
Verschwörungstheoretiker nach Trump Filmriss im QAnon-Universum


QAnon-Anhängerin in New York 2020
Foto:Carlo Allegri / REUTERS
»Wird Q jetzt also zu einem von diesen religiösen Idioten, die immer wieder die Apokalypse vorhersagen?«
Anonymer 4chan-Post nach Joe Bidens Amtseinführung
Der erzählerische Dreh ist, wie die meisten, so alt, dass es einen altgriechischen Begriff dafür gibt: Anagnorisis. Eigentlich heißt das nur »Wiedererkennung«, aber schon in der »Poetik« von Aristoteles ist damit auch in etwa das gemeint, was heute auf Englisch und Internet-Deutsch »Plot Twist« heißt: Eine überraschende Wendung, eine plötzlich auftauchende Information, die alles in einem neuen Licht erscheinen lässt. Darth Vader: »Nein… Ich bin dein Vater.« Ödipus: »Ich bin der Sohn von dem, / von dem ich es nicht durfte, / ich leb mit der zusammen, / mit der ich es nicht durfte.«
Zum Handwerkszeug gehört der Plot Twist im Krimi, und auch das schon seit vielen Jahrhunderten. In einer der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht wird am Ende überraschend eine Leiche in einer vermeintlichen Schatzkiste entdeckt und eine scheinbare Nebenfigur als Mörder enthüllt. Selbst Scheherazade hatte schon Plot Twists drauf.
Das Gegenstück zum Plot Twist ist der Spoiler
Heute ist der Plot Twist so allgegenwärtig, dass es schon fast seltsam wirkt, wenn es mal keinen gibt. Viele sehr erfolgreiche Filme der vergangenen 30 Jahre beziehen ihre Anziehungskraft daraus: Der erste »Matrix«-Film, »Fight Club« »The Sixth Sense«, »The Others«. Die Fernsehserie »Lost« hatte so viele davon, dass selbst hart gesottene Fans irgendwann den Überblick verloren.
Das Gegenstück zum Plot Twist ist der Spoiler, denn natürlich macht »The Matrix« beim ersten Ansehen am meisten Spaß, wenn man (Achtung, Spoiler!) von der Enthüllung, dass Neo das erste Viertel des Films in einem Tank voller Nährlösung verbracht hat, völlig überrascht wird.
Als der sechste »Harry Potter«-Band auf den Markt kam, verabredeten sich Leute auf der heute berüchtigten Bilderplattform 4chan, um anschließend den vor Buchläden anstehenden Fans mit dem in ein Megafon gesprochenen Satz »Snape kills Dumbledore« den Spaß zu verderben. Man kann das als eine Art noch ideologiefreien Testlauf für die Übertragung des Prinzips Troll in die Offline-Welt betrachten. Den Plot Twist schon zu kennen, gibt dem Eingeweihten ein erregendes Gefühl von Überlegenheit – und dem Troll die Gelegenheit, anderen auf billige Weise schlechte Laune zu machen. Solange es nur um ausgedachte Geschichten zur Unterhaltung geht.
Harry Potter, Sendbote der Neuen Weltordnung
Der Plot Twist aus der »Matrix« ist heute auch ein Sprachcode der amerikanischen Alt-Right und der Verschwörungstheoretiker-Szene. Morpheus gibt Neo die Wahl, eine rote oder eine blaue Pille zu schlucken. Die rote holt ihn aus der Matrix in die schreckliche Realität, in der Menschen nur Batterien für die maschinellen Herrscher des Planeten sind. Plot Twist!
»Red-pilled« ist für pseudoironische Internet-Rechtsradikale jemand, der verstanden hat, dass die Welt von dunklen Herrschern im Hintergrund gelenkt wird. »Blue-pilled« sind die doofen »Normies«, die Obama gewählt und das mit der Weltverschwörung noch nicht kapiert haben. Jetzt geht es nicht mehr um Geschichten, jetzt geht es, vermeintlich, um die Realität.
Die Verschwörungstheoretiker von heute, auch hierzulande, halten sich selbst für Eingeweihte. Zwei bis drei Generationen in den USA und Europa haben ihr ganzes Leben als Konsumenten in einer von Plot Twists durchtränkten Medienumwelt verbracht. Kein Wunder also, das manche nun denken, sie könnten die nächste Wendung hier in der Wirklichkeit vorhersehen. Das gibt erstens wieder dieses tolle Überlegenheitsgefühl, nur viel besser, weil es ja um die Realität geht. Und zweitens macht der erwartete Plot Twist in der Verschwörungstheorie diese Geschichte eben so spannend. Man fiebert ihm entgegen.
Das Leben muss doch so sein wie das Kino
Das aus Marketingsicht Clevere an der QAnon-Verschwörungserzählung ist: Der geheimnisvolle Flüsterer »Q«, der, kein Zufall, auf 4chan sein erstes Publikum fand, kündigt jetzt seit Jahren düster dräuend und supergut informiert irgendwelche ganz großen Ereignisse an. Es gibt einen Plot (»Plot« heißt auch Verschwörung!), und der Twist steht immer unmittelbar bevor. Die Vorhersagen treten dann verlässlich nicht ein, aber bislang haben die Gläubigen jedes Mal einen Weg gefunden, das schnell zu vergessen oder wegzuerklären. Man kennt das Prinzip von Weltuntergangssekten.
Gemeint ist immer das Gleiche
Mittlerweile muss »Q«, wer auch immer das sein mag, all das oft gar nicht mehr selbst erledigen: Jeder kann mitmachen beim großen Alternative-Wirklichkeit-Ratespiel QAnon, wie Sascha Lobo hier schon einmal ausgeführt hat. Das gilt sowohl fürs Vorhersagen als auch für das Wegerklären der nicht eintreffenden Vorhersagen.
Es gibt für den sehnsüchtig erwarteten, gewissermaßen finalen Plot Twist bei QAnon mehrere Namen: »The Plan«, »The Storm«, manchmal auch »The Great Awakening«.
Gemeint ist immer das Gleiche: Messias Trump oder seine Helfershelfer werden sich endlich zu erkennen geben, es wird Massenverhaftungen und sogar Massenhinrichtungen geben, die geheime weltumspannende Verschwörung von satanistischen Kinderschändern, die rein zufällig aus Juden, linksliberalen Politikerinnen und Politikern, politisch aktiven Filmstars und so weiter besteht, wird endlich zerschlagen.
Die Kreuze waren verkehrt herum!
Für die Fans dieses ganz großen Plot Twist – auch hierzulande – war die Amtseinführung von Joe Biden ein schwerer Schlag.
Viele sind trotzdem mit neuen Erklärungen für den erneut ausgebliebenen finalen Schlag, für die unerklärliche Tatsache, dass Donald Trump jetzt wirklich nicht mehr Präsident ist, zur Stelle. Biden ist »nur der Präsident von Washington D.C., und das gehört gar nicht zu Amerika«. Biden ist nicht Präsident, weil er den Amtseid nicht um Punkt 12 Uhr Ortszeit ableistete. Die Bibel, auf die Biden schwor, ist gar keine echte Bibel und »die Kreuze waren verkehrt herum« . Biden selbst gehört doch zum Plan , er wird in den nächsten Tagen endlich die Verhaftungen in Gang setzen, damit »the liberals« das leichter schlucken. Und so weiter.
Andere tun sich schwerer mit dem ausgefallenen »Awakening«.
Andere fielen vom Glauben ab
Ein ergrauter YouTuber mit Cowboyhut, der noch in der Nacht zum 20. Januar völlig sicher war, dass es keine Amtsübergabe geben, sondern das Kriegsrecht verhängt werden würde, sagte CNN am Donnerstag über seine Gefühle nach der Amtseinführung Bidens: »Ich stand sozusagen unter Schock. Ich dachte, ich muss jetzt alles neu bewerten, wie mein Leben jetzt weitergehen würde. Weil es sich so sehr von dem unterscheidet, was ich erwartet habe.«
How it started How it's going
— Donie O'Sullivan (@donie) January 21, 2021
We met a Trump supporter in DC yesterday who believed a conspiracy popular among QAnon followers that Trump would stop Biden's inauguration using martial law.
We spoke to him before and after Biden became President...https://t.co/qCi1n0HGWR pic.twitter.com/RCn8nnBAYC
Manche fielen vom Glauben ab – oder drehten durch. Ron Watkins, Sohn des Betreibers des neuen Heims von »Q«, dem noch radikaleren Bilderforum 8kun, erklärte via Telegram, nun, da ein neuer Präsident sein Amt angetreten habe, sei es »unsere Verantwortung als Bürger, die Verfassung zu achten«. Watkins war bislang einer der prominentesten QAnon-Prediger. Ein 8kun-Moderator löschte kurzerhand alle »Q«-Inhalte . In einschlägigen Telegram-Channels beiderseits des Atlantiks streiten sich die Immer-noch-Gläubigen mit den jetzt aber wirklich Desillusionierten: »Vertraut dem Plan!« – »Die Leute lachen uns doch aus.«
Der schlechteste Actionfilm der Welt
Bei 4chan wiederum, an dem Ort, an dem »Plot Twist!!« als Witz ein Dauerbrenner ist, dem Geburtsort von QAnon, schrieb ein offenbar verstörter Nutzer einen seltsamen, mit Alt-Right-Schreckensbildern und antisemitischen Ausfällen gespickten Text mit der Überschrift »Wir stecken im schlechtesten Actionfilm der Welt«.
Er endet mit dem Satz: »Und während ich mich in die Dunkelheit davonschleiche, denke ich mir: ›Das war das letzte Mal, dass ich die Filmkritikseite von Herrn Q besucht habe.‹«