichts der Stärke des Bebens von 6,3. Für Versicherungen handelt es sich um eines der teuersten Erdbeben aller Zeiten. Im vergangenen September hingegen hatte ein deutlich stärkeres Beben der Stärke 7,1 in der Nähe keine Toten zur Folge - obwohl es die 25-fache Energie hatte. Allein mit der Nähe des jetzigen Bebenherds zu Christchurch lassen sich die Verheerungen wohl nicht erklären.
Geoforscher des Neuseeländischen Erdbebendienstes GNS hegen nun einen Verdacht: Christchurch habe die doppelte Dosis Erschütterungen erhalten. Nicht nur direkt aus der gebrochenen Gesteinsnaht seien Bebenwellen in die Stadt gelaufen. Zudem seien Wellen von einem Felsmassiv südöstlich der Stadt reflektiert worden - wie Licht von einem Spiegel: Die Bebenwellen seien gegen den Fels geprallt und von dort zurück Richtung Christchurch gerollt, meinen der Seismologe Kelvin Berryman vom GNS und seine Kollegen.
Am Vulkan abgeprallt
Christchurch ist buchstäblich auf Sand gebaut; vergleichsweise lockere Sedimente wie Lehm und Sand bilden sein Fundament. Südöstlich der Stadt jedoch steht die Banks-Halbinsel, ein gewaltiger Fels. Es handelt sich um die Überreste eines Vulkans, der vor Jahrmillionen erloschen ist. Seine Ränder ragen als riesige Wand in die Tiefe. Die Reflexion der Erschütterungswellen an dem Gestein könnte die verheerende Wirkung des Bebens erklären, meinen die GNS-Forscher.
Dass das Beben dort regelrecht abprallte, scheinen auch Daten von der Banks-Halbinsel zu belegen: Dort wurden keine starken Schwingungen festgestellt, das Beben blieb zahm.
In Christchurch hingegen wurden extreme Kräfte gemessen: Nach neuesten Daten zerrte das Beben dort mit mehr als zweifacher Erdbeschleunigung (2g) an den Gebäuden - eine solche Kraft haben nicht mal Rennautos: 2g entspricht einer Beschleunigung von Null auf Hundert in weniger als 1,5 Sekunden. Solche Kräfte werden sonst bei Extrembeben der Stärke 8 gemessen. Bei dem deutlich stärkeren Beben nahe Christchurch im vergangenen September wurden lediglich halb so heftige Beschleunigungen festgestellt.
Monsterwelle unterm Büro
Ob ein Gebäude stehen blieb, hing diesmal von kleinsten lokalen Unterschieden ab; zwei baugleiche Häuser wurden mitunter vollkommen anders getroffen - je nach dem Ausschlag der Erdbebenwellen, ihrer Frequenz und ihrer Richtung. Bei den extremen Beschleunigungen kamen selbst erdbebensicher gebaute Häuser an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.
Gebäude, die eigentlich als erdbebensicher galten, hielten den Kräften nicht stand. Das "Pyne Gold Building" etwa, ein Bürokomplex in der Innenstadt von Christchurch, sei womöglich von einer regelrechten Monster-Erdbebenwelle getroffen worden, spekulieren die GNS-Seismologen.
Überlagerung der Erdbebenwellen könnten die Bodenschwingungen vergrößert haben, ähnlich wie sich Meereswellen auf einmal zu Kaventsmännern türmen können: Als die am Fels reflektierten Wellen auf andere Bebenwellen getroffen seien, hätten sie sich womöglich vereinigt und dabei vergrößert, meinen die Forscher. Solch ein Verstärkungseffekt wurde früher bereits bei Erdbeben in Kalifornien vermutet.
Unglaubliches Pech
Richtung Christchurch wurden die Bebenwellen anscheinend fokussiert: Die Zerstörungen konzentrierten auf einen vergleichsweise kleinen Bereich, berichtet Kevin Fenaughty vom GNS. Dort seien die Schäden gleichwohl größer als bei einem Beben der Stärke 6,3 zu erwarten wäre.
Das Pech der Bewohner von Christchurch ist den Daten der Wissenschaftler zufolge kaum noch zu übertreffen: Nicht nur, dass die Bebenwellen offenbar reflektiert wurden - auch andere Phänomene machten die Erdstöße so verheerend:
- Unglückliche Lage: Größere Erschütterungen gab es nur in der Gegend nahe des Bebenherds - exakt dort, wo Christchurch liegt.
- Verflüssigung des Bodens: Die Erschütterungen haben den schlammigen Untergrund von Christchurch gesiebt - der Sand sank nach unten, Wasser sammelte sich oben; vielerorts bildeten sich Seen. Gebäuden wurde ihr Fundament entzogen, sie stürzten ein.
- Unterschätzte Gefahr: Christchurch galt bis vergangenen September als nahezu erdbebenfrei. Zwar wurde aufgrund der Nähe zur Erdplattengrenze im Westen und im Norden ein Risiko kalkuliert. Ein derartiger Schlag wie vergangene Woche indes galt als nahezu ausgeschlossen, entsprechend tolerant waren die Baunormen. An der Erdoberfläche hatten Geologen in der Gegend keine Brüche früherer Beben gefunden. Doch nun zeigt sich: Entlang einer im Untergrund verborgenen Gesteinsnaht hatte sich über Jahrhunderte Spannung angestaut - eine Folge der Erdplattenverschiebungen im Westen und Norden Neuseelands. Das Beben vom vergangenen September fügte weitere Energie hinzu, so dass das Gestein nicht mehr standhielt, es bebte.
- Art des Bebens: Die Analyse der Erschütterungswellen zeigt, dass sich Schollen der Erdkruste ruckartig übereinandergeschoben haben - bei dieser Bewegung entstehen an der Oberfläche heftigere Schwingungen als bei anderen Verschiebungen, etwa wenn Platten nebeneinander schrammen.
- Zeitpunkt: Das Beben ereignete sich zur Mittagszeit, als besonders viele Menschen in den Geschäften und Büros in der Gegend waren. Viele wurden zur Hauptgeschäftszeit von herabfallenden Trümmern getroffen.