Vulkanasche über Europa Phantomwolke legt Flugverkehr lahm

Vulkanasche über Europa: Phantomwolke legt Flugverkehr lahm
Foto: Christian Charisius/ dpaHamburg - Eigentlich sollte alles besser werden: Die Aschewolke des Eyjafjallajökull hatte im April 2010 ein Luftfahrtchaos in Europa ausgelöst. Tausende Passagiere strandeten auf den Airports, die Behörden agierten kopflos. Das mangelhafte Management wurde erkannt und analysiert, Grenzwerte für Asche in der Luft wurden erlassen, Krisenkonzepte erstellt. Im April 2011 gab es sogar eine Generalprobe für den Ernstfall: Ein Ausbruch des isländischen Vulkans Grímsvötn wurde simuliert, die Ergebnisse des Krisentests sollen im Juni veröffentlicht werden.
Die Resultate braucht niemand mehr, der Vulkan war schneller: Er schickte seit dem vergangenen Wochenende eine echte Wolke Richtung Kontinent - mit Folgen für den Flugverkehr. Insgesamt fielen an zwei Tagen über Nordeuropa etwa 1000 Flüge aus. Am Mittwoch verursachte das Phänomen erhebliche Turbulenzen im Luftverkehr über Norddeutschland: In Hamburg, Bremen und Berlin konnten Düsenflugzeuge zeitweilig nicht starten und landen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble konnte wegen der Flugsperre durch die isländische Aschewolke am Mittwoch nicht an einem Ministertreffen in Liechtenstein teilnehmen.
Gegen Mittag entspannte sich die Lage auch deshalb, weil der Vulkan keine Asche mehr ausspuckte. Dafür entbrennt jetzt ein neuer Streit über den Umgang mit der Wolke. War das Flugverbot unnötig? Gab es überhaupt eine gefährliche Aschekonzentration über den betroffenen Regionen? Von einem funktionierenden System beim Umgang mit einer solchen Situation kann offenbar trotz aller Erfahrung keine Rede sein.
Messergebnisse lagen nicht vor
Der Ablauf der Aschekrise ruft in Deutschland bereits erneut Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung hervor. Zumal Messdaten zeigen, dass die Aschewolke Flugzeugen über dem Norden der Republik wohl nicht gefährlich werden konnte. Das Flugverbot über Deutschland war möglicherweise unnötig.

Grüße aus Island: Fahndung nach der Aschewolke
"Aus den Erfahrungen des Flugasche-Chaos im vergangenen Jahr wurde nichts gelernt", sagt der verkehrspolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Uwe Beckmeyer SPIEGEL ONLINE. Er beklagt, dass es auch diesmal keine genauen Informationen über die Gefährlichkeit der Aschewolke gab.
Das Bundesverkehrsministerium hingegen verteidigt seinen Krisenplan: "Sicherheit geht vor, wir wollten mit dem Flugverbot jedes Risiko vermeiden", sagte ein Ministeriumssprecher auf Anfrage. Lediglich die Abstimmung innerhalb Europas müsse verbessert werden: In einem Schreiben an die ungarische Ratspräsidentschaft habe die Bundesregierung nun gefordert, das Thema Aschekrise auf die Tagesordnung des nächsten EU-Gipfels im Juni zu setzen. Zudem seien in den vergangenen Monaten das Luftmessnetz verbessert und drei Risikograde für die Aschegefahr definiert worden, erklärt das Ministerium weiter.
Die entscheidende Frage, ob die Aschewolke Flugzeugtriebwerken tatsächlich gefährlich werden konnte, kann das Ministerium jedoch nicht beantworten: Es verfügte nach eigener Auskunft auch am Mittwochnachmittag noch nicht über die notwendigen Messdaten.
Für Messungen zuständig sei der Deutsche Wetterdienst mit seinen 52 Lasergeräten, die Partikel am Himmel erspähen können, hieß es. Am Mittwoch seien zudem zwei Flugzeuge zu Messungen gestartet, berichtet das Ministerium. Ergebnisse lagen jedoch nicht vor. Die Aschewolke hatte sich derweil verzogen.
Wo war die Asche?
Das verwundert. Denn andere Forscher haben längst Ergebnisse präsentiert. Sie legen den Schluss nahe, dass Einschränkungen des Luftverkehrs über Europa zu keiner Zeit notwendig waren. Höchstwahrscheinlich wurde die als kritisch für Jet-Triebwerke angesehene Konzentration von 2000 Mikrogramm Aschepartikel pro Kubikmeter Luft nicht überschritten.
Das Leipziger Institut für Troposphärenforschung (IfT) etwa betreibt ein spezielles Laserinstrument für atmosphärische Messungen ("Lidar") in Stockholm. Nach Auskunft von IfT-Wissenschaftlern ermittelte es in der Nacht zum Mittwoch, als die Wolke Schweden erreichte, Werte zwischen lediglich 300 und 500 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Erwartet hatte man 2000 bis 4000. Am Institutsstandort in Leipzig selbst wurden nicht einmal hundert Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter gemessen. Allerdings liegt Leipzig etwas außerhalb der sich ausbreitenden Aschewolke.
Werte deutlich unterhalb der kritischen Schwelle werden auch aus Norwegen gemeldet. Dort gibt es ein Netzwerk von Partikelmessgeräten am Boden. Die Instrumente stehen unter anderem in Stavanger, Bergen und Oslo. "Sie haben gestern maximal 300 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft gemessen", sagt der Atmosphärenphysiker Fred Prata vom Norwegischen Institut für Luftforschung (Nilu) in Oslo.
Auch Atmosphärenforscher aus dem Forschungszentrum Jülich (FZJ) stießen bei ihren Untersuchungen nicht wie befürchtet auf gefährlich dichte Vulkanschwaden. Die Wissenschaftler messen seit Dienstagnachmittag mit einem mobilen Lidar im schleswig-holsteinischen Rendsburg - und damit genau im Korridor der Aschewolke. "Die Konzentration scheint insgesamt sehr niedrig zu sein", teilte das FZJ nach einer ersten Auswertung der Signale heute Vormittag mit. Diese seien "deutlich kleiner als beim Eyjafjallajökull" im vergangenen Jahr.
Fahndung nach der Phantomwolke
Auf aktuellen Satellitenbildern finden sich ebenfalls keine Spuren dichteren Vulkanstaubs über Europa. Im Institut für Atmosphärenphysik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen hat man sich am Dienstag Bilder der europäischen Meteosat-Wettersatelliten näher angeschaut und keine Hinweise auf Staubteppiche entdecken können, die an eine Dichte von 2000 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft heranreichen. Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE wurden diese Informationen auch an die Deutsche Flugsicherung weitergegeben. Veröffentlicht jedoch wurden sie nicht.
Manche der Partikelschleier in den Wetterkarten könnten zudem reine Phantome gewesen sein. Nach dem Strömungsmodell des Vulkanasche-Beratungszentrums (VAAC) in London, auf dessen Daten sich auch Deutschland stützt, soll sich der Staub aus dem Grímsvötn in einer Art Zangenbewegung nach Osten bewegt haben, wobei der viel stärkere Arm im Norden in einem hohen Bogen über Skandinavien hinweg verlief. In den Karten war dieser Aschearm überwiegend rot markiert, das heißt er sollte Konzentrationen von über 4000 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft aufweisen. Daraufhin waren zum Beispiel Flüge zur Inselgruppe von Spitzbergen gestrichen worden.
Jetzt aber verblüfft Nilu-Forscher Fred Prata mit der Feststellung, dass in diesem Gebiet so gut wie gar kein Vulkanstaub in der Luft gewesen sei. Der Australier beruft sich auf jüngste Messungen mehrerer Erdbeobachtungssatelliten über dem Europäischen Nordmeer: "Da können wir nur Schwefeldioxid aus dem Grimsvötn entdecken."
Hintergrund: In der Eruptionswolke eines Vulkans befindet sich normalerweise beides - Asche und das schwefelhaltige Gas. "In diesem Fall haben sich die beide Fraktionen aber offenbar getrennt", vermutet Prata. Das Schwefeldioxid sei bis in die Stratosphäre gelangt und dann nach Nordosten auf das Nordmeer hinaus verfrachtet worden, während es die Vulkanasche in tieferen Höhen nach Südosten trieb, auf Schottland zu. "Die haben es wirklich nicht hingekriegt", urteilt der Nilu-Experte über die unexakten Mengenabschätzungen des VAAC.
"Wunderbares Timing"
Die Ausbreitungsmodelle funktionierten eigentlich sehr gut, sagt Albert Ansmann, Leiter der Lidar-Arbeitsgruppe am Leipziger IfT: "Die Meteorologie klappt." Das Timing habe "wunderbar" gestimmt, die Wolke sei zur vorhergesagten Zeit bei uns eingetroffen. Nur wurden die Modelle offensichtlich mit sehr ungenauen Eingangsdaten gefüttert. Ansmann: "Anhand unserer Messungen sieht man, dass die Quellstärke des Vulkans etwa einen Faktor fünf bis zehn zu hoch angesetzt war." Und so blieb unklar, wie viel Asche genau ausgestoßen wurde.
Selbst ein genaues Wissen über die Aschekonzentration hätte indes keine Klarheit gebracht: "Noch immer fehlt eine wissenschaftliche Basis für die Asche-Grenzwerte", bemängelt SPD-Experte Beckmeyer. Niemand weiß, ob die Grenzwerte realistisch sind. "Ein Endbericht zu dem Thema liegt bis heute nicht vor", klagt Beckmeyer.
Zwar hatten die meisten EU-Staaten die Werte nach der Krise im vergangenen Jahr besser eingeschränkt: Erst ab 2000 Mikrogramm herrscht demnach striktes Flugverbot. Doch die Arbeitsgruppe "Flugzeugtechnik" des Verkehrsministeriums, die die Gefährlichkeit von Vulkanasche ermitteln sollte, hat im Sommer 2010 ihre Arbeit ohne Ergebnis abgebrochen. Verantwortlich dafür sei die Luftfahrtindustrie, erklärt das Ministerium - sie habe es versäumt, neue Daten zu schicken. Das Versäumnis hält die Airlines freilich nicht davon ab, gegen das Flugverbot zu protestieren.
Krisenstab gefordert
Zuverlässig Daten lieferte nun allein der britische Wetterdienst "Met Office" und das VAAC - allerdings ebenfalls nur auf Grundlage von Wetterdaten; Aschemessungen wurden zunächst nicht publiziert. Die Karten der Briten zeigten bereits am Dienstagvormittag, dass Deutschland ein Flugverbot drohen würde. Das Verkehrsministerium äußerte sich dennoch erst am späten Dienstagabend zu den Spekulationen. "Die Informationspolitik der Bundesregierung hat sich erneut als ungenügend erwiesen", kritisiert SPD-Politiker Beckmeyer. "Wir erwarten die sofortige Einrichtung eines Nationalen Krisenstabes für solche Fälle".
Noch immer gebe es keine klaren Regelungen für ein nationales Krisenmanagement bei Aschewolken. "Der Bundesminister entscheidet über die Köpfe der Betroffenen hinweg", sagt Beckmeyer. Das Verkehrsministerium verteidigt sein Schweigen: "Wir wollen nicht spekulieren, wir reden nur über Tatsachen", sagt ein Sprecher. "Wetterdaten können sich kurzfristig ändern".
Auf Tatsachen jedoch - also auf Messdaten - konnte sich die Bundesregierung auch bei dieser Aschekrise offenbar kaum stützen.