Vulkane auf Indonesien Die Throne der zürnenden Götter

Sengende Lava, erstickender Schlamm oder ein Tsunami - 129 aktive Vulkane sorgen auf Indonesien immer wieder für verheerende Katastrophen. Menschen droht ständige Todesgefahr, aber die feuerspeienden Berge schaffen auch Leben.

Doch Udi, ein 60-jähriger Bauer aus dem Dorf Kinarejo auf der indonesischen Insel Java, rührt sich nicht. Und das, obwohl Kinarejo nur viereinhalb Kilometer vom schwelenden Gipfel des Merapi entfernt ist. Obwohl Säulen austretender giftiger Gase und zitternde Seismografen einen kurz bevorstehenden Ausbruch ankündigen. Und obwohl die Regierung die vollständige Evakuierung angeordnet hat. "Ich fühle mich hier sicher", sagt Udi. "Solang der Hüter bleibt, bleib ich auch."

Der Merapi ist ein Killer. Fast 3000 Meter erhebt sich der "Feuerberg" über Wälder und Felder. Er gehört zu den aktivsten und gefährlichsten Vulkanen der Welt. 1930 kamen bei einem Ausbruch mehr als 1300 Menschen ums Leben. Selbst in weniger gefährlichen Zeiten steigen Rauchfahnen drohend aus dem Gipfel. Ein Teil der Umgebung, heißt es auf einer lokalen Karte der Gefahrenzonen, "wird immer wieder von pyroklastischen Auswürfen, Lavaströmen, Steinschlägen, toxischen Gasen und herausgeschleuderten glühenden Gesteinsbrocken heimgesucht ". Als im Mai 2006 das Grollen des Vulkans anschwillt, fliehen Tausende von seinen fruchtbaren Hängen und ziehen widerwillig in provisorische Camps in tiefer gelegenen, weniger gefährdeten Lagen. Sogar die Affen strömen scharenweise bergab.

Nicht so Udi und die anderen Dorfbewohner. Sie warten auf das Losungswort eines Mannes in den Achtzigern mit strahlendem Gebiss und einer Vorliebe für Mentholzigaretten. Mbah Marijan, der Hüter des Merapi, bekleidet einen der wohl seltsamsten Posten im Land. Das Schicksal von Dorfbewohnern wie Udi sowie der 500.000 Einwohner von Yogyakarta, einer Stadt 32 Kilometer weiter südlich, ruht auf seinen schmalen Schultern.Marijan ist für die Rituale zuständig, die das Ungeheuer, das der Legende nach im Gipfel des Merapi haust, besänftigen sollen. Aber diesmal reichen sie wohl nicht aus. Die Warnungen werden dringlicher. Vulkanologen, Militärs, ja sogar Indonesiens Vizepräsident bitten Marijan, der Evakuierung zuzustimmen. Doch er weigert sich. "Es ist eure Pflicht, mit mir zu reden", sagt er zur Polizei. "Und meine Pflicht ist es zu bleiben."

Marijans Verhalten würde andernorts vielleicht selbstmörderisch erscheinen, nicht jedoch in Indonesien. Der Archipel aus 17.500 Inseln bildet den westlichen Ausläufer des hyperaktiven Pazifischen Feuerrings. Diese Zone gewaltiger geophysikalischer Kräfte, in der tektonische Platten aufeinanderstoßen, zieht sich über 40.000 Kilometer hufeisenförmig um den Pazifik.

Nirgendwo sonst leben so viele Menschen so nahe bei so vielen aktiven Vulkanen - 129 nach einer Zählung. Allein auf Java leben 120 Millionen im Schatten von mehr als 30 Vulkanen, ein Umstand, der in den vergangenen 500 Jahren mehr als 140.000 Menschen den Tod brachte.

Ein aktiver Vulkan droht mit vielen Gefahren: mit sengender Lava, erstickendem Schlamm oder Tsunamis, denen nicht selten ein Ausbruch folgt. 1883 löste der vor Javas Küste gelegene Krakatau einen Tsunami aus, der 36.000 Menschen das Leben kostete. Sein Name wurde zur Metapher für eine Naturkatastrophe.

Für Marijan ist ein Ausbruch jedoch weniger eine Drohung als vielmehr ein Zeichen für Wachstum. "Das Reich des Merapi wird größer", sagt er und deutet mit einer Kopfbewegung zum rauchenden Gipfel. In Indonesien sind Vulkane nicht nur eine Gefahr, sie schaffen auch Leben. Vulkanasche reichert den Boden an; Bauern auf Java können pro Saison drei Reisernten einfahren. Auf dem benachbarten Borneo mit nur einem Vulkan ist das nicht möglich.

Weniger irdisch betrachtet, bilden Vulkane den Mittelpunkt mystischer Überzeugungen, die Millionen von Indonesiern in ihrem Bann halten und Ereignisse auf unvorhersagbare Weise beeinflussen. Die Vulkangipfel ziehen Gurus und Pilger an. Ausbrüche verheißen politische und soziale Umwälzungen.Man könnte sagen, für Indonesien sind Vulkane die Schmelztiegel, in denen sich Weltanschauungen und Religionen - vom Mystizismus bis zum Islam - vereinen. Das Land, durch eine Vielzahl von Ethnien und Sprachen geprägt, wird von Vulkanen zusammengehalten. Die Achtung vor ihnen ist geradezu ein nationaler Charakterzug.

Während das Zentrum für Vulkanologie, eine staatliche Behörde, die acht seismografische Stationen auf dem Merapi unterhält, die moderne Naturwissenschaft repräsentiert, steht Marijan, der Hüter des Vulkans, für das mystische Indonesien. Als ein holländischer Radfahrer 1996 auf dem Vulkan vermisst wurde, ließ Marijan angeblich den dichten Nebel verschwinden und fand den verletzten Ausflügler in einer Schlucht. Es ist nicht immer leicht, die vulkanischen Zuckungen, die sich zu einem Erdstoß steigern, von der seismischen Unruhe, die sich wieder legt, zu unterscheiden. Die Kontrollmechanismen wurden jedoch immer mehr verfeinert. Über Nacht haben die staatlichen Vulkanologen die höchste Warnstufe ausgerufen: Jeden Moment könne der Lavadom einstürzen.

Marijan bleibt unbeeindruckt. Schließlich beruhten die Warnungen nur auf Vermutungen von Männern, die dem Geist des Vulkans gänzlich fernstehen. Ein Einsturz des Lavadoms? "Das sagen grad die Richtigen", meint er lächelnd.

Indonesiens Motto "Bhinneka tunggal ika" - "Einheit in der Vielfalt" - bezieht sich auf etwa 300 Ethnien und mehr als 700 Sprachen und Dialekte. Sechs Religionen sind staatlich anerkannt: Islam, Katholizismus, Protestantismus, Buddhismus, Hinduismus und Konfuzianismus. Doch der Mystizismus durchdringt sie alle und legt ihre animistischen Wurzeln frei. Sumatra, die große Insel nordwestlich von Java, ist die Heimat der Batak, die im 19. Jahrhundert von europäischen Missionaren zum Christentum bekehrt wurden.Viele von ihnen glauben, dass der erste Mensch an einem Bambusstab vom Himmel auf den Pusuk Buhit, einen aktiven Vulkan am Ufer des Tobasees, herabgestiegen sei. Die hinduistischen Tengger, die im Osten Javas in der Umgebung des Bromo leben, klettern regelmäßig durch erstickende Schwefelwolken auf den Berg, um Geld, Gemüse, Hühner und gelegentlich auch eine Ziege in den Krater zu werfen. Auf Flores begraben die Nage, katholischen Glaubens wie die meisten Menschen auf der Insel, ihre Verstorbenen mit dem Kopf Richtung Ebulobo - eines Vulkans, dessen Kegel den südlichen Horizont beherrscht.

Nicht weniger heilig sind die Vulkane auf Bali mit seiner vorwiegend hinduistischen Bevölkerung. Besonders verehrt wird der mehr als 3000 Meter hohe Agung. Es heißt, ein Balinese finde ihn auch mit verbundenen Augen. Viele Menschen schlafen mit dem Kopf Richtung Vulkan.

1963 fielen 1000 Menschen einem grauenvollen Ausbruch des Agung zum Opfer.Weitere verhungerten, nachdem Aschenregen ihre Ernten begraben hatten. Doch was einst als göttlicher Zorn gesehen wurde, betrachtet man heute als Geschenk. Aus Stein und Sand, die durch den Ausbruch hochgeschleudert wurden, baute man Ferienanlagen und Restaurants für die Ausländer, die seit den siebziger Jahren in Scharen kommen. Trotz der Attentate islamischer Terroristen in den Jahren 2002 und 2005, bei denen mehr als 220 Menschen ums leben kam, ist der Tourismus weiterhin Balis wichtigster Wirtschaftszweig.

Indonesische Politiker sind Heuchler


Nicht jeder hat von dem Tourismusboom profitiert. Die 700 Bewohner des Dorfs Trunyan leben gedrängt wie in einer Festung nahe dem Batur. Ihre baufälligen Häuser kleben auf dem schmalen Landstreifen an einem riesigen Kratersee. Die Dorfbewohner gehen wie eh und je mit dem Einbaum auf Fischfang und bepflanzen die steilen Kraterhänge.

Während der Tourismus auf dem übrigen Bali für Aufschwung sorgte, liegt Trunyan heute durch seine Abgeschiedenheit ökonomisch im Abseits. Die Alten müssen hilflos zuschauen, wie die jüngere Generation in die Städte abwandert.

Ein Dorfältester, I Ketut Jaksa, macht die balinesischen Politiker und Geschäftsleute für die Misere verantwortlich. Er möchte zwar "keine Namen nennen", aber er besteht darauf, dass sie die Vulkangottheit erzürnt hätten. Anstatt sich um die wachsende Verzweiflung in Trunyan zu kümmern, hätten ihre Gebete nur dem eigenen beruflichen Erfolg gegolten. Andere geben der neuen Straße, die seit kurzem das Dorf mit dem übrigen Bali verbindet, die Schuld. Mit der Abgeschiedenheit sei es nun vorbei, spiritueller Verderbnis seien Tür und Tor geöffnet.

In Indonesien hält man es für selbstverständlich, dass Naturkatastrophen durch menschliche Torheit ausgelöst werden können. Vulkanausbrüche, Erdbeben, selbst ein umgestürzter Banyanbaum gelten seit langem als kosmisches Misstrauensvotum gegen Herrscher - eine Tatsache, der sich auch Präsident Susilo Bambang Yudhoyono schmerzlich bewusst ist. Nur zwei Monate nach der Amtseinführung des Präsidenten im Oktober 2004 wurde die Provinz Aceh auf Sumatra von einem Erdbeben und einem Tsunami heimgesucht. 170.000 Menschen verloren ihr Leben. Drei Monate später kamen bei einem Beben auf Sumatra etwa 1000 Anwohner um. Dann brach der Vulkan Talang aus und zwang Tausende Dorfbewohner, ihre Häuser zu verlassen. Über Mobiltelefone verbreitete sich eine Nachricht, in der man Yudhoyono inständig bat, ein Ritual zu vollziehen, damit die Unglücksserie ein Ende nehme. "Herr Präsident", hieß es darin, "bitte opfern Sie 1000 Ziegen." Yudhoyono - Exgeneral und promovierter Agrarökonom - weigerte sich öffentlich. "Selbst wenn ich 1000 Ziegen opfern würde", verkündete er, "werden die Katastrophen in Indonesien nicht aufhören."

Und sie endeten auch nicht. Es gab weitere Vulkanausbrüche - statistisch gesehen in einem Land voller Vulkane nichts Überraschendes. Auf eine Katastrophe folgte die nächste: ein Erdbeben, ein Tsunami, Überschwemmungen, Waldbrände, Erdrutsche, Denguefieber, Vogelgrippe, eine Schlammlawine.

Die Serie von tragischen Ereignissen nach der Präsidentenwahl könne man, so hieß es, durch sein ungünstiges Geburtsdatum erklären sowie durch seinen Vizepräsidenten, Jusuf Kalla. Sein Name weise nämlich eine unheilvolle Ähnlichkeit mit dem des menschenfressenden Ungeheuers Batara Kala auf. Während erneut der Ruf nach einem Ritual laut wurde, das die Unglücksserie stoppen sollte, nahmen Präsident Yudhoyono und sein Kabinett an einem Massengebet in Jakartas großer Moschee teil. "Nichts Ungewöhnliches ", insistierte sein Sprecher, doch die hochkarätige Versammlung war deutlich darauf angelegt, die nationalen Ängste zu zerstreuen.

Andere Politiker wenden sich direkt an die Geister. Ein Anwärter auf das Amt des Vizepräsidenten machte vor seiner Kandidatur heimlich einen Abstecher, um an einem Vulkan in der Nähe des Tobasees zu beten. Doch die Geister haben ihn nicht erhört: Er verlor die Wahl. Ein anderes Mal versammelten sich Mitglieder der indonesischen Partei P3KBI hoch oben an den Hängen des Merapi, ungeachtet der Tatsache, dass der Vulkan jeden Moment auszubrechen drohte. Die politische Kundgebung wurde von aufwendigen Ritualen begleitet. Arief Koesno, ein wohlbeleibter Exschaupieler, der sich für die Reinkarnation von Indonesiens erstem Präsidenten Sukarno hält, leitete die Zeremonie, die mit der Schlachtung von neun Ziegen begann. Am Ende tanzten die Parteimitglieder wild im Kreis.

"Nach diesem Ritual", verkündete Koesno überschwänglich, "wird der Merapi nicht ausbrechen!" Drei Tage später spie der Berg Feuer.

Der Glaube an das Übernatürliche hält sich selbst unter aufgeklärten Politikern. "Indonesische Politiker sind Heuchler", meint Permadi, ein professioneller Wahrsager und Parlamentarier. "Sie sagen, sie glauben an den Islam, an den Heiligen Koran. Sie behaupten auch, rational zu sein, denn viele haben in Amerika studiert. Aber in ihrem Herzen glauben sie immer noch an das Mystische."

Selbst Präsident Yudhoyono, so Permadi, habe auf dem javanischen Vulkan Lawu ein Ritual vollzogen. Die Hartnäckigkeit des Mystizismus erklärt auch, warum so viele Politiker bei ihren Wahlkampagnen Mbah Marijan, dem Hüter des Merapi, ihren Respekt bezeugen.

Während sich die Stimmung am Vulkan immer weiter aufheizt, eilen Dutzende Journalisten herbei, um über die Pattsituation zu berichten. Hauptdarsteller: der unerbittliche Marijan, erster Vulkanhüter des Medienzeitalters. Bald sind überall in Yogyakarta T-Shirts mit seinem Konterfei und dem Slogan "Präsident des Merapi" zu sehen. Um Geld für seine verarmten Nachbarn in Kinarejo aufzutreiben, tritt er in einem TV-Werbespot für einen Energy-Drink auf.

Marijan hat sein Amt von seinem Vater geerbt. Der Kraton, wie der von hohen Mauern umgebene Sultanspalast in Yogyakarta genannt wird, entlohnt ihn mit umgerechnet einem Dollar pro Monat. In der javanischen Kosmologie liegt der Kraton auf einer unsichtbaren Linie zwischen dem Merapi und dem nahe gelegenen Indischen Ozean. Neben den alltäglichen Regierungsgeschäften in Yogyakarta hat der im Palast amtierende Sultan auch die Aufgabe, die Meeresgöttin Ratu Kidul und Merapis Hausungeheuer Sapu Jagat zu besänftigen.

Eines Morgens treffen Soldaten ein. "Ich will hier nicht weg", sagt Marijan. "Wann ich gehe, ist allein meine Entscheidung." Dann macht er sich auf den Weg zur Dorfmoschee. Zu seinen Pflichten mag es gehören, ein Vulkanungeheuer zu beschwichtigen. Doch er ist auch ein frommer Muslim, der fünfmal am Tag betet.

Zwei Tage später stürzt der Lavadom ein. Im Stadtzentrum von Yogyakarta kommt der Verkehr zum Erliegen. Autofahrer starren mit offenem Mund zu der glühend heißen Steinlawine hoch, die an der Westflanke des Merapi herabfließt – weg von Marijans Dorf. Dank der rechtzeitigen Evakuierung wird niemand verletzt.

Hamengku Buwono X., Erhalter des Universums


Antonius Ratdomopurbo, Direktor des Instituts für Vulkanologische Forschung und Technologische Entwicklung in Yogyakarta, ist erleichtert. "Der Merapi ist kein großer Vulkan, aber er ist dicht besiedelt. 1930 kamen viele ums Leben, einfach weil sie zu nahe dran waren." Marijan habe nur Glück gehabt, sagt er.

Einen Monat später stürzt der Lavadom erneut ein, diesmal fließt die Lawine südwärts. Zwei Mitglieder der Rettungsmannschaften sterben in der zwei Meter tiefen heißen Asche. Wieder verschont das Glück - oder die Vulkangottheit? - Marijans Dorf. Versteht der Hüter des Merapi etwas von Vulkanologie? "Ich weiß es nicht", sagt Ratdomopurbo mit einem verkniffenen Lächeln. "Das müssen Sie ihn schon selber fragen."

Marijan, der hartnäckig an seinen Pflichten festhält, legt sich nicht nur mit den Behörden an, sondern auch mit seinem Chef, Sultan Hamengku Buwono X., der den Regierungsaufruf zur Evakuierung unterstützt.

Hamengku Buwono X. - der Name bedeutet "Erhalter des Universums" - steht einer Dynastie vor, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Sein offizielles Porträt zeigt ihn in voller javanischer Hoftracht, mit Krummdolch und prächtigem Batiksarong. Alltags jedoch sitzt er im Armani-Anzug in seinem Büro und pafft eine Davidoff. Hinter ihm hängt das große Gemälde eines Vulkans. "Nicht der Merapi ", winkt er ab. "Der Fudschijama."

Die Tradition schreibt zwar vor, dass er Marijan in Diensten hält, doch der studierte Jurist glaubt nicht an Vulkangeister. Er ist ein moderner Muslim, der die Bewohner von Yogyakarta auffordert, die Ausbrüche des Merapi unter wissenschaftlichen Aspekten zu sehen. Seiner Überzeugung nach kann man "eine große Nation nicht auf pessimistischen Mythen aufbauen".

Die Beziehungen zwischen dem Sultan und Marijan sind gespannt: hier der moderne Herrscher, da der Geisterbeschwörer. Marijan sagt den Journalisten, er werde zur Evakuierung aufrufen, falls der Sultan es ihm befehle – doch meint er damit nicht Hamengku Buwono X., sondern dessen Vater.Hamengku Buwono IX., der Marijan einst zum Hüter des Merapi bestellte, starb vor fast 20 Jahren. "Ich gehorche dem neunten Sultan", sagt Marijan. Am amtierenden kritisiert er besonders, dass er Geschäftsleuten erlaubt, Zigtausend Kubikmeter Stein und Sand des Merapi abzutragen.

Mit seiner Kritik steht Marijan nicht allein. Viele Menschen in Yogyakarta werfen Hamengku Buwono X. vor, er habe die Kulturhauptstadt in ein Einkaufszentrum verwandelt und verbringe zu viel Zeit auf dem Golfplatz. Sie sehnen sich nach den tröstenden Riten und kritisieren den Sultan, weil er die Zeremonien, an denen sein Vater noch regelmäßig teilnahm, vernachlässige. Auch bei der jährlich stattfindenden Segnung von Opfergaben für das Ungeheuer Sapu Jagat und die Meeresgöttin Ratu Kidul glänzt der Sultan im Jahr 2006 durch Abwesenheit. Die Opfergaben - darunter Lebensmittel, Blumen, Tuche und Haare und Fingernägel des Sultans - sollen die heilige Allianz zwischen Vulkan, Palast und Indischem Ozean festigen und damit die Sicherheit der Menschen gewährleisten.

Zwei Wochen nach dem ersten größeren Ausbruch des Merapi im Jahr 2006 bebt die Erde südlich von Yogyakarta. Mehr als 5000 Menschen kommen zu Tode. Auch der Palast und die königlichen Grabstätten werden schwer beschädigt - ein böses Omen für den Sultan, der ohnehin schon Zielscheibe öffentlichen Zorns ist, da die Verteilung von Mitteln aus Hilfsfonds nur sehr zäh vonstattengeht. Schadensbegrenzung ist angesagt. Selbst ein moderner Sultan kann der Macht des alten Glaubens nicht entkommen. Mit oder ohne ihn, die jährlichen Opferriten müssen stattfinden.

Das Palastpersonal legt also Gaben im erdbebengeschädigten Hof aus, und es gibt eine kurze Zeremonie. Dann werden die Gaben in bereitstehende Autos gepackt, die in zwei Richtungen davonbrausen. Die erste Ladung wird in Marijans Haus geliefert, der sie zum Gipfel des Merapi bringt. Eine zweite Sendung Opfergaben wird südwärts nach Parangkusumo gefahren, zu dem Strand am Indischen Ozean, wo der Legende nach Senopati, ein Vorfahre des Sultans, im 16. Jahrhundert der Meeresgöttin Ratu Kidul begegnete. Tausende Häuser liegen zwischen den Reisfeldern in Trümmern. In Parangkusumo vergraben die Bediensteten des Sultans dessen Haare und Fingernägel in einem ummauerten Gelände in Strandnähe, wo zwei mit Blumen bestreute Steine die Stelle der legendären Begegnung markieren. Weitere Opfergaben werden in die Meereswellen gestreut.

Es ist August. Drei Monate sind seit dem ersten Ausbruch des Jahres vergangen. Der Merapi ist zwar noch aktiv, aber er hat sich beruhigt. Diese Ruhe schreiben die Anrainer Marijans Gebeten und seiner Anwesenheit auf dem Vulkan zu. Doch Ruhe in Indonesien hält sich gerade mal so lange wie eine Rauchfahne.

Grund dafür ist auch der militante Islam. Radikalisiert durch Ereignisse wie den 11. September und die amerikanische Invasion im Irak, haben Gruppen, die eine strengere Version des Islam propagieren, an Macht und Einfluss gewonnen. Verstärkt wird dieser Trend durch die geschickt verbreitete Vorstellung, der Islam sei das Allheilmittel gegen Indonesiens Übel, insbesondere gegen Armut und Korruption.

Militante Islamisten attackieren den Mystizismus aus der Überzeugung, solche Praktiken verunreinigten den Glauben. Muslimische Rettungsmannschaften, die nach dem ersten Ausbruch des Merapi im Mai 2006 in Yogyakarta eintreffen, geloben, Zeremonien auf dem Vulkan aufzulösen, und in Jakarta hacken Mitglieder einer islamischen Jugendgruppe Äste von einem heiligen Banyanbaum, um zu beweisen, dass er keine magischen Kräfte besitzt.

Vulkane sind die Throne der Götter


"Früher glaubten die Menschen, solche Dinge wie Gräber und große Bäume seien heilig", sagt Muhammad Goodwill Zubir, ein führendes Mitglied der Muhammadiyah, einer Organisation, die auf friedliche Weise den muslimischen Glauben von vorislamischen Einflüssen reinigen will, unter anderem von der "ketzerischen" Verehrung der Vulkane. "Doch mit der Verbreitung der Muhammadiyah in diesen Gebieten stirbt diese Art Aberglauben aus", sagt Zubir. Seine Bewegung hat rund 30 Millionen Mitglieder. Sie unterhält Tausende von Moscheen, Schulen und Krankenhäusern, um den orthodoxen Glauben zu fördern. Es gibt aber auch Männer wie Satria Naradha die glauben, der Mystizismus werde nicht nur überleben, sondern regelrecht aufblühen. Naradha ist Eigentümer der führenden Zeitung und des wichtigsten Fernsehsenders auf Bali. Die Einheimischen bewundern den etwas mehr als 40-jährigen Medienmogul, denn er praktiziert jene verschwenderischen Rituale, die Präsident Yudhoyono so betont ablehnt.

"Vulkane sind die Throne der Götter", sagt Naradha. "Sie sind die stärkste Naturkraft, sie erhalten und zerstören Leben." Er unterstützt ein ehrgeiziges Programm zum Bau hinduistischer Tempel überall in Indonesien, insbesondere auf den aktiven Vulkanen. Auch auf dem Merapi will er eines Tages einen Tempel errichten. Der Bau von Hindutempeln in vorwiegend muslimischen Gebieten könnte als eine Provokation wahrgenommen werden, da das Land zu religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen neigt. Doch Naradha lässt sich nicht beirren. Tempel stärken die balinesische Kultur, indem sie die spirituelle Macht der Vulkane binden, auf denen sie erbaut sind, erklärt er. "Das hilft allen Indonesiern, nicht nur den Balinesen."

Ein schöner Gedanke – allerdings scheint Harmonie in einer Nation, die so zersplittert ist, kaum erreichbar. Hinduistische Erneuerungsbewegung, militanter Islam, uralter Mystizismus: Was wird überdauern? Vielleicht alles. Vielleicht nichts.Wie ein Monsun fegt die Globalisierung durch Indonesien. Die junge Internet-Generation verehrt keine Vulkane, sondern asiatische Boygroups und englische Fußballclubs.

Aber man sollte die Vulkane noch nicht abschreiben. Kürzlich hielt Golkar, Indonesiens größte politische Partei, ihre Jahreskonferenz in Yogyakarta ab. Der ehrgeizige Vorsitzende,Vizepräsident Jusuf Kalla - der mit dem unheilvollen Namen - wird vermutlich 2009 für das Präsidentenamt kandidieren.

Im teakholzverkleideten Ballsaal des Hyatt Regency stellt Kalla einen Ehrengast vor. Einen Mann, "der resolut ist und fähig, in jeder Situation und Gefahr Entscheidungen zu treffen". Es ist Mbah Marijan. Wer wäre besser geeignet, eine Wahlkampagne für das höchste Amt im Staat zu eröffnen als der Präsident des Merapi?

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