Öko-Experiment Warum eine Kiefer in Brandenburg jetzt twittert
Es ist nicht so, dass es keine Alternativen gegeben hätte. Den Ahornbaum vor meinem Balkon zu Beispiel, der seine geflügelten Früchte immer über meine Blumenkästen verteilt. Dessen Fitness hätte man vermessen können. Oder die Buchen und Eichen des Berliner Tiergartens, ein paar Schritte von unserem Hauptstadtbüro entfernt. Die "Femeiche" in Erle im nordrhein-westfälischen Kreis Borken oder die "Alte Eibe" von Balderschwang im Allgäu, die zu den ältesten Bäumen des Landes zählen.
Oder irgendeinen anderen der - je nachdem, wie man zählt - um die sieben Milliarden Bäume Deutschlands.
Doch die Ehre, einer der ersten twitternden Bäume der Nation zu sein, kommt einem auf den ersten Blick eher unscheinbaren Exemplar zu. Es steht in der brandenburgischen Schorfheide, Forscher des Thünen-Instituts für Waldökosysteme haben das 17 Meter hohe Gewächs auf einer Versuchsfläche nahe des Örtchens Britz mit Equipment für ein paar Tausend Euro verkabelt.

Sie wollen herausfinden, ob und wie Trockenheit der Kiefer zu schaffen macht - indem sie wichtige Lebensdaten ins Netz übertragen, für die ganze Welt sichtbar (hier gehts zum Twitteraccount der Kiefer).
Wer die Diagramme und Statistiken dort betrachtet, merkt schnell: "Mein Freund der Baum" - das ist so 20. Jahrhundert! Was wusste man damals schon? Mittlerweile kann jeder, der mag, quasi in Echtzeit das Schicksal des so geschätzten Gewächses verfolgen.
Seit Mitte der Woche läuft das Experiment nun, nachdem die Wissenschaftler zuvor auf einem Kongress in der Nähe zu Demonstrationszwecken eine Birke verkabelt hatten. Nun steht der Twitterbaum am Rande einer Gruppe von Artgenossen, die alle im selben Abstand gepflanzt sind. Mit weißer Farbe hat jemand eine "9" auf ihre grobe Rinde geschrieben. Mit Gummibändern und Kabelbindern ist Technik am Stamm befestigt: Sensoren, Kabel, W-Lan-Modul.
Etwa 60 bis 80 Liter Wasser pro Tag
Bei dem Versuchsaufbau geht es im Kern um die Frage, was der Klimawandel mit den Wäldern in Deutschland und Europa macht. "Bäume können nicht weglaufen", sagt Institutschef Andreas Bolte. "Sie müssen alles hinnehmen, was an ihrem Standort passiert." Wie eine Art Fitnessarmband registriert die Thünen-Messtechnik deswegen, welchem Stress der Testbaum ausgesetzt ist.
Rund um die Uhr wird der Wassertransport von den Wurzeln bis in die Krone überwacht, ebenso der Umfang der 44 Jahre alten Kiefer. Der Baum zieht sich nämlich zusammen, wenn ihm das Wasser fehlt. Um rund fünf Millimeter kann der Durchmesser schwanken.
Etwa 60 bis 80 Liter Wasser pro Tag strömen im Stamm nach oben und werden - sofern nicht für die Photosynthese gebraucht - über winzige Spaltöffnungen der immergrünen Nadeln wieder ausgeschieden. Durch die Verdunstung entsteht ein Sog, und neue Flüssigkeit folgt nach - solange der Boden welche hergibt.
Mit ein paar Tricks sorgt die Kiefer dafür, dass möglichst wenig Wasser unnütz verloren geht. So haben die Nadeln eine Wachsschicht, die vor dem Verdunsten schützt. Außerdem sind die Spaltöffnungen windgeschützt angebracht. Bei großer Hitze werden sie in jedem Fall geschlossen.
Dann können die Bäume allerdings auch kein CO2 aufnehmen, das sie für die Photosynthese ebenfalls brauchen. In Extremsituationen muss sich der Baum also entscheiden: Verdursten - weil die Spaltöffnungen zur CO2-Aufnahme aufbleiben, aber gleichzeitig Wasser entweicht? Oder Verhungern, weil zwar kein Wasser verloren geht, aber auch kein Kohlendioxid in die Zellen kommt? "Ich bin persönlich der Meinung, dass Bäume eher verdursten als verhungern", sagt Forscher Bolte. "So geht es uns Menschen ja auch."
Doch am besten stehen die Bäume gar nicht vor diesem Dilemma. Die Thünen-Forscher in Eberswalde wollen daher herausfinden, wie Deutschlands Förster ihre Wälder zukunftssicher machen können - womöglich auch dadurch, dass sie manche Baumarten langfristig austauschen: "Die Kiefer kann mit den höheren Temperaturen und weniger Wasser gut umgehen", sagt Forscherin Tanja Sanders. "Das heißt, das ist ein Baum, der eventuell später eine Fichte ersetzen kann, je nachdem, wie sich die Bedingungen entwickeln."
Wenn man sich in Brandenburgs Forsten umschaut, sieht man: Kiefer, Kiefer, Kiefer. Der Nadelbaum prägt rund 80 Prozent der Wälder des Landes, bundesweit sind es etwa 23 Prozent. Das reicht immerhin noch für Platz zwei im Baumranking, in dem sich vier Hauptbaumarten finden: Fichte (26 Prozent), Kiefer (wie erwähnt 23 Prozent), Buche (16 Prozent), Eiche (9 Prozent).
Vor allem Fichten und Buchen gelten als trockenheitsempfindlich. Der Twitterbaum von Eberswalde gehört dagegen zur zäheren Sorte. Doch was kann man tatsächlich ablesen aus den Reaktionen einer einzigen Kiefer? "Der Baum kann natürlich nicht für Deutschland stehen", sagt Institutsleiter Bolte. "Aber durchaus für die klimatische Region im Nordosten."
Die Online-Kiefer ist Teil eines europäischen Verbunds, der von der belgischen Universität Gent betreut wird. Dort entstehen - sorry für diesen Spoiler! - auch alle Tweets, die auf den Daten der Messgeräte basieren. Ein halbes Dutzend Bäume twittern bisher in Belgien, einer in den Niederlanden - und Bolte würde sich freuen, wenn in Deutschland zum Beispiel noch eine Fichte im Süden dazukäme.
Es darf auch eine ganz unscheinbare sein, am besten auf einem umzäunten Gelände - damit niemand die Technik klaut.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Textes hieß es, es handle sich um den ersten twitternden Baum Deutschlands. Das ist nicht der Fall. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.