

Hamburg - Es muss ein aufreibender Sommer gewesen sein. Täglich gingen die Nordeuropäer auf Jagd, um Fleisch und Früchte für den langen Winter zu beschaffen und Vorräte anzulegen. Im Oktober schließlich zogen sie sich in ihre Hütten im milderen Flachland an der Küste zurück, dort schienen sie sicher.
Doch eines Tages im Herbst vor etwa 8150 Jahren - die Steinzeitmenschen hatten wohl gerade ihre Winterquartiere bezogen - brach eine der größten Katastrophen Europas über sie herein. Erstmals können Wissenschaftler nun die ganze Geschichte erzählen.
Im Nordatlantik vor der Küste Norwegens, wo heute Bergen und Trondheim liegen, waren unterseeische Schlammmassen größer als Island abgerutscht, sie stürzten vom Flachwasser in die Tiefsee. Wie ein Stein in einer Pfütze löste die sogenannte Storegga-Lawine Wellen aus, die sich mit dem Tempo eines Düsenflugzeugs kreisförmig ausbreiteten. Kurz darauf brachen Riesenwellen an die Küsten, sie türmten sich bis zu 20 Meter hoch - und strömten Dutzende Kilometer landeinwärts.
Am Lagerfeuer überrascht
Archäologen haben vielerorts Spuren der Katastrophe entdeckt: Im Osten Schottlands nahe dem heutigen Inverness hatte die Welle Menschen offenbar am Lagerfeuer überrascht, wie 25 Zentimeter dicke Sand- und Kiesablagerungen über einer Feuerstelle zeigen - sie befand sich damals auf einer Anhöhe, zehn Meter über dem Meer. Seeigelreste, Meeresmuscheln und Algen dokumentieren den Wasserstrom, der alles mitgerissen hat.
In Norwegen, auf den Shetland-Inseln und den Färöern, liegen die Spuren der Verwüstung sogar noch höher über dem damaligen Meeresspiegel, bis zu 20 Meter hohe Wogen krachten dort an Land. Die Altersbestimmung der Ablagerungen ergab übereinstimmend ein Alter von rund 8150 Jahren.
Am schlimmsten aber trafen die Wellen das alte Herz Europas: Zwischen Großbritannien und Deutschland, auf dem heutigen Nordseeboden, lag Doggerland, eine Art Steinzeitparadies. Hunderte Funde von Steinwerkzeugen, Harpunen und menschlichen Knochen am Nordseegrund zeugen von Siedlungen, die Archäologen als "Garten Eden" bezeichnen, als das "wahre Herz Europas". Man gelangte zu Fuß vom heutigen Norddeutschland nach Großbritannien.
Dann kamen die Tsunamis. Doggerland wurde vermutlich komplett überschwemmt, hatten Geologen jüngst entdeckt. Weite Teile des sandigen Bodens wurden von Tsunamis weggespült. Die Storegga-Rutschung war wohl die Ursache für das Ende der Siedlungsgeschichte auf Doggerland.
Indizien am Ort der Katastrophe
Auch im Rest Nordeuropas waren die Wirkungen der Tsunamis verheerender als angenommen. Knut Rydgren und Stein Bondevik haben Pflanzenreste aus den steinzeitlichen Katastrophengebieten untersucht. Die Tsunamis kamen zur ungünstigsten Zeit, berichten die Forscher im Fachblatt "Geology".
Entscheidende Indizien des steinzeitlichen Massensterbens sind Moose. Sie wurden nach den Tsunamis vor 8150 Jahren unter Meeresschlamm begraben, so dass sie luftdicht versiegelt und erhalten blieben. Ihr Zustand verrät, zu welcher Jahreszeit die Riesenwellen zuschlugen.
Jedes Jahr im Frühjahr bilden sich frische grüne Triebe aus, mit jedem Monat verzweigen sie sich. Die Moose in den vom Tsunami zerstörten Steinzeitsiedlungen verraten, dass sie im Spätherbst begraben wurden, berichten Rydgren und Bondevik. Eine erschütternde Entdeckung: "Die Steinzeitjäger waren zu dieser Zeit an die Küsten zurückgekehrt", schreiben die Geologen. "Tsunamis haben folglich einen Großteil der Menschen erwischt, es muss schrecklich gewesen sein."
Die Überlebenden hatten einen harten Winter vor sich. "Der Verlust der Vorräte, Handwerkszeuge und Behausungen muss ein schweres Problem für sie gewesen sein", schreiben Rydgren und Bondevik. "Viele dürften den Winter nicht überlebt haben."
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Katastrophenregion: Im Nordatlantik vor der Küste Norwegens zwischen Bergen und Trondheim waren vor 8150 Jahren unterseeische Schlammmassen von mehr als der Größe Islands abgerutscht (gelbe Markierung), sie stürzten vom Flachwasser in die Tiefsee. Wie ein Stein in einer Pfütze löste die sogenannte Storegga-Lawine Wellen aus, die sich mit dem Tempo eines Düsenflugzeugs kreisförmig ausbreiteten. Nach wenigen Stunden brachen Riesenwellen an die Küsten, sie türmten sich bis zu 20 Meter hoch. Archäologen haben vielerorts Spuren der Katastrophe entdeckt.
Schottisches Hochland: Zehn Meter hohe Wellen überraschten die Küstenbewohner vor 8000 Jahren.
Storegga-Rutschung: Vor 8150 Jahren löste sich vor der Küste Norwegens zwischen Bergen und Trondheim ein Geröllpaket von der Größe Islands und rutschte am Kontinentalhang kilometerweit in die Tiefsee - Tsunamis wurden ausgelöst.
Relief des Nordseebodens und Landmassen heute: In der Steinzeit stand der Meeresspiegel tiefer, einige heutige Untiefen (schwarz) ragten als Inseln aus dem Meer.
Geografie vor 8200 Jahren: In der Nordsee lag die Insel Doggerland.
Doggerland: Die Insel ragte großteils weniger als fünf Meter aus dem Meer.
Simulierte Wellenhöhen: Bis zu 20 Meter hohe Wellen krachten nach der Storegga-Rutschung auf die Küsten, zeigen Rechnungen einer Forschergruppe um Jon Hill vom Imperial College London.
Simulierte Wellenhöhen in Doggerland: Fünf Meter hohe Tsunamis überrollten die flache Sandinsel - es war wohl das Ende der menschlichen Siedlungsgeschichte dort.
"Heim nach Doggerland": Künstlerische Darstellung des untergegangenen Doggerlands.
Funde im deutschen Wattenmeer: Sie stammen vermutlich von der im 14. Jahrhundert versunkenen Siedlung Rungholt - wie das Doggerland liegt sie nun am Meeresgrund.
Spuren einer untergegangenen Welt: Rungholt versank 1362 bei einer großen Sturmflut - so wie zuvor zahlreiche Küstenorte im steinzeitlichen Europa.
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