Alpen Oliven am Matterhorn
Früher rief der Berg, heute rutscht er. Bei Inzell wälzte sich im August eine Mure aus 70 000 Kubikmetern Schlamm und Geröll ins Tal. In Südtirol wurden Hunderte von Campern evakuiert, sintflutartige Regenfälle hatten ganze Waldhänge herabgespült.
Die Naturkatastrophen im größten Bergmassiv Europas sind womöglich nur Vorboten einer apokalyptischen Entwicklung. Letzte Woche stellten Wissenschaftler der Stiftung Alp Action in Genf ein knapp 200 Seiten starkes Gruselszenario vor. Der Treibhauseffekt, so ihr Fazit, werde mittelfristig das gesamte Ökosystem der Alpen zerstören*.
Die von der Umweltorganisation der Vereinten Nationen unterstützte Studie basiert auf den Computermodellen der Atmosphärenforscher. Danach ist in den nächsten 100 Jahren mit einem globalen Temperaturanstieg zwischen zwei und fünf Grad zu rechnen.
»Nirgends werden die Auswirkungen der Klimaveränderung stärker zu spüren sein als in den Bergen«, warnen die Autoren Sten Nilsson und David Pitt. Sie sehen das 220 000 Quadratkilometer große Gebirge von »Erdbeben«, Gesteinslawinen, Erosionen und »monsunartigen« Niederschlägen bedroht. Bei weiteren Wärmeschüben werde sich die zerklüftete Eisbombe in ein rutschendes, brennendes und zerbröselndes Ungetüm verwandeln.
Bereits ein Grad durchschnittliche Erwärmung, so die Autoren, bewirke ein Heraufklettern der Baumgrenze um 150 Meter. Ströme von Schmelzwasser würden die Hänge herunterspülen. Bei drei Grad Temperaturanstieg glichen »Klima und Vegetation der Alpen bereits dem der Pyrenäen«. Etwa 150 Tier- und Pflanzenarten dürften diesem »Streß« zum Opfer fallen, darunter Enzian und Edelweiß, Steinadler und Alpensalamander.
Auch die Spezies der Skifahrer wäre vom Aussterben bedroht - die Klimaforscher sagen der Tourismusindustrie leere Kassen und »enorme Konsequenzen« voraus: Bei drei Grad Temperaturzuwachs _(* David Pitt, Sten Nilsson: »Mountain ) _(World in Danger«. Earthscan ) _(Publications, London; 196 Seiten; 8,95 ) _(Pfund. ) steigt die Frostgrenze der Alpen von derzeit 1800 auf 2500 Meter an. Schon ein Grad Erwärmung führt dazu, daß der Schnee in den mittleren Lagen um 1500 Meter Höhe doppelt so schnell abschmilzt wie bisher.
Viele Wintersportgebiete werben derzeit mit vier Monaten Dauerfrost und einer Schneedecke von einem Meter Dicke. In Zukunft, warnen die Autoren, müßten sich solche Skiparadiese mit »ein bis zwei Monaten« Verweilzeit der weißen Pracht begnügen.
Schon in den letzten drei Jahren - sie waren allesamt zu warm und brachten wenig Schnee - fuhren viele Wintersport-Fans mit langen Gesichtern holprig-matschige Abfahrten herunter. Wer für den März buchte, versackte selbst in winterfesten Gebieten wie Zermatt oder Arosa bei Talabfahrten im Schlamm.
Über fehlenden Frost klagen auch die Glaziologen. In der Schweiz haben die Gletscher in kaum 100 Jahren ein Drittel ihres Volumens eingebüßt. In Österreich sind seit dem Jahr 1800 insgesamt 25 der Eisriesen von der Landkarte verschwunden. Bis zum Jahr 2050 rechnen Pitt und Nilsson mit einem weiteren dramatischen Schrumpfen um 50 Prozent.
Bisher dienen die Alpen als Wetterscheide zwischen den gemäßigten Zonen und den polaren Kaltfronten. Doch infolge der prognostizierten globalen Erwärmung werden Südwinde immer häufiger ungebremst in die Berge fegen.
Als Ergebnis der Verschiebung rechnen die Autoren mit zunehmend »monsunartigen Tendenzen« in dem bis zu 4800 Meter hohen mitteleuropäischen Gesteinsblock. Langfristig werde sich in den Alpen ein »Mittelmeerklima« durchsetzen, mit langen Trockenzeiten, fast tropischen Unwettern, Wolkenbrüchen und starken Stürmen. Die Grenze des Olivenanbaus, schreiben die Wissenschaftler, könnte in der Nähe des Matterhorns liegen.
Vor allem die heftigen Regenfälle dürften schwerste Schäden verursachen. Im Sommer ist, vor allem in den knochentrockenen inneren Alpen, mit Feuersbrünsten zu rechnen, angefacht von enormen Windböen. Der Windgeschwindigkeitsrekord auf dem Großen Sankt Bernhard (Höhe: 2472 Meter) liegt mittlerweile bei 269 km/h.
Auch die Gesteinslawine von Zermatt deuten die Alp-Action-Forscher als Auftakt für kommendes Unheil. Im Mai waren über dem Mattertal 16 Millionen Kubikmeter Fels abgesplittert und auf die Zahnradbahn gestürzt. Als Grund der Felsexplosion nannte die Untersuchungskommission einen schlagartigen Temperaturanstieg.
Insgesamt rechnen Pitt und Nilsson mit einem starken Rückgang der Niederschläge in den Alpen. In Zukunft sei mit ungewöhnlich warmen Dezembern und kalten, aber niederschlagsfreien Februaren zu rechnen. Bis zum Jahr 2100 würden 75 Prozent der Schneefläche verschwinden. Doch schon »innerhalb 20 bis 30 Jahren« könne der Wintersport »in zahlreichen Regionen zum Erliegen kommen«.
Mit Schneekanonen, Kunsteisbahnen und präparierten Pisten stemmen sich die Kurorte bisher gegen das Desaster. Auch die Politiker sind erwacht. Die Anrainer trafen sich letzten Monat zu einem Alpengipfel. Doch die geplanten »Reparaturen auf dem Dach Europas"(Süddeutsche Zeitung) werden nichts bewirken. Bergstürze und Schlammonstren lassen sich nicht mit schönen Worten aufhalten.
Bei drei Grad Erwärmung des Erdklimas werden selbst auf dem Großglockner (3797 Meter) im Sommer Schmelzflüsse laufen. Der Ausdruck »ewiges Eis« dürfte bald Schnee von gestern sein.
Noch hat das 1543 Meter hoch gelegene Davos 177 Frosttage. Im Jahr 2100 werden es kaum mehr als 100 sein. Die Skiorte unterhalb der 1000-Meter-Höhenmarke wird es noch härter treffen. Sie müssen sich nach Meinung von Pitt und Nilsson bald auf grüne Weihnachten und griesgrämige Apres-Ski-Runden einstellen.
Noch ist der weißen Tourismusbranche eine Atempause vergönnt. Für die Saison 1991/92 haben Meteorologen einen kalten Winter angesagt. Am letzten Wochenende schien sich die Prognose zu bestätigen: Angesagt wurden Schneestürme in den Alpen bis hinab in die Täler. o
* David Pitt, Sten Nilsson: »Mountain World in Danger«. EarthscanPublications, London; 196 Seiten; 8,95 Pfund.