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AIDS Neuer Pfad

Bei Nierenverpflanzungen handelten sich die Organempfänger in mehreren Fällen Aids-Infektionen ein. *
aus DER SPIEGEL 30/1986

Die Zeit des qualvollen Wartens war für die 31jährige Patientin im September 1984 vorüber. Berliner Ärzte verpflanzten ihr eine Spenderniere, um sie von der künstlichen Blutwäsche zu befreien. Das fremde Organ erfüllte die ihm zugedachte Aufgabe einwandfrei. Doch acht Monate später hatte die Frau ein neues Problem: Durch die Nierentransplantation hatte sie sich mit Aids-Viren infiziert.

Der Spender des Organs, ein 27jähriger Mann, war an einer Überdosis Heroin gestorben. Offenbar durch verschmutztes Spritzenbesteck war der Erreger (wie bei mittlerweile jedem vierten Drogenabhängigen in der Bundesrepublik) in seine Blutbahn gelangt. Auch bei der Empfängerin der zweiten Niere, einer 48jährigen Berlinerin, wurde die Infektion diagnostiziert.

Das Virus hatte, wie die Mediziner erstaunt feststellten, nicht bei einer der vielen Übertragungen von Blutkonserven die Körpergrenzen übersprungen. Vielmehr hatten kleinste Blutpartikel in den Kapillargefäßen der Spendernieren offenbar ausgereicht, um den Erreger in den fremden Organismus zu schleusen. Zum erstenmal ist damit nachgewiesen, daß die Immunseuche Aids durch Organtransplantationen übertragen werden kann.

Auch in weiteren Fällen benutzte das Virus diesen Weg. So wurden im Dezember 1984 in Berlin und in einer österreichischen Klinik die Nieren einer 31jährigen Frau verpflanzt, die sich bis 1981 Drogen gespritzt hatte. Auch diesmal fielen bei den Empfängern, einem 39jährigen Mann und einer 40jährigen Frau, die Aids-Tests nach acht Monaten positiv aus.

Schon im Januar 1984 hatte sich in Berlin ein 28jähriger Mann die heimtückischen Viren auf dem Operationstisch zugezogen - durch die Niere eines Alkoholtoten, der bis 1982 an der Nadel gehangen hatte.

Daß die Erreger der tödlichen Immunschwäche Aids noch bis vor zwei Jahren praktisch unter den Händen der Transplantations-Chirurgen von einem Körper zum anderen gelangt sind, lag, wie der Berliner Nierenspezialist Hans-Hellmut Neumayer erklärt, am mangelnden »Kenntnisstand der Zeit«.

»Inzwischen«, so Nephrologe Neumayer, seien die Ärzte »vorsichtiger geworden: Seit 1985 werden ausnahmslos alle Spender noch vor der Entnahme von Organen auf Aids getestet. Auch wenn der Erreger dabei nicht nachgewiesen

werden könne, so empfahlen Berliner und Frankfurter Nierenspezialisten vorletzte Woche in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift«, sollten die Angehörigen von Risikogruppen, wie Homosexuelle, Drogenabhängige oder Bluter, als Organspender generell ausgeschlossen werden.

Das Ärzteteam war auf den bislang unbekannten Aids-Pfad gestoßen, als es mehr als 1000 Berliner und Frankfurter Patienten untersuchte, die eine regelmäßige Blutwäsche benötigen oder bei denen in der Vergangenheit Nieren transplantiert worden waren. Ergebnis: Von allen überprüften Nierenkranken hatten sich nur die vier Organempfänger in Berlin angesteckt. Dagegen war es bei keinem der gut 500 Patienten, die sich mehrmals wöchentlich der künstlichen Blutwäsche unterziehen, zur Übertragung gekommen.

Auch für den Ehemann der 31jährigen Berlinerin kamen die inzwischen ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen zu spät. Ein Jahr nach der Operation seiner Frau fanden sich in seinem Blut Aids-Antikörper - er hat sich, wie die Ärzte vermuten, beim Geschlechtsverkehr angesteckt.

Drei der Aids-infizierten Berliner Patienten erhalten seit der Nierenverpflanzung täglich das Medikament Cyclosporin A, ein Immunsuppressivum, das Abstoßungsreaktionen des Körpers gegen, das fremde Organ verhindern soll _(Im vierten Fall mußte die Fremdniere ) _(entfernt, der Kranke wieder an die ) _(künstliche Niere angeschlos sen werden. )

. Mit dem gleichen Mittel hatten Ende 1985 die französischen Mediziner Jean-Marie Andrieu, Philippe Even und Alain Venet für einen internationalen Eklat gesorgt.

Bei einer sensationsgeladenen Pressekonferenz in Paris propagierten sie das Medikament als wirksame Waffe gegen die Immunkrankheit: Unter dem Einfluß von Cyclosporin A, so berichteten sie, habe sich bei den von ihnen behandelten Aids-Kranken die Zahl der sogenannten T-Helferzellen, die bei der Immunabwehr eine entscheidende Rolle spielen, wieder vermehrt. Einem »praktisch im Sterben liegenden« Patienten sei durch die Arzneimitteltherapie das Leben gerettet worden.

Weil nur ganze sechs (todkranke) Patienten mit dem Mittel behandelt worden waren, werteten die internationalen Aids-Experten den angeblichen Durchbruch der Franzosen aber nur als vorschnellen Publicity-Gag.

Von der Öffentlichkeit unbeobachtet und von den Ärzten gar nicht beabsichtigt, läuft der Cyclosporin-Test in Berlin jetzt erneut: »Fast zwei Jahre nach der Nierentransplantation«, so Nephrologe Neumayer, sei die Immunschwäche noch bei keinem der Aids-Infizierten ausgebrochen.

Im vierten Fall mußte die Fremdniere entfernt, der Kranke wieder andie künstliche Niere angeschlos sen werden.

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