
Von Europa nach Südafrika: Großkatzen bekommen neues Zuhause
Refugium für Löwen Zuflucht im Land der Väter
Südafrika - Freiheit braucht Mut: Aus den Transportkisten wagt sich zuerst ein Löwenjunges hervor, tapst suchend umher, ruft mit einem rauen "Auaa" nach der Mutter. Die rennt aus ihrer Box, streicht hin und zurück, während das zweite Junge sich noch nicht ins Freie traut. Noch einmal geht das Fallgitter scheppernd hoch: Ein mächtiges gelbbraunes Hinterteil schiebt sich voran, mit einem Satz springt der Patriarch aus dem Gehäuse, brüllt die verwirrte Löwin an.
Zum ersten Mal Gras unter den Pfoten, zum ersten Mal afrikanische Sonne auf dem Fell: "Die Familie braucht Zeit, sich einzugewöhnen," sagt Hildegard Pirker, verantwortliche Tierpflegerin in Lionsrock, dem Raubkatzenrefugium 300 Kilometer südlich von Johannesburg.
Mehr als 80 Löwen haben hier, am Fuß einer Gebirgskette in der südafrikanischen Provinz Vrystaat, eine Zuflucht gefunden - nach einem elenden Dasein in Gefangenschaft. Die vier Neuankömmlinge stammen aus einem rumänischen Zoo, der den großen Katzen nur 40 statt der nach EU-Richtlinie vorgeschriebenen 500 Quadratmeter Lebensraum bot. Auf Beton scheuerten sie sich die Läufe wund, Mangelernährung hat die Beine der Kleinen deformiert.
In ganz Europa hat die internationale Tierschutzorganisation "Vier Pfoten" Löwen aufgespürt, die in heruntergekommenen Zoos, Zirkuswagen und Hinterhöfen dahinvegetierten. "Selbst in Österreich, wo das Auftreten von Wildtieren im Zirkus bereits verboten ist, und in Deutschland findet man noch Großkatzen in Privatbunkern", sagt Pirker.
Auf rund 1250 Hektar Grasland, in fünf großzügigen, miteinander verbundenen Gehegen mit Gebüsch, Anhöhen und Senken, können die befreiten Löwen in Lionsrock ein artgerechtes Leben führen. "In diesen Ausmaßen gibt es so ein Refugium sonst nirgendwo", erklärt Pirker. Zum Vergleich: Hagenbecks Tierpark in Hamburg misst 25 Hektar, der Zoo in Pretoria - Südafrikas größter, mit dem die Leute von Lionsrock gern zusammenarbeiten - rund 85 Hektar. "Das ist nicht nur eine unglaubliche Großkatzenanlage", bestätigt Harald Schwammer, stellvertretender Direktor des Wiener Tiergartens Schönbrunn, "sondern auch ein professionell und nachhaltig geführtes Projekt."
"Auswildern geht nicht"
Für ihre ursprüngliche Heimat in der Savanne jedoch sind die Tiere verloren: Sie werden zwar nach längerem Monitoring in bestehende Rudel eingegliedert, sofern möglich. Doch: "Auswildern geht nicht", sagt Pirker, die auf Großkatzen spezialisiert ist: In Gefangenschaft aufgewachsen, haben die Löwen beispielsweise nie das Jagen gelernt, eine komplizierte soziale Aufgabe.
So ist zweimal in der Woche Fütterung. Dafür stiften Rinderfarmer aus der Umgebung das Fleisch verendeter Tiere, der Schlachthof gibt günstig ab, was für den menschlichen Konsum nicht geeignet ist. In einer Halle zerlegen Ranger Richard Mthambu und seine Kollegen die gelieferten Rinder in große Teile. "Am wichtigsten ist es, die Löwen auch hier als Wildtiere zu respektieren", sagt der 29-Jährige. Wie seine Schützlinge drauf sind, gestresst, ärgerlich oder zufrieden, liest er aus ihren Gesichtern und ihrer Körpersprache.
"Heute sind hier alle gut gelaunt", sagt Mthambu am Gehege, wo das größte Rudel sich nun übers Futter hermacht: Zehn Weibchen und zwei prächtige Kater, deren Mähnen die Körper zur Hälfte bedecken, zermalmen die knackenden Knochen wie Kekse. Genussvoll, so scheint es, lecken sie mit ihren rauen Zungen übers Fleisch.
"Nicht alle können miteinander", sagt Pirker, "manche müssen erst mal für sich bleiben." Auch die "Vergesellschaftung" der nach Lionsrock gebrachten Löwen müsse sorgfältig geplant werden. Über Wochen und Monate beobachtet die Expertin ihre Neuzugänge. Studentische Volontäre protokollieren, wie die Tiere sich verhalten.
Die Vasektomie ist Standardeingriff bei den männlichen Löwen
"Mit aller Konsequenz", so Helmut Dungler, österreichischer Gründer von "Vier Pfoten", "tragen wir die Verantwortung für unsere großen Katzen." Dazu gehört auch die medizinische Versorgung. Beim ersten Check, vor dem Transport nach Lionsrock, stellen die Veterinäre oftmals fest, dass die Zirkus- oder Zoolöwen "entkrallt" worden sind. Weil den mit der Hand aufgezogenen Jungtieren die Nährstoffe der Muttermilch fehlen, zeigen sie zudem vielerlei Mangelsymptome.
Standardeingriff bei den männlichen Löwen ist die Vasektomie, sie werden also unfruchtbar gemacht. Im Gegensatz zur Kastration beeinträchtigt der Eingriff den Hormonhaushalt nicht, den Tieren bleiben ihr Trieb und das Wachstum der Mähne erhalten.
Zum internationalen Expertenteam, das einmal jährlich nach Lionsrock reist, gehört auch Marc Loose. Der Hamburger Zahnarzt, der sich zum Wildtierzahnarzt fortgebildet hat, arbeitet ehrenamtlich im Rachen der narkotisierten Raubkatzen. Die Löwen "können Amok laufen", wenn sie Zahnschmerzen haben, berichtet der Arzt. Manchmal ist ein Abszess schuld, der beseitigt werden muss. Öfter kommt es vor, dass die Löwenzähne durchs Kauen auf tiefgefrorener Zoonahrung, aber auch durch ständiges Nagen an Gitterstäben beschädigt sind.
Den "gebeutelten Kreaturen" zu helfen und zu sehen, wie gut es ihnen anschließend geht, macht dem 46-Jährigen "total Spaß". Auch der neuen Familie ist anzusehen, dass sie sich nun, nach ein paar Wochen Eingewöhnung, wohlfühlt: Die Alten räkeln sich auf dem Rücken, die Jungen toben und spielen. "Ganz offensichtlich", sagt Pflegerin Pirker, "sind sie im Land ihrer Väter angekommen."