Versenkte Munition in Nord- und Ostsee Zeitbomben am Meeresboden

Grundmine mit Sprengstoff und Rotalgen in der Ostsee
Foto: GEOMARVom Kieler Hafen bis zur Kolberger Heide braucht die »Alkor« rund 1,5 Stunden. Auf dem Weg fährt das 55 Meter lange Forschungsschiff die Kieler Förde entlang, vorbei am Urlaubsort Laboe und dem riesigen Marine-Ehrenmal, dann nimmt das Schiff Kurs Richtung Osten.
Im Seegebiet Kolberger Heide tobte schon im Dreißigjährigen Krieg eine Seeschlacht. Doch die wahren Probleme wurden hier, ein paar hundert Meter vor der Küste, im letzten Weltkrieg geschaffen – als er eigentlich zu Ende war.
Im Sommer 2020 waren Forscher auf den Spuren dieser Altlasten unterwegs. An Bord der »Alkor« waren damals aber nicht nur Wissenschaftler vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, sondern auch Parlamentarier einiger großer Parteien. Die Politiker schauten zu, wie ein Forschungsprojekt Fahrt aufnahm, von dem man sich Lösungsansätze für ein lange bekannte Umweltbedrohung erhofft.
Die Kolberger Heide gilt auf Seekarten als sogenanntes unreines Gebiet. Was das bedeutet, erfahren Spaziergänger am Strand des Küstenörtchens Kalifornien gelegentlich, wenn sie im Sand merkwürdige Brocken finden, die manche für interessante Steine halten – die aber gefährlicher Sprengstoff sind, die sogenannte Schießwolle. Dabei handelt es sich um ein von der Wehrmacht in Bomben und Torpedos verwendetes explosives Material. An den Strand gelangt es, weil die Siegermächte Granaten, Minen, Torpedos und alles, was damals sonst noch Tod und Zerstörung brachte, in der Kolberger Bucht versenkten. Manche Munition hatten deutsche Soldaten in den letzten Kriegstagen aber auch selbst dem Meer übergeben, damit sie nicht in Feindeshand fiel.
Wie viel Weltkriegsmunition in deutschen Gewässern auf dem Meeresgrund vor sich hin rottet, weiß niemand so genau. Von rund 1,6 Millionen Tonnen ist die Rede. Außer den konventionellen Waffen lägen dort noch rund 300.000 Tonnen Chemiewaffen mit Senfgas, Sarin oder anderen gefährlichen Substanzen, heißt es. Aber das sind nur Schätzungen, es könnte mehr sein, vielleicht auch weniger.

Karten mit Munitionsgebieten in Nord- und Ostsee
Foto: Jens Greinert / GEOMARSicher sind sich zahlreiche Experten dagegen, dass konventionelle Sprengkörper, meist mit TNT (wie der Schießwolle) oder weißem Phosphor bestückt, auch über 75 Jahre nach Kriegsende eine tickende Zeitbombe sind – und das mehr denn je. »Der Sprengstoff wird im Wasser immer sensitiver«, sagt Meeresforscher Jens Greinert vom Geomar. Die Bombenkörper rosten weg, Substanzen wie die berüchtigte Schießwolle 36 gelangen aus ihren metallenen Bombenkörper schon seit Jahren ins Meerwasser und verteilen sich in Unterwasserflora und Fauna. Teils sind die Konzentrationen winzig, aber die Stoffe landen in Meeresfrüchten, Fischen und letztlich auch auf unseren Tellern.
Der Kieler Toxikologe Edmund Maser hatte beispielsweise Experimente mit Muscheln durchgeführt, die er an der Kolberger Heide einmal an freiliegenden Sprengstoffbrocken und einmal nahe Minen ausgesetzt hatte. Nach einiger Zeit untersuchten die Forscher die Muscheln erneut, in ihnen hatte sich krebserregendes TNT sowie dessen gefährliche Abbauprodukte angereichert.
Laut Masers Risikobewertung hätte man die Muscheln, die nahe der Minen angesiedelt wurden, noch essen können, obwohl die Organismen bereits gesundheitliche Beeinträchtigungen zeigten. Die Muscheln an freiliegendem Sprengstoff waren dagegen nicht mehr für den Verzehr geeignet, das Krebsrisiko für Menschen sei zu hoch. Auch eine Studie des Thünen-Instituts kam zu einem alarmierenden Ergebnis. Dort hatten die Experten Plattfische auf mögliche Beeinträchtigungen untersucht und fanden bei einem Viertel der Tiere Lebertumore . Für den Menschen bestehe zwar noch keine grundsätzliche Gefahr, heißt es in der Studie, aber die Gesundheit der Fische sei beeinträchtigt. In der Vergangenheit ist es dennoch schon zu Vergiftungen nach dem Fischverzehr gekommen. Bereits kurz nach dem Krieg hatten sich Menschen in Schleswig-Holstein vergiftet .

Seemine mit deutlichen Korrosionsspuren
Foto: GEOMARDie Politik hat sich des Problems erst in jüngerer Zeit angenommen, auch wenn es seit Jahrzehnten bekannt ist. Erst die verstärkte Erschließung der Meere für Windparks und die Förderung von Erdgas sowie die Verlegung von Kabeln und Pipelines auf dem Meeresgrund haben die Munitionslager in den Fokus gerückt. Denn bei vielen dieser Aktivitäten werden alte Bomben gefunden und müssen teils aufwendig geborgen oder gesprengt werden – dagegen protestieren Umweltschützer schon lange, denn dabei sind beispielsweise Schweinswale umgekommen.
Nachdem Grüne und FDP Ende des vergangenen Jahres das Thema auf die bundespolitische Agenda gesetzt hatten, sprachen sich kürzlich auch verschiedene Experten vor dem Umweltausschuss der Bundesregierung für eine Bergung der Munition aus.
Denn in Zukunft wird sich das Problem wohl noch verschärfen. Das liegt zum einen daran, dass die Bomben im Salzwasser rosten und ihre Metallhülsen immer fragiler geworden sind. Schon jetzt ist es ausgesprochen schwer zu beurteilen, in welchem Korrosionszustand eine Bombe ist. Und selbst im Meer besteht noch immer Explosionsgefahr.
Aber auch der Klimawandel könnte das Problem befeuern, glaubt Meeresforscher Greinert, Leiter eines Projekts, das sich mit den Kriegsaltlasten beschäftigt. Denn die Zersetzung der Bomben ist abhängig von Umweltfaktoren wie Temperatur, Sauerstoffgehalt aber auch von Einwirkungen durch Strömungen oder Wellengang. Da in Folge des Klimawandels verstärkt mit Extremwetter und Sturmfluten zu rechnen ist, könnte das auch die Zersetzung befördern. »Wellenschlag spürt man auch noch in 20 Metern Wassertiefe deutlich. Die Energie ist dort so hoch, dass sie wie eine Art Sandstrahlgebläse auf die Munition einwirkt«, sagt Greinert.

Teilgebiet in der Lübecker Bucht: Auf der Karte des Meeresbodens liegen mindestens 1307 Einzelobjekte und 57 Munitionshaufen
Foto: GEOMARBevor ein langfristiges Bergungsprogramm des Bundes anlaufen kann, müssen noch zahlreiche Fragen beantwortet sowie wichtige Forschung durchgeführt werden. Denn Konzepte für die Beseitigung der Kriegslasten fehlen. Und die braucht nicht nur Deutschland, sondern auch viele andere Staaten, in denen das Meer durch Munition belastet ist. Hierzulande forderten Experten vor dem Umweltausschuss die Einrichtung eines Fonds von mindestens hundert Millionen Euro. Doch möglicherweise braucht es eine übergreifende Zusammenarbeit, um Standards für die Bergung zu definieren.
Ein solches Konzept will auch Geomar-Forscher Greinert mit seinem Team entwickeln. Sein Projekt steht dabei aber vor einer Reihe von Herausforderungen – angefangen bei der Lokalisierung der Sprengladungen.
Zwar sind die Verklappungsgebiete nach dem Krieg definiert worden, in den Archiven lagern zahlreiche Akten, die Versenkungen dokumentieren und die teils noch ausgewertet werden. In der Realität ging auf dem Weg zu den Abladeplätzen so manche Granate vorher über Bord. Die ausgewiesenen Meeresregionen sind also nur ein grober Fingerzeig.

Miliärschrottplatz im Meer: Torpedoköpfe, Seeminen und Grundminen, teils liegt der Sprengstoff frei
Foto: GEOMARDie Geomar-Forscher sammeln für die Lokalisierung der Bomben bereits jetzt bei Forschungsfahrten Daten vom Meeresgrund per Fächerecholot. So entsteht eine Karte der Meeresbodenmorphologie. Eine Software soll demnächst automatisiert erkennen, wo sich die Munitionsobjekte befinden könnten, und so die teure Suche kostengünstiger machen. Wird ein Objekt auf dem Meeresboden ausgemacht, bei dem nicht klar, ist, um was es sich handelt, schicken die Meeresforscher ein autonomes Unterwasserfahrzeug (AUT) hinunter. Die »Luise« sieht selbst ein wenig aus, als wäre sie aus zwei Torpedos zusammengebaut worden. Das Gerät taucht zum Meeresgrund und ermittelt, ob das Objekt magnetisch ist, zudem zeichnet eine Kamera Bilder von der Fundstelle auf. Wenn alles perfekt läuft, können die Forscher sogar den genauen Bombentyp erkennen. In Zukunft könnten mehrere solcher Geräte zeitgleich Daten sammeln.
Wenn die Bomben gefunden sind, müssen sie geborgen werden. Doch auch hierfür müssen erst noch technische Lösungen entwickelt werden. »Wir müssen in der nächsten Dekade mit der Räumung anfangen, deshalb müssen wir dringend mit der Entwicklung von technischen Lösungen beginnen«, sagt Greinert. Grundsätzlich muss der Sprengstoff aus den Bomben geholt und vernichtet werden. Bei Einzelfunden könnten die Bergung Minentaucher übernehmen. Aber im großen Maßstab, bei einem ganzen Unterwasserschrottplatz, funktioniert das nicht mehr.
Mit Gummiketten und Greifarm über den Meeresboden
Hier braucht man Spezialbagger oder Roboter, die mit Greifarmen die Kampfmittel etwa zu auf dem Wasser schwimmenden Plattformen heben. Dort wird die Bombe vernichtet und der Sprengstoff verbrannt. Projekte für die Entwicklung solcher Geräte liefen bereits, ähnliche Gerätschaften werden schon in der Offshore-Industrie verwendet.
Einen speziellen Unterwasserbagger hat beispielsweise die Firma Sea Terra entwickelt. Das Fahrzeug mit Gummiketten kann problemlos in einer Tiefe von bis zu 40 Metern auf dem Meeresgrund fahren und dort ferngesteuert räumen. Die Munition wandert in einen Korb und kann an die Meeresoberfläche gezogen werden. Mehr als vier Dutzend größere Bomben soll der Roboter pro Tag wegschaffen können. Bei Bomben, die zu fragil sind und leicht explodieren könnten, stößt das Gerät aber an Grenzen. Dann müsste doch wieder gesprengt werden.

Das Autonome Unterwasserfahrzeug »Luise« kostet einige Hunderttausend Euro
Foto: GEOMARGenerell verfügt Deutschland aufgrund der zahlreichen Bombenfunde bei Bauvorhaben über ein hohes Maß an Know-how bei der Kampfmittelbergung. Etliche Firmen kümmern sich um die Entschärfung. Aber für sie wäre es wichtig, wenn aus der Politik ein Signal käme, sagt Torsten Frey, der an einem inzwischen beendeten Projekt zur Entwicklung von neuer Bergungstechnik beteiligt war und nun zusammen mit Greinert am Geomar arbeitet. Denn nur dann seien diese Firmen bereit, in den Ausbau der Kampfmittelbergung auf See zu investieren und die vorhandene Technik entsprechend weiterzuentwickeln.
Noch problematischer wird die Lage aber, wenn die Munition nicht frei auf dem Meeresboden liegt, sondern zusammen mit Schiffen untergegangen ist. Auch etliche der Wracks, die in den Kriegen auf den Grund der Nord- und Ostsee sanken, sind noch mit Munition bestückt. Allein in der Nordsee liegen mindestens 120 Schiffe mit militärischem Hintergrund. Bei ihnen kommen etliche Faktoren hinzu, die die Bergung der Munition verkomplizieren. Zum einen bedrohen hier Schmier- und Treibstoffe im Inneren der Schiffe zusätzlich die Gewässer, wenn durch die Arbeiten Lecks an Tanks entstehen. Zudem treten ethische Fragen auf, schließlich müsste man für die Bergung von Munition möglicherweise die Totenruhe stören. »Bei diesen Wracks haben wir es oft mit Seemanns- oder auch Seekriegsgräbern zu tun«, sagt der Unterwasserarchäologe Philipp Grassel.
Grassel ist derzeit an einem Projekt in der Nordsee beteiligt, bei dem zunächst auch in Muscheln die Schadstoffbelastung gemessen werden soll. Sie liegen derzeit in Körben neben dem Wrack der »SMS Mainz«, einem Marinekreuzer aus dem Ersten Weltkrieg, und sollen Ende des Sommers geborgen und untersucht werden.
Anders als in der Ostsee liegen für die Nordsee kaum Daten zur Gewässerbelastung vor. Hier herrschen aufgrund der Gezeiten stärkere Strömungen mit mehr Sedimenttransport und damit ganz andere Bedingungen. Teils sind die Bomben versandet und liegen im Meeresboden. Die Forscher stehen hier also noch ganz am Anfang.
Die Politik ist sich bisher überraschend einig
Wie teuer die Beseitigung der Altlasten am Ende für Deutschland wird, ist noch völlig offen, es wird sich aber mindestens um einen dreistelligen Millionenbetrag handeln. Fest steht, dass die Folgen der Kriege auch in Jahrzehnten noch Wissenschaftler und Bergungsunternehmen beschäftigen werden. Sicher ist auch, dass die Küstenbundesländer die Kosten nicht allein tragen wollen.
Immerhin hat die Ausfahrt zur Kolberger Heide den Politikern das Problem offenbar nachhaltig verdeutlicht. Dort ruhen die Bomben teils in nur sieben Metern Wassertiefe, bei manchen liegt der Sprengstoff bereits frei. »Wir müssen aber jetzt in die umweltverträgliche Bergung einsteigen, denn je länger wir warten, desto komplizierter und teurer wird die Bergung«, sagt Steffi Lemke von den Grünen, die damals an Bord der »Alkor« war. Die Bundesregierung dürfe die Länder nicht weiter im Stich lassen und müsse endlich auch finanzielle Verantwortung für die vollständige Bergung übernehmen, fordert sie.
Immerhin hatten im Umweltausschuss alle Fraktionen ein offenes Ohr für das Thema. Es sei das erste Mal gewesen, dass sich dort alle einige waren, berichten die Geomar-Experten.