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Riesenkalmar Auf der Jagd nach dem Tiefseemonster

Riesenkalmare gehören zu den Mysterien der Meere. Forscher in aller Welt versuchen, einen ausgewachsenen Giganten vor die Kamera zu bekommen. Ein deutsches Ehepaar macht mit bei der Jagd in der Tiefsee - in einem selbst entwickelten U-Boot.
Von Dennis Betzholz

Mittags, drei Seemeilen vor der Azoreninsel Pico. Joachim Jakobsen schließt die Einstiegsluke. Das Meeresrauschen verstummt, die Reise in seine Welt, in die Tiefe, beginnt mit einem Schwarm an weißen Blubberbläschen. Dann versinkt die "Lula 1000" im Atlantik.

Das U-Boot fällt nicht, es schwebt hinab, 100 Meter in fünf Minuten. Nach sechs Minuten ist das Wasser tiefblau. Auf jedem Quadratmeter des U-Boots lastet das Wasser mit einem Gewicht von 140 Tonnen; das entspricht etwa dem Gewicht von 130 Kleinwagen auf der Fläche eines Tischkickers. Spürbar ist das drinnen nicht. "Wenn wir Druck auf den Ohren spüren würden, wären wir bald tot", sagt Jakobsen, er sieht nicht besorgt aus dabei.

Bald tot. Der letzte Tag wäre ein sonniger gewesen, mit einer leichten Brise und ruhigem Seegang im ozeanischen Nichts, 1369 Kilometer vom portugiesischen Festland entfernt. Die Wellen peitschen an diesem Mittag nicht wie so oft gegen das dunkle Lavagestein an der Küste, die Gischt ist nur ein feiner Sprühnebel.

An diesem Tag soll sie endlich enden, die Suche nach Architeuthis dux, dem Riesenkalmar, einem der großen Mysterien des Ozeans. Hier draußen, wo die Pottwale leben. Pottwale fressen Kalmare, 500 Kilo täglich. Vor Gericht wäre dies allenfalls ein Indiz, kein Beweis. Doch Kirsten Jakobsen, Joachims Frau, die im U-Boot neben ihm sitzt, sagt: "Da müssen auch Riesenkalmare dazwischen sein."

Bald tot. Oder ein Star. Die Nachricht würde um die Welt gehen, ihre Bilder, ihre Namen. Es gibt viele, die den ausgewachsenen Riesenkalmar in seiner natürlichen Umgebung vor die Kamera kriegen wollen, um ihre Filmsequenzen dann weltweit an Fernsehanstalten zu verkaufen.

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Tsunemi Kubodera vom nationalen Wissenschaftsmuseum in Tokio ist der Star der Szene. Im Juli 2012 filmte er einen Architeuthis dux vor der Chichi-Insel tausend Kilometer südlich von Tokio. Joachim Jakobsen kann den kurzen Film nacherzählen wie andere die beste Szene aus ihrem Lieblingsfilm.

Kubodera entdeckte das Tier in 640 Meter Tiefe, folgte ihm bis auf 900 Meter. Vielleicht war der Kopffüßer mal acht Meter lang. Jetzt, ohne Fangtentakel, maß er gerade einmal drei Meter. Es war eine Sensation, aber kein Monster.

Die Suche nach dem ausgewachsenen Riesen geht weiter - auch wenn unklar ist, wie riesig Architeuthis dux überhaupt werden kann. Oft ist von Gesamtlängen von mehr als 20 Metern die Rede. Doch Experten halten das für wild übertrieben. Ein möglicher Grund sind die beiden Fangtentakel. Sie sind schon im Naturzustand wesentlich länger als die acht Arme der Kalmare, und sie sind äußerst dehnbar. Erst kürzlich kam eine Untersuchung zu dem Schluss, dass es bisher keinen Beweis für Riesenkalmare jenseits von zwölf Metern Gesamtlänge gibt. Was aber keinesfalls heißen muss, dass größere Exemplare nicht doch existieren.

Tsunemi Kubodera war schon vor seiner ersten Filmaufnahme weltweit bekannt. 2004 fotografierten er und Kyoichi Mori einen rund acht Meter langen Architeuthis. 550 digitale Fotos zeigen ihn, lebend, im Kampf mit den Stangen des Käfigs, in den ihn die Forscher mit Futter lockten. Nach vier Stunden befreite er sich und hinterließ bei Kubodera eine Erkenntnis: Riesenkalmare sind nicht träge und schwerfällig, sondern dynamische Raubtiere. Heute schart der Japaner 50 Wissenschaftler und Ingenieure aus elf Ländern um sich und sucht weiter. Die Jakobsens sind zu zweit.

255 Meter, die "Lula" sinkt

Morgens standen Joachim und Kirsten Jakobsen im Bauch ihres Katamarans, der an dicken Seilen befestigt im Hafen lag. Er füllte Tintenfischsuppe in die Futterspritze des U-Bootes. Sie wischte die Plexiglaskuppel streifenfrei. Dann hakten beide die übrigen 70 Punkte auf ihrer Checkliste ab. Joachim Jakobsen, 57, ein sonnengebräunter Mann, setzte einen weißen Bauhelm auf seinen schmalen Kopf. Er trug Turnschuhe, beige Shorts, weißes Polohemd und eine blaue Schwimmweste darüber. Ian, ihr Skipper, und Daniel, ein Mann fürs Grobe, packten mit an. Eigentlich brauchen sie vier oder fünf Helfer, aber das sprenge den Etat, sagt Jakobsen.

Ian drückte einen Knopf: Die Bodenklappen des Katamarans öffneten sich, das U-Boot glitt zu Wasser. Man kennt Szenen wie diese aus James-Bond-Filmen.

Von dem, was die Jakobsens suchen, erzählten sich früher die Seefahrer Gruselgeschichten. Seeleute soll der Riesenkrake in die Finsternis der Meere gezogen und nie wieder losgelassen haben. Große, an Land gespülte Wale sollen mit gewaltigen Saugnapfnarben übersät gewesen sein. Und als Jules Verne in "20.000 Meilen unter dem Meer" das brutale Duell zwischen Kapitän Nemo und dem Koloss beschrieb und ein Stück Weltliteratur erschuf, war die Sache endgültig klar: Dieses Tier ist ein Monster. Und Monster gibt es nicht.

Doch das Ungetüm lebt; mit seinen zehn Armen, einem Gewicht von etwa einer halben Tonne, einem ungeheuer großen Kopf, basketballgroßen Augen und einem Hornschnabel, der dem eines Papageien ähnelt. Diese unverdaulichen Beißwerkzeuge entdeckten Forscher vor den Azoren mehrfach in den Mägen von Pottwalen, den größten Fressfeinden des Kalmars.

Über das Verhalten der Riesenkalmare in freier Wildbahn ist aber nur wenig bekannt: Wie leben sie? Sind sie scheu, angriffslustig? Wie bewegen, wie paaren sie sich? Wie haben sie sich an diesen unwirtlichen Lebensraum angepasst? Und wie alt werden sie überhaupt?

345 Meter, die "Lula" sinkt

Joachim bewegt den kleinen Joystick der Lula, links, rechts, vor, zurück. Kirsten beobachtet mit ihm, navigiert und filmt, falls etwas auftaucht vor ihrer Kuppel. Sie ist keine ausgebildete Filmemacherin, genauso wenig wie er gelernter U-Boot-Pilot ist. Er ist auch kein Biologe oder Physiker, und trotzdem forscht er in der Tiefsee. Er ist kein Ingenieur, kein Maschinenbauer, und doch hat er dieses U-Boot selbst entworfen, es in Deutschland bauen lassen und seitdem ständig weiterentwickelt. "'Lula 1000' ist eine Tiefseekamera, und wir sitzen im Objektiv", sagt Joachim. Eine Kamera, die 7,50 Meter lang und 1,60 Meter breit ist und von fünf Elektromotoren angetrieben wird. Drei Personen passen hinein, zwei von ihnen müssen die Beine anwinkeln.

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Lula ist portugiesisch und heißt Kalmar. Die Zahl dahinter steht für die Meter, die das U-Boot hinabtauchen kann, in die lichtlose Welt der Tiefsee, die ab etwa 600 Meter unter dem Meeresspiegel beginnt und über die weniger bekannt ist als über den Mond.

Die Jakobsens wollen das ändern. Weil sie wissen, dass es da unten Wichtigeres zu entdecken gibt als eine Filmsequenz des Riesenkalmars. Aber wenn sie von diesen anderen Dingen erzählen, hört ihnen keiner zu. Das Wasser ist jetzt dunkelblau und auf 13 Grad abgekühlt. Die Wassermassen lasten mit 345 Tonnen auf jedem Quadratmeter; das ist etwa so viel wie zwei leere Boeing 747. Nur ein einziges Leck, und die Lula würde implodieren.

Angst, da muss doch Angst sein. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, in einer menschenfeindlichen Umgebung, muss einen lähmen, es muss einen verfolgen, bis in den Schlaf. "Der Mensch", sagt Joachim hingegen, "hat sich daran gewöhnt, mit 120 km/h über eine regennasse Fahrbahn zu rasen. Ist das etwa ungefährlich?"

Die Jakobsens sagen, da unten zu sein, ist so sehr, wie bei sich selbst zu sein. Keiner ruft an, keiner klopft. Diese Kapsel ist ihre Welt, mit ihren Regeln und ihrer Musik. Kirsten spielt ihre U-Boot-Hymne ab, ein Ritual. Es ist der Hit der belgischen Rockband Triggerfinger. Den Jakobsens geht es um den Refrain: "I, I follow / I follow you / Deep sea, baby."

554 Meter, die "Lula" sinkt

Ein Degenfisch steht senkrecht im Wasser, zappelt und posiert eine halbe Minute vor der Plexiglaskuppel. Eine Staatsqualle leuchtet blau-grün. Ein roter Drachenfisch, dessen Maul an einen Piranha gemahnt, hat die Forscher entdeckt. Und dann der erste Kalmar des Tages. Er misst nur wenige Zentimeter.

"Die kleinen Kalmare", sagt Joachim, "faszinieren mich genauso sehr wie die großen." Er sagt es so, als müsse er sich dafür entschuldigen. Als würde er seinen Fahrgast mit einer Wahrheit jenseits der Superlative langweilen, in der es nicht um tiefer und größer geht. Er kennt es nur so. Noch nie sei einer von weither nach Pico gekommen, weil er und Kirsten wie vor ein paar Jahren eine Auster entdeckt hatten, 500 Jahre alt und an einer Felswand klebend. Oder weil sie das erste Korallenriff vor den Azoren gefunden haben. Sie haben schon so viele Geheimnisse gelüftet. Geheimnisse, von denen die Menschen nicht einmal wussten, dass es sie gibt.

Doch die Öffentlichkeit hört erst jetzt zu, jetzt, wo sie doch noch gar nichts geleistet haben. Wo sie suchen, aber nicht finden.

Jetzt ist der dritte Platz in ihrer "Lula" häufiger besetzt als früher. Ein deutsches Großunternehmen kümmert sich um die Vermarktung, sponsert. Über die Höhe der Summe sprechen beide Seiten nicht. Der Kalmar ist der Köder. Er bringt Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit bringt Reputation, und Reputation bringt Geld. So ist das in der Forschung. Geld, mit dem die Jakobsens weiter das tun können, was sie doch so viel mehr lieben: nach unbekannten Tieren am Grund des Atlantiks suchen.

Die Tiefsee ist flächenmäßig mehr als doppelt so groß wie alle Kontinente zusammen. Erforscht aber ist nur ein Areal in der Größe des Berliner Tiergartens. "Wir wissen gar nichts über diesen Teil unseres Planeten", sagt Joachim, "und das ist eine Schande."

793 Meter, die Lula sinkt

Das Wasser wäre jetzt schwarz, würden sie es nicht mit vier 400-Watt-Strahlern erleuchten, es ist unter zehn Grad kalt. Die Sicht reicht rund 50 Meter weit, der Druck beträgt so viel wie 20 vollbeladene Lastwagen auf der Fläche eines Fernsehgeräts.

Zwischen zwei Verkleidungen im Innern der "Lula" liegen Kabel frei. "Ich verlege jedes Kabel selbst, prüfe jede Unterlegscheibe", sagt Joachim. Es kann schnell geschehen, Akribie mit Besessenheit zu verwechseln. Und manchmal ist es gar keine Verwechslung. Vor sieben Jahren haben die Jakobsens als erste Tierfilmer weltweit einen Sechskiemenhai in freier Wildbahn beobachtet. Zwölf Minuten lang folgten sie dem Tier, filmten es, damals noch mit der "Lula 500", dem Vorgängermodell, als es zu einem Zwiegespräch zwischen dem Ehepaar kam: Tochter Ana musste ja noch vom Kindergarten abgeholt werden. Pünktlich sein oder weiter forschen? "Die Szenen, die uns danach noch gelangen, waren großartig", sagt Joachim.

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Einmal, im September vergangenen Jahres, da waren sie dem Riesenkalmar womöglich so nah wie nie mehr wieder. Sie sanken, und plötzlich war da diese Wolke, sieben Meter lang und vier Meter breit, hellbraun und senfartig. "Im ersten Moment dachte ich: Oh Gott, das ist etwas Vulkanisches, wir hauen gleich auf dem Meeresboden auf", sagt Joachim. Doch da war kein Boden, auch kein Vulkan. Noch während er dort unten war, wusste er: "Die Tinte war von einem sehr großen Kopffüßer. Es muss ein gigantisches Tier gewesen sein." Sie sahen es nicht. In der Tiefe des Ozeans entscheiden manchmal Sekunden über den großen Fang.

Irgendwo muss er ja schließlich sein. "Natürlich ist es wie die Suche nach der Nadel im Heuhafen", sagt Joachim Jakobsen. "Entscheidend ist nur, wie viele Nadeln da unten sind." Der Unterschied ist allerdings auch, dass Nadeln nicht flüchten. Ist es nicht naiv zu glauben, der Riesenkalmar würde minutenlang vor der Kamera posieren? Ist es nicht lebensmüde, ein Tier zu suchen, das mit Pottwalen kämpft und schlimmstenfalls die "Lula 1000" mit sich reißt oder wie eine Bierdose zerquetscht?

Jakobsen drückt mehrfach, kraftvoll pumpend, den Hebel der Futterspitze hinunter. Vor der Plexiglaskuppel strömt Tintenfischsuppe aus, der Köder ist ausgeworfen. Ein 70 Zentimeter großer Kalmar nähert sich. Mit seinen Armen umklammert er das Stück eines anderen Kalmars, frisst es. Gut eine Minute lässt er sich auf- und abtreiben vor der Scheibe der Forscher, hypnotisiert von der 1600 Watt starken Lichtshow. Dann entschwindet er.

1010 Meter, der Grund des Atlantiks. Die Lula setzt auf

Wie auf einem Luftkissen landet die Lula. Unter ihr liegt eine Landschaft aus Sedimenten, Felsen und abgestorbenen Korallenriffen, die aus der Eiszeit stammen. Ein roter Froschfisch. Eine krabbelnde Tiefseeassel. Und Korallen, überall Korallen, schwarze, blaue. Und eine schneeweiße mit feinen Verästelungen, die sie zuvor noch nie gesehen haben.

"Das rettet uns den Tag", jubelt Joachim.

"Unsere Meeresbiologin wird ausflippen", sagt Kirsten.

Er fährt die Felswand ab, rangiert, vor und zurück, Zentimeterarbeit. Kirsten filmt aus allen Perspektiven. Ein Zehnfußkrebs verschwindet langen Schrittes aus dem Lichtkegel. Die Finsternis am Grund des Atlantiks ist erhellt, für zwei Stunden. Es sind gestochen scharfe Einblicke in eine Welt, die unter tonnenschweren Wassermassen liegt. Es ist Jakobsens Welt. Dann taucht die Lula wieder auf. Das Wasser wird heller, wärmer. Der Druck nimmt ab. Nach fünf Stunden ist die Expedition in den Keller der Erde vorüber.

Am nächsten Tag wacht Joachim Jakobsen wie so oft um halb 3 Uhr morgens auf. Er setzt sich an den Rechner und schneidet die Aufnahmen des vorherigen Tages zusammen. Dann begegnet er ihnen wieder, dem Minikalmar, dem Degenfisch, dem roten Froschfisch. Nur einem nicht. Es ist ein schmaler Grat zwischen Glück und Pech, zwischen der Entdeckung ihres Lebens und dem Frust der verpassten Sensation.

Als es einen Moment still war, dort unten, schoss er an der Kuppel vorbei, der größte Kalmar, den die Jakobsens je gesehen haben. Joachim stieß einen Schrei aus: "Hast du ihn, hast du ihn?", und wusste genau, dass Kirsten ihn nicht haben konnte. Der Kalmar, schnell wie ein Blitz, geschätzt 1,20 Meter lang, war zu flink für die Kamera.

Noch am selben Nachmittag ruft die Meeresbiologin an. Sie sagt, dass die schneeweiße Koralle noch nirgends registriert ist. Sie ist namenlos, eine Neuentdeckung. Die Erde ist vielleicht nicht reicher geworden, das Wissen über sie aber größer. Die Jakobsens nehmen sich vor Glück in die Arme, sind einen Moment stolz, genießen still. Hinaus brüllen sie die Freude nicht. Weil sie wissen, dass da draußen keiner zuhört.

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