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»Postkutschenfahrt über holpriges Pflaster«

Flugkapitän Rudolf Braunburg über die Probleme der Piloten mit CAT Braunburg, 60, bis 1979 Flugkapitän der Lufthansa, flog fast 25 Jahre lang auf Langstrecken-Routen, zuletzt mit einer DC-10. *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Von allen Wettererscheinungen, denen ich auf den Luftstraßen begegnete, bin ich keiner so respektvoll aus dem Weg gegangen wie den Böen und Turbulenzen. Unter den Störenfrieden, die den ruhigen Flug eines Jumbos in Sekundenschnelle in eine Postkutschenfahrt über holpriges Kopfsteinpflaster verwandeln können, genießt CAT einen besonders schlechten Ruf. Die neckische Abkürzung steht für »clear air turbulence«.

Böenwalzen, starke Auf- und Abwinde, wie sie in Gewitterfronten auftreten, sind leicht durch die Wolkenbildung zu lokalisieren. Doch die Begegnung mit CAT ist von der dritten, unheimlichen Art, weil sie meistens unsichtbar ist. Sie tritt in klarer Luft auf. Nur bei bestimmten Lichtverhältnissen lassen sich die Turbulenzwellen optisch wahrnehmen, ähnlich den Wärmewellen über einer sommerlich erhitzten Asphaltstraße.

CAT tobt sich mit Vorliebe an den Randzonen der Jetstreams aus. Das sind Höhenstürme, deren zerstörerische Gewalt auf der Erde für Schlagzeilen und Sondermeldungen sorgen würde. Ganze Neubauviertel würden durch sie abgedeckt werden. Geschwindigkeiten von 300 Kilometer pro Stunde sind keine Seltenheit.

Allerdings liegt das Flugzeug innerhalb dieser Stürme ruhig wie das sprichwörtliche Brett in der Luft. Es bewegt sich innerhalb dieses vorwärtsrasenden Luftschlauches genauso friedlich wie eine Jacht auf einem schnellfließenden Strom. Führt der Kurs jedoch aus dem Jetstream heraus, gerät das Flugzeug in die turbulenten Randzonen.

Kein Zweifel, daß die Piloten der China Airlines in schwere Turbulenz geraten sind. Ich selbst habe oft schon nach Ausweichmöglichkeiten gesucht, wenn auch nur moderate Turbulenz auftrat. Dabei kann es den Erster-Klasse-Passagieren das Sektglas schon hübsch aus der Hand schlagen oder den Mocca Maroccain über die Hose laufen lassen.

Für den erfahrenen Jet-Piloten gibt es rund um den Erdball Gebiete, wo er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in bestimmten Höhen auf CAT stoßen wird: auf einem New-York-Flug an der amerikanischen Ostküste über dem St.-Lorenz-Golf. Oder auf dem Rückflug frühmorgens bei Annäherung an die irische Küste. Hier knickt der Jetstream mit Vorliebe kraß nach Norden ab. Genau diese Knicks des ansonsten von West nach Ost strömenden Sturms sind die turbulenzhaltigsten Zonen. Doch die stärksten Stürme und Turbulenzen habe ich auf der Nord-Pazifik-Route erlebt, zwischen Tokio und Alaska etwa. Hier konnten wir Geschwindigkeiten von über 400 Kilometer pro Stunde messen. Auch die Route der China Airlines hat streckenweise durch diesen Teil des Pazifik geführt.

Wird die Turbulenz so extrem, daß die Piloten glauben, sie nicht mehr beherrschen zu können, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder einen genehmigten Abstieg auf geringere Höhe oder den sogenannten »emergency descent«, einen Notabstieg, der ein Sturzflug ist.

Normale Abstiege auf eine geringere Höhe sind oft nicht möglich, weil sich dort ebenfalls Flugzeuge befinden und die Flugsicherungskontrolle die Genehmigung nicht erteilen kann. Beim Notabstieg werden alle anderen Flugzeuge von der zuständigen Kontrollstelle aus dem Gebiet verwiesen. Diese sturzflugähnlichen »emergency descents« wurden früher alle halbe Jahre im echten Flugzeug geübt. Ich erinnere mich begeistert an meine echten Sturzflüge in der DC-10 über der Kakteenwüste Arizonas, wenn der Bug fast senkrecht auf die Missionskirche südlich Tucsons gerichtet war.

Vorher wird eine Checkliste verlesen. Ab Mitte der 70er Jahre haben wir diese Stürze nur noch im Simulator absolviert. Beim Sturz auf günstigere Flughöhen dürfen bestimmte Höchstgeschwindigkeiten nicht überschritten werden. Bei bestimmten Flugzeugtypen wird zur Bremswirkung auch das Fahrwerk ausgefahren. Doch für den Jumbo zum Beispiel ist hier nur eine Speed bis 270 Knoten erlaubt. Fährt man das Fahrwerk bei höherer Geschwindigkeit aus, können einem die Fahrwerksverkleidungsbleche um die Ohren fliegen, will sagen: ums Leitwerk.

Ob ein turbulentes Gebiet nur leichte oder extrem schwere Turbulenz aufweisen

wird, läßt sich meteorologisch nicht voraussagen. Ich erinnere mich an einen Flug über den St.-Lorenz-Golf hinweg nach Montreal. Ein Kollege von mir flog 20 Minuten vor mir auf dem gleichen Kurs in der gleichen Höhe. Er meldete extrem schwere Turbulenz und entschloß sich zu einem Notabstieg. Ich bereitete mich auf das Schlimmste vor, ließ alles anschnallen und verstauen. Nichts passierte, der ruhigste Flug des Monats.

Diese Art der Turbulenz ist unvorhersehbar und nicht berechenbar. Großräumige Voraussagen haben für Piloten keinen Wert. Sie gleichen den allabendlichen Nonsens-Voraussagen nach »heute« und »Tagesschau«. Im Raum Schleswig-Holstein oder Oberpfalz mag eine Bedeckung von vier Achteln vorausgesagt werden. Doch welches Haus in Itzehoe oder bei Hof in welcher Minute im Sonnenschein, welches im Schatten liegen wird, läßt sich nie voraussagen. Genau darauf käme es aber für den Piloten an, der von Taipeh nach Kalifornien fliegt: zu wissen, ob die Turbulenz, der er gerade begegnet, nur leicht oder extrem schwer sein wird.

Seit Einführung der ersten Jets auf den interkontinentalen Strecken fordern die Jet-Piloten ein Gerät, das ihnen zuverlässig CAT anzeigt. Inzwischen sind uns Mondlandungen technologisch geglückt, der Weltraumkrieg steht uns bevor. Doch ein Bordgerät zur Früherkennung von CAT ist unseren gloriosen Ingenieuren noch immer nicht gelungen. Ich habe einige dieser Frühwarnsysteme kennengelernt: unbrauchbar.

Während sich viele zweitklassige Magazine mit dem Jubel über die Elektronisierung der Cockpits verausgaben, fragt niemand mehr kritisch nach, was die Piloten denn nun wirklich als Wunsch an die Ingenieure hätten: auf jeden Fall kein vollelektronisch-automatisches Ausschalten des »No smoking«-Zeichens zwei Sekunden nach dem Abheben. CAT-Warnung heißt ihre Forderung.

Rudolf Braunburg
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