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STERBEN Noch mal leben vor dem Tod

Die meisten Ärzte kapitulieren, wenn sie nicht mehr heilen können - zu Unrecht. Die Erfahrung in Hospizen wie dem Berliner Ricam beweist, dass sich das Leiden Todkranker immer besser lindern lässt. Schwerer ist es oft, die Seele des Sterbenden mit dem Tod zu versöhnen.
aus DER SPIEGEL 26/2003

Der Koffer, mit dem Herr Müller seine letzte Reise antritt, ist nicht groß. Er enthält einen Bademantel, Gummipantoffeln und Waschzeug, eine gefaltete Luftaufnahme des Berliner Westhafens (Müllers Arbeitsplatz bis in die achtziger Jahre), ein gerahmtes Dackel-Porträt, einen kleinen Universum-Weltempfänger, etwas Freizeitkleidung. Müller ist zum Sterben hergekommen. Er rechnet nicht mit einem längeren Aufenthalt. »Nächste Woche werde ich 71. Aber dann bin ich wohl schon weg.«

Müllers Hautfarbe ist gelb, sein Krebs breitet sich in rasantem Tempo von der Bauchspeicheldrüse her aus. Immerhin, die Tumoren haben ihm genug Zeit gelassen, seine Angelegenheiten zu regeln. Zu Hause schrie er nachts vor Schmerzen, seine Frau holte dann den Notarzt, aber der wusste oft auch nicht weiter. Hier wird Müller Morphium bekommen, rechtzeitig und genügend. Es wird immer jemand da sein, wenn er Hilfe braucht oder Angst bekommt. In seiner letzten Stunde aber möchte Heinz Müller allein sein. »Damit muss man ja keinen belasten.«

Er bezieht das zweite von 15 Einzelzimmern im Ricam-Hospiz, Berlin-Neukölln. Er packt seinen Koffer aus, stellt seine Straßenschuhe, ein Paar braune Slipper, ordentlich ins Regal. Er wird sie nicht mehr tragen. Für den Augenblick wirkt er erleichtert, fast aufgeräumt.

»Ich hatte Angst, im Krankenhaus hinter der spanischen Wand zu sterben. Die Warteliste ist hier ja lang.« Müller hatte sich das ausgerechnet: In ganz Berlin gibt es 43 Hospizbetten, mindestens doppelt so viele müssten es sein. Und Berlin ist noch gut dran. Eigentlich hat jeder unheilbar Kranke nach dem Sozialgesetz das Anrecht auf einen Hospizplatz, wenn er zu Hause nicht versorgt werden kann, wenn er Schmerzen hat und seine Lebenserwartung nur noch wenige Monate beträgt.

Auf Aids-Kranke, für die vor gut zehn Jahren etliche Hospize gegründet wurden, trifft das zurzeit nur selten zu; neue Medikamente gewähren den meisten von ihnen einen großen Aufschub. Aber 140 000 Krebspatienten leiden in Deutschland jedes Jahr unter oft unerträglichen Tumorschmerzen. Dazu kommen einige tausend Patienten, die an Muskellähmungen oder anderen schweren Krankheiten sterben. So gut wie allen könnte die Medizin heute helfen. Doch die wenigsten Ärzte lernen, Leid zu lindern, wenn es nichts mehr zu heilen gibt. Das ist das Fachgebiet der Palliativmediziner. Doch die können in rund 170 Palliativstationen und Hospizen nur an die 15 000 Menschen versorgen.

Im Ricam bleiben manche Patienten Monate, andere nur einen Tag. Im Schnitt kommt der Tod nach zwei Wochen. Müller glaubt zu wissen, wie viel Zeit ihm bleibt. Sechs Wochen hatte ihm ein Arzt am Tag der Diagnose noch gegeben, fünf davon sind um. »Eine solch präzise Voraussage ist fatal«, sagt Petra Anwar, »kommt aber leider öfter vor.« Anwar ist Ärztin beim Berliner Home Care Projekt, einem ambulanten Team von Palliativmedizinern, das Sterbende zu Hause und im Hospiz betreut. Sie hat Müllers Bauchkrämpfe gelindert und auch den schmerzhaften Dauerschluckauf, der von den Metastasen herrührte.

Eigentlich könnte der Mann nun noch eine Weile ohne allzu große Beschwerden leben. Aber mit der Prognose im Kopf reißt Müller innerlich jeden Tag ein Blatt vom Kalender ab. »Unbewusst arbeitet er auf seinen Tod hin, isst und trinkt kaum noch. Das ist nicht der Krebs, das ist die Psyche.«

Nebenan hilft Schwester Karen Herrn Föge beim Frühstücken. Michael Föge, erster Fahrradbeauftragter der Stadt Berlin, groß, sportlich, redegewandt, hatte im letzten Sommer noch mit 100 Gästen seinen Fünfzigsten gefeiert. Jetzt hat der Hirntumor Föges Sprachzentrum zerstört, seinen rechten Arm und die linke Gesichtshälfte gelähmt. »Ich hätte ihn am liebsten zu Hause behalten, aber dann kamen die ersten epileptischen Anfälle«, sagt seine Frau. »Ich stand hilflos daneben. Heben kann ich ihn auch nicht.«

Der bärtige Mann ringt um Worte. »Theoretisch«, setzt er an, prustet ein paar Mal aufgeregt und greift mit der Linken in die Luft, »theoretisch ...« - weiter kommt er nicht. Da lässt er die Hand sinken und fügt sich den einfachen Ja-Nein-Fragen der Schwester: »Haben Sie Schmerzen? Möchten Sie noch ein Stück Brot?« Auch das Schlucken funktioniert nicht mehr richtig. Ein Käsebrot, dazu einige Orangenschnitze - das dauert fast eine halbe Stunde. »Im Krankenhaus können Sie sich das gar nicht leisten«, sagt Schwester Karen, »im Ricam arbeiten 17 Leute für 15 Patienten.«

In einer Klinik würde man ihn wohl noch in den Computertomografen schieben. Hier gibt die Ärztin Cortison, weil sie vermutet, dass sich das Gewebe um seinen Tumor voll Wasser saugt. Wenn es hilft, weiß sie, dass ihre Vermutung richtig war. Es ist eine hoch qualifizierte Medizin, bei der der Arzt noch seine fünf Sinne braucht, ohne spektakuläres Gerät, dafür aber nahe am Menschen.

Solange Föge noch konnte, hat er nie Auskunft über sein Innenleben erteilt. Jetzt kann er es nicht mehr. »Was wohl in seinem Kopf vorgeht?«, fragt sich seine Frau. Die Musiktherapeutin hatte den Einfall mit dem Armdrücken. Sie hatte Föges gesunde Hand genommen, ihre Kräfte mit den seinen gemessen - ein Dialog ohne Worte. »Ich habe seine Vitalität gespürt. Wir hatten Spaß.«

»So was erleben Sie nicht auf einer normalen Krebsstation«, sagt Dorothea Becker. Lange genug war sie dort Krankenschwester, bevor sie 1998 mit einigen Mitstreitern das Ricam eröffnete. »Sterbehospiz« sagt keiner, der hier arbeitet: »Es ist ein Lebensort. Todkranke können bei uns aufatmen, weil sie ihre Schmerzen loswerden.«

Noch mal leben vor dem Tod - viele können sich das bei ihrer Ankunft nicht vorstellen. Becker erinnert sich an Patienten, die Tabletten im Nachtkasten sammelten, um ihr Leiden jederzeit beenden zu können, falls es ihnen unerträglich würde. »Aber bisher ist immer noch alles da gewesen, wenn jemand gestorben war.« Die meisten Menschen hätten weniger Angst vor dem Sterben, wenn sie solche Erfahrungen teilen könnten, vermutet Becker, »aber sogar viele Ärzte fürchten sich vor Sterbenden«.

Gegen den therapeutischen Nihilismus in Sachen Tod redet und arbeitet Eberhard Klaschik schon seit 1983 an. Damals baute er die erste Palliativstation Deutschlands auf. Heute ist Klaschik Chef der Palliativmedizin im Malteser-Krankenhaus in Bonn und hat einen Lehrstuhl für sein Fach - noch ist es der einzige in Deutschland. Vielleicht spricht der freundliche Mann deshalb so schnell, als hätte er keine Zeit zu verlieren.

»Früher hat man vieles als schicksalhaft hingenommen.« Dass Sterbende schrien vor Schmerz, dass sie erbrachen, dass sie in Angst und Depression versanken - gerade so, als wäre dies der legitime Preis für gelebtes Leben. »Erschien der Tod auf der Bildfläche, wendete sich der Arzt ab. Ich selbst habe als junger Arzt Sterbende ins Badezimmer geschoben. Das gibt es auch heute noch, eine Katastrophe.« Nachvollziehbar, dass die Leute am Ende Angst haben, ihr Leben in die Hände der Mediziner zu legen.

Klaschik versucht es mit Aufklärung: »Seit wir den sterbenden Menschen als Patienten entdeckt haben und seine Symptome erforschen, macht die Medizin enorme Fortschritte. Schmerz ist in der Sterbephase kein relevantes Problem mehr, da können wir sehr gut helfen.«

Schmerzen entstehen, wenn Tumoren Schmerzrezeptoren reizen, zum Beispiel in der Haut, in den Gelenken oder in den Nervenbahnen. Jedes Jahr werden neue Substanzen gefunden, die immer gezielter die verschiedenen Rezeptoren blockieren - je nach Art des Schmerzes als Pflaster, Tabletten, Lutscher, Spritzen oder aus der Morphiumpumpe, einem kleinen Kästchen zum Umhängen. Versagt ein Mittel, hilft sehr wahrscheinlich ein anderes. Auch darüber, wie sie Atemnot und Übelkeit auf ein erträgliches Maß reduzieren können, haben die Mediziner viel herausgefunden. »Ein Patient, dem man das Leiden nimmt, wünscht sich nicht die Todesspritze.«

Doch seit die Niederländer und Belgier beschlossen haben, aktive Sterbehilfe in bestimmten Fällen nicht mehr zu bestrafen, spricht sich auch in Deutschland eine Mehrheit dafür aus. Das schmerzt Klaschik, auch weil er weiß, dass die wenigsten sich wirklich mit dem Sterben beschäftigen wollen. »Nehmen Sie den Fall Diane Pretty": Die Britin, die unter ALS litt, einer fortschreitenden Muskellähmung, versuchte vergebens, sich vor Gericht Beihilfe zum Suizid zu erstreiten. Ein qualvoller Tod durch Ersticken stehe ihr bevor, berichteten die Zeitungen - Leiden bis zum letzten Atemzug. »Tatsächlich aber gleiten gut versorgte ALS-Patienten langsam in ein Koma. Sie sterben friedlich«, erklärt Klaschik. Auch Diane Pretty sei ohne schweres Leiden gestorben, aber das habe kaum noch jemanden interessiert.

Dann führt er noch zwei Zahlen an, die einen verhängnisvollen Zusammenhang nahe legen: 90 Prozent aller Niederländer, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, haben Krebs. Ein Gradmesser für die Qualität der Schmerztherapie für diese Patienten ist der Morphiumverbrauch: Um alle Schmerzen ausreichend zu lindern, müssten die Ärzte 80 Kilogramm pro eine Million Einwohner verschreiben. In Dänemark sind es derzeit 69 Kilogramm, in Frankreich 35, in Deutschland 18, Tendenz steigend, immerhin. In den Niederlanden seit Jahren unverändert: 10 Kilogramm.

Bei seiner Morgenrunde klopft der Küchenchef an der Tür von Gerda Strech, 67. Immer hatte sie einen stählernen Lebenswillen. Der macht ihr jetzt das Sterben schwer.

Gerda Strech bestellt Kartoffelpüree mit Soße. Nach Möglichkeit erfüllt die Küche jeden Wunsch, oft ist das Essen das Einzige, was die Menschen bei Laune hält. Für Frau Strech ist das Essen allerdings schon lange kein Vergnügen mehr; es ist ihre letzte Bastion im Kampf gegen den mächtigen Angreifer. Drei Jahre hat sie sich verzweifelt gewehrt. Noch kann sie es nicht glauben, dass der Krebs nun wie ein böses Tier in ihrem Unterleib wütet und sie um ihren Lebensabend bringt. »Wo doch mein ganzes Leben nur Arbeit war.«

In einer Fabrik montierte sie Teile, zog allein ihre Kinder und Enkel groß. Frau Strechs Tochter ist Altenpflegerin. Mit Hilfe der Ärztin hatte sie die Mutter zu Hause versorgt, so gut sie konnte. Aber nun ist sie ausgebrannt. Voller Entsetzen hatte Gerda Strech geweint und geschrien, als die Ärztin ihr sagte, ein Platz im Hospiz sei für sie frei. Ihrer Tochter hat es fast das Herz zerrissen. Wenn sie jetzt bei der Mutter sitzt, fühlt sie sich wie eine Verräterin. Sie streichelt der Mutter die Hand, weint, doch die wendet den Blick ab, ist untröstlich.

Nur die Volksmusik verschafft ihr noch ein wenig Ablenkung. Als die Mutter mit Kopfhörern vor dem Fernseher sitzt und leise vor sich hin singt, packt die Tochter die Schmutzwäsche zusammen. »Jeden Tag möchte ich ihr sagen, dass ich sie lieb habe, aber ich traue mich nicht. Das wäre wie ein Abschied. Wir haben nie über den Tod sprechen können.«

»Über das eigene Sterben reden heißt: sich nach außen kehren«, hat Petra Anwar, die Ärztin, erfahren. »Wir versuchen, dem Patienten zu helfen, sich rechtzeitig zu öffnen für das, was mit ihm passiert.« Manchmal gelingt es einem Todkranken noch, etwas ins Reine zu bringen, sich zu versöhnen oder zu bedanken: »Ein Mann sagt seiner Frau nach Jahrzehnten zum ersten Mal, dass er sie liebt. Das kommt vor.« Häufiger aber erlebt Anwar Menschen, die ihre Angst nicht überwinden: Verzweifelte, die sich gegenseitig Normalität vorspielen, bis zum Ende. Wie ein bleierner Mantel legt sich die Einsamkeit dann um die Sterbenden. »Die zurückbleiben, schleppen das noch Jahre mit sich rum.«

Angehörige hoffen auf ein letztes, erlösendes Wort, so wie im Kino, aber die wenigsten Sterbenden sagen noch was zum Schluss. Oft verrichtet deren Stoffwechsel, vom Tag der Zeugung an auf Erneuerung programmiert, mit einem Mal das Gegenteil: Wichtige Botenstoffe werden nicht mehr ausgeschüttet, Eiweiß und Fett ab- statt aufgebaut. Jede Nahrung wird zur Last. Nur der Tumor kann noch Kalorien verwerten und wachsen. Der Mensch wird zusehends weniger. Dann ist der letzte bewusstseinsklare Moment schnell verpasst, oft gibt es im Hospiz kein Morgen.

Noch ist unklar, was genau dem Organismus dieses Signal zum Sterben gibt, so als hätte jemand in einem Regelkreis die Stromrichtung umgepolt. Frau Strech ist diesem Punkt sehr nahe. Ihr Körper wehrt sich mit heftigem Erbrechen gegen jeden Löffel Püree, den sie in sich hineinquält. Nicht nur aus dem Magen, auch aus dem Darm zwingt der Körper alles oben hinaus. Sie ekelt sich, sie weint: »Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe, dass es so zu Ende gehen muss.«

Die Ärztin spricht mit Frau Strech darüber, dass es wohl noch schlimmer werden wird, eine Frage von Tagen: »Sie würden sich weniger quälen, wenn Sie nichts mehr essen würden.« Aber das will Gerda Strech auf keinen Fall: »Ich muss doch bei Kräften bleiben.« Dabei fallen ihr immer öfter die Augen zu. »Mutti, schlaf doch«, sagt ihre Tochter dann, »ich bin ja bei dir.« Aber das macht die Mutter nur wütend: »Schlafen kann ich noch genug.«

Am nächsten Tag diagnostiziert Petra Anwar einen Darmverschluss. Frau Strech wird panisch: »Muss es denn wirklich schon sein?« Sie weint. »Ich hab solche Angst. Ich weiß ja nicht, ob ich in den Himmel komme oder zum Teufel.«

Anwar ist bedrückt. Es gibt ein Medikament, das verhindern könnte, dass alles, was Frau Strech im Darm hat, nun die verkehrte Richtung nimmt, ein Hormon. Doch es ist dafür nicht zugelassen. Also weigert sich die Kasse, die Kosten - etwa 40-mal mehr als für die bisherigen Mittel - zu übernehmen. Anwar könnte einen Sonderantrag stellen, doch die Sachbearbeitung würde sehr viel mehr Zeit verschlingen, als Gerda Strech noch zum Leben bleibt. Deren Tochter ist fassungslos: »Wie kann es angehen, dass man einen Menschen am Ende unnötig leiden lässt?« Auch die Ärztin empfindet Wut und Ohnmacht. »0,05 Prozent ihres Jahresetats stecken die Kassen in die Palliativmedizin«, rechnet Anwar vor. Das sind 70 Millionen Euro. Für Hustenlöser gibt es jedes Jahr 100 Millionen.

Die letzten drei, vier Tage sind für alle ein Alptraum. Bis zum Schluss zwingt sich Gerda Strech, wenigstens ein Auge offen zu halten. Erst in den letzten Stunden kapituliert sie. Endlich findet sie Ruhe und schläft im Arm ihrer Tochter ein.

Im Hospiz geht es allen nahe, Sterbende kämpfen zu sehen. »Loslassen ist schwer«, sagt Schwester Sigrid, »das schafft nicht jeder.« Bisweilen lasse sich schon am letzten Reisegepäck ablesen, wie sehr einer seinen nahen Tod verleugnet. »Manche schaffen ihren halben Hausstand heran: Fernsehsessel, Computer, Bilder, Lampen.« Ein Mann unterschrieb im Hospiz den Kaufvertrag für eine Schrankwand. Er starb noch am gleichen Tag.

Eine ganze Reihe von Ritualen haben sie hier entwickelt, um besser mit dem Tod leben zu können. Die Kerzen vor den Sterbezimmern gehören dazu. Auch die Abschiedsfeier, die am Nachmittag stattfindet, ist so ein Ritual. Gemeinsam stehen sie um das Bett einer Verstorbenen, die Musiktherapeutin singt ein Lied zur Gitarre, der Reihe nach entzündet jeder ein Teelicht und verabschiedet sich: »Ich danke Ihnen, dass ich Sie kennen lernen durfte«, sagt Schwester Karen zu der kleinen, toten Frau, die mit ihrem zur Seite geneigten Kopf an einen Vogel mit gebrochenem Genick erinnert. »Und ich wünsche Ihnen, dass Sie Frieden finden, dort, wo Sie jetzt sind.« Manchmal werden auch andere Dinge zum Abschied gesagt: Ich war wütend auf Sie. Ich mochte Ihr Zimmer nicht betreten. Nie konnte ich es Ihnen recht machen.

Aber allen Verarbeitungsversuchen zum Trotz bleibt doch immer irgendwas hängen, hat Schwester Karen festgestellt. »Am Anfang hab ich gedacht, ich hätte gelernt, mit Tod und Sterben umzugehen. Aber dann ist eine Kollegin tödlich verunglückt, und wir alle sind in ein tiefes Loch gefallen. Man denkt, man härtet ab, aber das Gegenteil ist der Fall: Man weicht auf.«

Damit niemand mit seinen Gefühlen allein bleibt, gibt es Workshops mit einer Psychologin. An diesem Nachmittag kündigt der Zettel am Schwarzen Brett das Thema »Ekel« an. Zur rechten Zeit: Seit ein paar Tagen machen sich alle Gedanken über eine neue Patientin mit einer offenen, stinkenden Tumorwunde an der Brust. Außer Homöopathie lehnt die Frau jede Behandlung ab. »Das überfordert uns alle«, ahnt Schwester Karen, »auch weil sie wahrscheinlich schlimm sterben wird.«

Ein schwerer Todeskampf ist glücklicherweise die Ausnahme. Sehr oft geht das Sterben hier undramatisch vonstatten: Der Mensch wird immer schwächer. Die Atmung wird flach, das Blut transportiert nicht mehr genug Sauerstoff, das Denken wird verwirrt. Die meisten Patienten sind längst eingedämmert, wenn ihr Herz stehen bleibt.

Manchmal aber sind Schmerz, Atemnot oder Übelkeit eines Sterbenden doch nicht auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Dann können die Ärzte anbieten, ihn so tief schlafen zu lassen, dass er sein Leid nicht mehr wahrnimmt. »Terminale Sedierung« nennen Palliativmediziner dieses letzte Mittel der Leidenslinderung, das sie nur auf Wunsch von Patienten ergreifen dürfen, deren Sterben schon begonnen hat und deren Lebenszeit nur noch in Tagen zählt. Die Medikamente sind so dosiert, dass sie betäuben, nicht töten. Aber alle nehmen in Kauf, dass der Tod schneller eintreten kann, als Nebenwirkung.

Einen solchen Fall hat Anwar in der letzten Woche erlebt. Bei einer alten Dame war der Tumor am unteren Ende der Speiseröhre aufgebrochen, in stetigem Fluss hatte sie aus dem Mund zu bluten begonnen, bei vollem Bewusstsein. Schon zuvor hatte die Ärztin sie auf diese Möglichkeit vorbereitet. Jetzt bat die Patientin Anwar um die Pumpe mit hoch dosierten Schmerz- und Beruhigungsmitteln. Die Kinder saßen mit am Bett, als die Ärztin die Pumpe anlegte und die Patientin einschlief. Zwei Tage später hörte ihr Herz auf zu schlagen.

»Es ist ein schmerzlicher Weg, auf dem wir dem Kranken keine Illusionen machen dürfen«, sagt Anwar. »Alle sind darüber aufgeklärt, dass sie bald sterben werden. Auch wenn es manche wieder vergessen.« Sie wissen, dass es im Hospiz keine künstliche Beatmung gibt. Keine Reanimation. Nicht einmal weiße Kittel. Aber es gibt für Ärzte, Pfleger und Schwestern auch keine Übersprungshandlungen wie im Krankenhaus: Noch mal einen Röntgenschein ausstellen, noch mal Blut abnehmen, um die eigene Ratlosigkeit zu kaschieren. Stattdessen gibt es Zeit und Zuwendung von Schwestern und Pflegern und von den Ehrenamtlichen, die nachmittags bei Kuchen und Kaffee zuhören oder die Hand halten.

Gute Menschen sind das hier«, findet Roswitha Pacholleck. »Ich genieße jeden Tag, an dem ich noch da bin. Dabei war mein Leben nicht schön.« Vernachlässigt als Kind, aufgegeben in der Schule, nie angekommen im Arbeitsleben, gedemütigt als Ehefrau, enttäuscht als Mutter. »Mich hat nichts mehr gehalten. Seit dem Krebs ist das anders geworden.« Sogar Klavierstunden hat sie noch genommen.

Mager und gebeugt sitzt Frau Pacholleck im Rollstuhl, eine Zigarette in der Linken, mit der Rechten fährt sie sich durchs weich gewordene graue Haar. Aus einem Portemonnaie nestelt sie ihren Schwerbehindertenausweis hervor: »Schauen Sie mal, das war ich.« Ein eckiges Gesicht, das Haar windschnittig nach oben gebürstet. Wie lange das her sein mag? Zehn Jahre? Sie schüttelt den Kopf: »Ein Jahr, wenn überhaupt.«

Sie ist jetzt 47, kräftig war sie nie, aber seit ein paar Wochen rutschen ihr ständig die pinkfarbenen Leggings von den dünnen Oberschenkeln. »Kopf hoch, es wird schon wieder«, hat neulich eine Bekannte gesagt. Das traf sie wie eine Ohrfeige. »Was soll ich mit dieser Heuchelei? Ich weiß doch, dass ich sterben werde.«

In der letzten Nacht haben Schmerzen im Bauch Roswitha Pacholleck daran erinnert, wie nahe sie dem Tod ist. Deswegen kommt jetzt Schwester Karen, um die Morphiumpumpe etwas höher einzustellen, auf 0,9 Milligramm pro Stunde, und erklärt, wie sie selbst eine zusätzliche Dosis abrufen kann, wenn sie den Schmerz kommen spürt.

Bitte morgens die ,Berliner Zeitung'' ins Zimmer!«, steht auf einem Zettel an Michael Lauermanns Tür. Jetzt ist die Ärztin bei ihm. Lauermann ist 57, Manager, Workaholic. Sechs Wochen zuvor erfuhr er von seinem Hirntumor. Seither hat er sich nicht mehr im Spiegel angeschaut. Er ist völlig ausgezehrt, am Hinterkopf zeichnet sich eine Beule ab, eine Knochenmetastase. Metastasen sind auch schon in Lunge und Niere. Aber er hat keine Schmerzen.

»Sie müssen entschuldigen, es geht alles sehr langsam«, sagt Lauermann zu Petra Anwar. Auch seine Motorik ist angegriffen. Er braucht mehrere Versuche, bis es ihm gelingt, seine heruntergeglühte Reval im Aschenbecher abzulegen. Dann schüttelt er Tabakkrümel aus seinem blau-weiß geringelten Frottee-Shirt, während er seine Gedanken ordnet. Lauermann will nicht über den Tod reden, lieber über sein Leben. Wie er es ''68 schaffte, aus der schwäbischen Enge nach Paris zu kommen, zum Studium an die Sorbonne. Baudelaire, Straßenschlachten, Revolution, Frauen. Ein schönes Leben habe er gehabt. Nun schließe sich der Kreis. Er habe keine Angst vor dem, was kommt. »Ich werde schnell sterben«, sagt Lauermann.

Schon wenige Tage später steckt morgens ein Pfleger vor Lauermanns Zimmer eine Kerze an. In der Nacht zuvor hatte Schwester Inge im Halbdunkel bei ihm gesessen, beide hatten geraucht. Inge hatte aufgepasst, dass er sein Bett dabei nicht anzündete. In den letzten Tagen hatte er mit dem Feuerzeug seine Zigarette verfehlt, dann hatten ihn seine Beine plötzlich nicht mehr getragen. Ein Zeichen, dass sich ein Ödem in seinem Gehirn ausbreitete. Anwar hatte Lauermann Cortison dagegen angeboten, aber der hatte nichts gewollt, was sein Leben verlängern würde. Nur Morphium gegen die Schmerzen. Die Metastasen hatten begonnen, aufs Bauchfell zu drücken.

»Es ist komisch«, hatte Lauermann in seiner letzten Nacht gesagt: »Ich warte auf ein Zeichen, dass sich was verändert. Aber immer wenn ich die Augen wieder aufmache, ist alles wie vorher.« »Ich glaube nicht, dass Sie heute Nacht sterben«, erwiderte Schwester Inge. Lauermann ließ den Rauch langsam aus dem Mund hervorquellen: »Ich will, dass es jetzt passiert.«

Am Morgen darauf ist er nicht mehr ansprechbar. Er atmet flach. In immer größeren Abständen schnappt er nach Luft. Dann bleibt sein Atem ganz stehen. Weil Lauermann so abgemagert ist, lässt sich an seiner Halsschlagader ablesen, wie sein Puls beschleunigt, rast, dann immer schwächer wird, schließlich ganz verschwindet.

Bald darauf ziehen Angestellte des Bestattungsunternehmens in schwarzen Anzügen schnellen Schritts seinen Sarg auf Rollengestellen an den anderen Zimmertüren vorbei über den langen Flur mit dem weichen Teppichboden. Immer entsteht dabei ein Geräusch, eine Art Sausen.

Ist jemand gestorben?«, fragt Frau Pacholleck. »Ich hab doch vorhin einen Sarg gehört.« Frau Pacholleck erwartet an diesem Tag selbst Besuch vom Bestatter. Er kommt wenig später im schwarzen Gehrock und hat ein Sortiment von Trauer-Briefpapieren mitgebracht. Etwa 20 Freunde und Verwandte sollen Nachricht von ihrem Tod bekommen, den Brief will sie selbst verfassen. Aus den verschiedenen Motiven in den Klarsichthüllen sucht sie sich eine pastellgrüne Allee aus.

Der Bestatter erkundigt sich: »Haben Sie eine Art Motto, das wir obendrüber setzen könnten?« - »Die Antwort auf alles ist Liebe«, sagt Frau Pacholleck ohne Zögern. »Oder finden Sie das geschwollen?« Sie hat sich mit allen ausgesöhnt, die ihr übel mitgespielt haben, sie ist dankbar für die Achtung und Sympathie, die sie in der letzten Zeit spürt, gerade hier im Hospiz. Der Bestatter hat keine Einwände.

Zur gleichen Zeit registriert Herr Müller missmutig, dass er seinen errechneten Todestag überlebt hat. »Die sechs Wochen sind um. Eigentlich sollte ich tot sein«, sagt er matt. Behutsam faltet er noch einmal die zerschlissene Aufnahme vom Berliner Westhafen auseinander. »Sehen Sie das rote Gebäude? Da war mein Büro.« In der Nacht hat Müller von seiner verstorbenen Mutter geträumt. Dann war er aus dem Bett gefallen, hatte sich an der Augenbraue verletzt. Jetzt kann er im Sitzen das Gleichgewicht nicht mehr halten. Wie in Zeitlupe sinkt sein Oberkörper immer wieder nach links, aber er möchte noch etwas mitteilen: Jahrelang hat er das Paar Halbschuhe aufbewahrt, mit dem seine Mutter das Krankenhaus betreten hatte, in dem sie gestorben war. »Immer vor Weihnachten hab ich die Schuhe rausgeholt und geputzt. Nur in diesem Jahr bin ich nicht dazu gekommen, weil es mir schon zu schlecht ging«, flüstert Müller kaum hörbar. »Ich glaube, sie erwartet mich.«

Eine Schwester bringt Medikamente. Später ist aus seinem Zimmer Hundebellen zu hören. Müllers Frau hat Dackel Seppl mitgebracht, der freudig erregt um Müllers Füße tobt, und ein Fotoalbum: Müller im Garten unter hohen Tannen, Müller mit Siebziger-Jahre-Krawatte vor einem chromblitzenden Renault, Müller beim Dienstjubiläum, Müller in Ungarn. Müller blättert sich durch sein Leben in 9 x 13, seidenmatt, fast schon, als wäre es nicht mehr seins. Der Abschied vom Hund fällt ihm schwer.

Müllers Leber besteht jetzt zu großen Teilen aus Metastasen. Der Körper hat binnen einer Woche seine letzten Fettreserven aufgezehrt und hat bereits damit begonnen, sich selbst zu vergiften. Sein Bewusstsein ist nicht mehr klar. Durch die wächsern-gelbe Gesichtshaut zeichnen sich überdeutlich seine Schädelknochen ab. Einen Tag nach seinem 71. Geburtstag, morgens um acht, stirbt er ganz ruhig. Er ist allein, so wie er es sich gewünscht hat. Im Regal stehen ordentlich seine braunen Slipper.

Ei, Toast, Milchkaffee - eine Stunde hat Roswitha Pacholleck für ihr Frühstück gebraucht. Sie wird immer schwächer, das macht ihr Sorge. »Wenigstens einen Monat noch oder zwei. Das wünsche ich mir.« Sie hangelt sich zum Balkon und beobachtet angestrengt, wie gegenüber in Kaisers Supermarkt die Kunden hinein- und hinausgehen. »Als würden die ewig leben.« Von ihrer Beerdigung hat Frau Pacholleck geträumt, ein Gospelchor sang am Grab. »War ganz angenehm.« Auch vom Sterben hat sie geträumt. »Einmal ging''s ganz leicht, einmal bin ich schwer gestorben.«

An diesem kalten Tag macht Roswitha Pacholleck mit einem schwarzen Strickhut auf dem Kopf noch einen Ausflug mit dem Rollstuhl. Ihr Ziel ist der Wilmersdorfer Friedhof. Dort gibt es eine Allee, die aussieht wie die auf ihrem Briefpapier. »Ist zwar nur eine anonyme Urnenbestattung, aber ich will doch sehen, wo ich in die Erde komme.« Schön soll es dort sein, wünscht sie sich, vor allem die Kapelle. Auf dem Friedhof hat Nieselregen die Wege aufgeweicht, es riecht nach modrigem Laub. »Schade, dass die Sonne nicht scheint«, findet Frau Pacholleck, »sonst wär''s direkt ein schöner Spaziergang, ist ja alles gut gepflegt hier.« Sie erwähnt die Würmer, zündet sich eine Zigarette an, registriert im Vorbeirollen hier und da ein hübsches Grab.

In der runden Aussegnungskapelle lässt sie sich vom Friedhofsbediensteten die Beleuchtung einschalten. Zielstrebig fährt sie durch den Mittelgang nach vorn bis zur ersten Stuhlreihe, schaut prüfend nach rechts und links. Dann rollt sie noch ein Stückchen weiter, ganz langsam, bis ihre Knie fast eine dicke schwarze Kordel berühren. Dahinter steht der leere Sockel für den Sarg. BEATE LAKOTTA

* Die Bilder zeigen die Patienten im Hospiz kurze Zeit vorihrem Tod und unmittelbar danach.

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