Analyse uralter Genome Gestatten, Familie Neandertal

Vor mehr als 50.000 Jahren bewohnten sie Höhlen in Sibirien und jagten Bisons: Fachleute haben erstmals das Erbgut einer Neandertaler-Gruppe untersucht. Dabei konnten sie einen Vater und seine Teenager-Tochter identifizieren.
Animation eines Neandertalers mit Kind

Animation eines Neandertalers mit Kind

Foto: Tom Bjorklund

Forscherinnen und Forschern ist es gelungen, die Genome mehrerer Mitglieder einer Neandertaler-Gruppe zu entschlüsseln. Es seien neue Erkenntnisse über soziale Strukturen und das Familienleben der entfernten Verwandten des modernen Menschen gewonnen worden, heißt es in der Studie, die federführend vom renommierten Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig umgesetzt wurde und im Fachmagazin »Nature«  erschienen ist.

Das Team um die Leipziger Forscher Laurits Skov und Benjamin Peter rekonstruierte aus Knochen und Zähnen die Genome von 13 Neandertalern – sieben männlichen und sechs weiblichen. Elf dieser Männer, Frauen und Kinder lebten vor grob 54.000 Jahren in der Tschagyrskaja-Höhle, die anderen beiden etwas früher in der nahe gelegenen Okladnikow-Höhle.

Auch Svante Pääbo, Direktor des Max-Planck-Instituts in Leipzig, der kürzlich für seine Forschung unter anderem zur Sequenzierung von Neandertaler-Genomen den Nobelpreis für Medizin erhalten hat, war an der Analyse beteiligt. Mehr dazu lesen Sie hier.

Unter den elf nun analysierten Individuen, deren Überreste aus Tschagyrskaja stammen, identifizierte das Team einen Vater und seine jugendliche Tochter. Zudem stießen die Wissenschaftler auf einen acht- bis zwölfjährigen Jungen und eine erwachsene Frau, die Verwandte zweiten Grades waren: Demnach könnte die Frau die Cousine, Tante oder Großmutter des Jungen gewesen sein.

Kleine Gruppengröße, wie beim Menschen

Weitere Analysen deuten darauf hin, dass die untersuchten Individuen die Höhle möglicherweise zur gleichen Zeit bewohnten. Insgesamt belegten die Daten die Vermutung, dass alle elf Tschagyrskaja-Neandertaler Teil derselben Gemeinschaft gewesen seien, schreibt das Team.

Das Besondere an der Studie: »Es ist uns gelungen, Erbgut aus 17 verschiedenen Neandertaler-Überresten zu entnehmen und zu sequenzieren – so viele wie noch nie zuvor im Rahmen einer einzigen Studie«, so die Forscherinnen und Forscher. Zum Vergleich: Zuvor waren insgesamt erst 18 vergleichbare Genomdaten von Neandertalern publiziert worden, und die stammten von 14 verschiedenen Fundstätten.

Weil die untersuchten Individuen eine sehr geringe genetische Vielfalt aufweisen, gehen die Fachleute von einer kleinen Gruppengröße aus. Demnach bestand die Gemeinschaft aus etwa 20 Individuen. Auf eine ähnliche Größe einer Neandertaler-Gruppe waren französische Forscher 2019 durch ein anderes Vorgehen gekommen: Sie hatten in Le Rozel in der Normandie Dutzende Fußabdrücke untersucht  und gingen von 10 bis 13 Individuen aus.

Kleine Gruppen sind auch beim Homo sapiens für traditionelle Jäger und Sammler nicht ungewöhnlich. Die Gruppengröße sei ein Balanceakt und hänge von der Umgebung ab, sagt Jean-Jacques Hublin, emeritierter Direktor am Leipziger Institut und nicht an der Arbeit beteiligt. Gruppen brauchen demnach eine gewisse Mindestgröße, damit sie sicher überleben und eine neue Generation begründen können, andererseits dürfen sie nicht mehr Mitglieder haben, als ernährt werden können. Ohnehin lebten solche Gruppen nicht in völliger Isolation, sondern vermutlich in einer Art Netzwerkverbund mit anderen Gemeinschaften der Umgebung.

Frauen schlossen sich wohl fremden Sippen an

Darauf deutet auch eine weitere Erkenntnis aus der aktuellen Studie hin: Die Forschenden entdeckten bei der Untersuchung der Genome, dass die genetische Vielfalt jener Gene größer ist, die von der Mutter vererbt wurden. »Neandertaler-Gemeinschaften waren also in erster Linie durch die Migration von Frauen genetisch miteinander verbunden«, heißt es von den Fachleuten.

Anders gesagt: Offenbar verließen die Frauen in der Regel ihre Gruppen und schlossen sich fremden Sippen an. Möglicherweise gelten die Erkenntnisse sogar generell für die nächsten Verwandten des Homo sapiens, die von vor etwa 430.000 Jahren bis zu ihrem Aussterben vor etwa 40.000 Jahren Eurasien zwischen der Iberischen Halbinsel und dem Altai-Gebirge bewohnten, vermutet das Fachteam. »Die Männer waren näher miteinander verwandt, die Frauen kamen von außen«, so Hublin.

Hinweise auf eine solche – im Fachjargon patrilokal genannte – Lebensweise hatten schon im Jahr 2010 Forscher nach der Analyse von Funden aus der Höhle El Sidrón in der nordspanischen Region Asturien beschrieben . Allerdings war ihre Interpretation umstritten. Die jetzige Studie stütze die damalige Deutung, schreibt Lara Cassidy vom Trinity College Dublin in einem Kommentar zur aktuellen Studie. Die neue Auswertung böte »den bislang überzeugendsten Beleg für ein solches Verhalten«. Sie spricht mit Blick auf die Analyse von einem »Meilenstein«.

»Lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen«

Das Resultat passe auch zur Sozialstruktur früher Gemeinschaften des Homo sapiens, sagt Hublin. »Es gibt Ausnahmen, aber in den meisten traditionellen menschlichen Gesellschaften haben Frauen eine höhere Mobilität als Männer.« Möglicherweise habe dies hier dazu gedient, mehrere Gruppen miteinander zu verbinden. Und: Inzucht wird so begrenzt. Hublin erklärt, Patrilokalität finde man auch bei unseren engsten Verwandten im Tierreich, den Schimpansen. »Auch dort bleiben die Männchen in jener Gruppe, in die sie geboren wurden«, so Hublin.

»Unsere Studie zeichnet ein ganz konkretes Bild davon, wie eine Neandertaler-Gemeinschaft ausgesehen haben könnte«, sagte Benjamin Peter vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. »Das lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen.«

Wie ähnlich sich Homo sapiens und Homo neanderthalensis wirklich waren, bleibt dennoch offen. »Neandertaler waren komplexe Wesen, aber sie waren wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht anders als wir«, betont der Anthropologe Hublin. »Gerade das macht sie umso faszinierender.« So ist weiterhin auch unklar, ob die neuen Befunde nur für die Bewohner des entlegenen Altai-Gebirges gelten oder für Neandertaler allgemein.

ani/jme/AFP/dpa
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren