Wärmerekord Schweizer Alpen nicht mehr winterfest
Die Tageszeitung "Le Nouvelliste" in Sion, der Hauptstadt des schweizerischen Kantons Wallis, überschreibt den Wetterbericht zur Zeit täglich so: "Beau et doux" (deutsch: "Schön und mild"). Kein Wunder, denn gestern betrugen die Temperaturen in Sion elf und selbst im hochgelegenen Zermatt noch sieben Grad.
Sonne satt gibt es praktisch seit September in den Westalpen und das so sehr, dass wegen der Wärme und des Föhns nicht nur die Rennen des Ski-Weltcups auf unbestimmte Zeit verschoben wurden. Auch die Langläufer müssen passen, da im Châletdorf Cogne im Aostatal der Schnee fehlt und auch hier der Loipen-Weltcup ausfällt.
Die Alpen, so hat es den Anschein, sind nicht mehr winterfest. Sie befinden sich gleichsam im grünen Bereich, hier also dem falschen, und selbst für Kunstschnee, der aus Schneekanonen düsen soll, ist es zu warm geworden.
"Noch nie wurden im Herbst in der Schweiz so hohe Temperaturen gemessen wie 2006. Die Jahreszeit ist um 2,5 bis 3 Grad wärmer als üblich", meldet die Zürcher "SonntagsZeitung". All das verheiße aber nichts Gutes, meint der Geografie-Professor Wilfried Haeberli, Gletscherforscher an der Universität Zürich. Denn am meisten leiden unter dem glorreichen Herbst die Eisströme Helvetiens, wie jetzt die jüngsten Messungen gezeigt haben.
"Zum Skelett abgemagert"
Sie haben seit Juli fast durchweg 1 bis 1,5 Meter an Dicke verloren, und der Volumenverlust beträgt fast das Doppelte wie in normalen Jahren, hat Haeberli herausgefunden. Damit seien drei bis fünf Prozent der gesamten Eismasse der Schweizer Alpen verloren gegangen, lautet die beklemmende Bilanz des Gletscherforschers.
Noch dramatischer klingt, was der Geologe Hans-Rudolf Keusen an einem Paradebeispiel, dem Unteren Grindelwaldgletscher im Berner Oberland, ermittelt hat.
Dessen Eisdecke ist um sechs bis sieben Meter niedriger geworden. Gestern hat Keusen den Gletscher mit einem Helikopter angeflogen: "Er ist bis zum Skelett abgemagert, und zwei Schmelzwasser-Seen müssen genau überwacht werden", berichtete er.
Das Schicksal des Krisen-Gletschers am Fuß der Ostflanke des Eiger (3970 Meter) ist im Vergleich zum Walliser Findelgletscher aber noch gnädig. Die Zunge des Findelgletschers hat neun Meter an Dicke verloren, und ähnliche Werte haben die Zürcher Forscher auch am Morteratsch-, dem Aletsch- und dem Gornergletscher bei Zermatt gemessen.
Kinder bestaunen Ötzi des Tierreichs
Passend zu dem Klima-Debakel staunen derzeit vor allem Kinder, die im Alpinen Museum in Bern eine Ausstellung mit dem Titel "Gletscher im Treibhaus" besuchen. Eine Art Ötzi des Tierreichs ist dort zu besichtigen eine Gämse unter Glas, die von einem Gletscher mumifiziert wurde und mit dessen Abschmelzen nunmehr ans Licht gekommen ist.
Weil die Wärme außerdem tief in den Fels der Gebirge eingedrungen ist, hält auch die Gefahr von Bergstürzen an. Zum größten dieses Jahres kam es vor kurzem im Massiv der Dents-Blanches bei Champéry im Wallis. Dort löste sich am 9. November mutmaßlich über eine Million Kubikmeter Gestein aus der Gipfelregion, wobei die Hauptmasse in einen Schuttkessel unterhalb des Gipfels stürzte. Brocken mit sieben Metern Länge und vier Metern Höhe stürzten bei der Ortschaft Barme auf einen Picknickplatz hinab - auf dem sich zum Glück aber keine Wanderer aufhielten.
Das war bereits der zweite Bergsturz im Gebiet des autobahnnahen Val d'Illiez, nachdem Ende Oktober zweieinhalb Millionen Tonnen Fels über die Nordwand der benachbarten Dents-du-Midi (3258 Meter) gestürzt waren.
Die Ursache war jedes Mal die gleiche: Dauerfrost, der früher den Fels wie Kitt zusammenhielt, taut wegen der Herbstwärme auf. Für den hübschen Weiler Barme hat das nun zur Folge, dass die Sonne leichter in das Tal hinabscheint, da oben im Gipfel der Dents-Blanches seit dem Bergsturz eine Lücke klafft. Bernard Rey-Bellet, der Sicherheitsbeauftragte des Val d'Illiez, weiß aber auch, welche Gefahren dem Tal drohen. "Langsam", sagt er, "gibt das Anlass zur Sorge."