MEDIZIN Rauschhafte Kälte
Wie in einem Alptraum ragt das Schloß in nächtlicher Ödnis auf, mit eingezogener Zugbrücke, die hohen Räume still und finster. Wer den einsamen Bewohner der Burg erreichen will muß vielerlei Mühen auf sich nehmen, schroffe Abweisung darf ihn nicht schrecken.
Bruno Bettelheim, der große amerikanische Kinderpsychiater, war es, der im Sinnbild von der unzugänglichen Bergfestung die Situation von Kindern zu veranschaulichen _(An der University of California in ) _(Los Angeles. )
suchte, die an einer schweren, noch immer rätselhaften Verhaltensstörung leiden - an Autismus.
Auf rund 7000 wird die Zahl autistischer Kinder in der Bundesrepublik geschätzt. Oft schon als Kleinkinder zeigen die Betroffenen jene bizarren Verhaltensanomalien, die Eltern und Umgebung zurückschrecken lassen: Autistische Kinder reagieren nicht auf Ansprache oder Zärtlichkeiten, sie verfallen in stereotype Bewegungen, aber auch in selbstzerstörerisches Schlagen oder Beißen; manche müssen einen Sturzhelm tragen, damit sie sich nicht lebensgefährlich verletzen.
Emotionale Störungen seien die Ursache autistischen Verhaltens, so wurde bisher weithin angenommen. Psychotherapeuten versuchten deshalb, die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Autismus zu mildern - meist mit mäßigem Erfolg; das mysteriöse Leiden blieb unheilbar.
Neuerdings geht die Autismus-Forschung mehr biochemischen und neurologischen Veränderungen nach, die bei autistischen Kindern gefunden wurden, und auch Psychologen erproben neue, unorthodoxe Methoden.
Auf der Suche nach Defekten, die an der krankhaften Abkapselung der Autisten von ihrer Umwelt schuld sein könnten, fanden die Forscher eine Reihe von wichtigen Hinweisen: *___Genetiker ermittelten bei Autismus-Kindern Abweichungen ____in der Struktur des sogenannten X-Chromosoms (das die ____Geschlechtszugehörigkeit bestimmt). *___Extrem hoch war, bei einigen Autisten, der Gehalt an ____bestimmten Antikörpern im Blut - das könnte auf eine ____Infektion im Gehirn als Ursache deuten, aber auch auf ____Attacken durch das körpereigene Immunsystem. *___Hirnforscher stellten bei Autismus-Kindern eine ____Überproduktion von körpereigenen Opiaten fest, die ____offenbar die Wahrnehmungsfähigkeit der Patienten ____beeinträchtigt. *___Neurochemiker fanden im Blut der Kinder überhöhte ____Mengen von Serotonin, einem Botenstoff, der ____Erregungs-Impulse im zentralen Nervensystem ____weiterleitet.
An den Universitätskliniken von Stanford und Los Angeles wird nun versucht, das überschüssige Serotonin mit Hilfe eines Medikaments abzubauen. Die vom Serotonin abhängigen Funktionen, etwa Stimmung, Appetit oder auch Schmerz, könnten auf diese Weise »normalisiert« werden, hoffen die Wissenschaftler. Aber Glen Elliott, Neurochemiker und Psychiater an der Stanford University, schränkte auch ein: »Wahrscheinlich gibt es mehrere organische Ursachen des Autismus.«
Auf eine andere Fährte beispielsweise deuten die im Serum mancher Autismus-Kranken festgestellten hohen Antikörper-Mengen: Die Antikörper könnten sich, so eine Theorie der Stanford-Forscher, gegen bestimmte Schaltstellen im Hirn richten und so die Übertragung von Nervenreizen blockieren.
Daß manche Kinder, die mit etwa einem Jahr bereits zu sprechen begannen diese Fähigkeit wieder verlieren und dann mit etwa drei oder vier Jahren, das für Autisten typische monotone Sprechen beginnen, ließe hingegen auf einen anderen Wirkmechanismus schließen: Eine Infektion unbekannter Ursache könnte, so mutmaßen Elliott und sein Kollege Roland Ciaranello, im frühen Alter das Sprachzentrum geschädigt haben; erst später würde dann in anderen, darauf nicht spezialisierten Bereichen des Gehirns ein neues, deshalb abnormes Sprechen erlernt.
Unterdes halten Genetiker es für wahrscheinlich, daß die Krankheit erblich sein könnte. Defekte am X-Chromosom, das bereits als zweithäufigster Auslöser geistiger Behinderungen nach dem Down-Syndrom ("Mongolismus") gilt, werden jetzt auch für Autismus verantwortlich gemacht.
Der New Yorker Genetiker W. Ted Brown hat bereits einen Test entwickelt, bei dem sich mit Hilfe gentechnischer Verfahren an Fruchtwasserproben feststellen läßt, ob das Erbmaterial des Kindes die typischen abnormen Strukturveränderungen aufweist. Ungeklärt ist allerdings bisher, ob der Fötus nur Träger der autistischen Erbanlage ist oder ob das Kind später wirklich an der Krankheit leiden wird.
Erste praktische Erfolge bei der Therapie autistischer Kinder konnte Barbara Herman melden, Hirnforscherin am Kinderkrankenhaus des National Medical Center in Washington. Gemeinsam mit dem Psychobiologen Jaak Panksepp hatte die Forscherin seit Jahren der Rolle von körpereigenen Opiaten bei der engen Bindung zwischen Mutter und Kind im Tierversuch nachgespürt. Das Wohlbefinden der Kleinen, so fanden die Forscher, wird offenbar von berauschenden Substanzen gespeist, die das Gehirn beim liebevollen Kontakt produziert.
Die Kälte autistischer Kinder, die ihre Eltern keines Blickes würdigen, könnte demnach, so folgerten die Wissenschaftler, auf einen überhöhten Ausstoß von Hirnopiaten zurückgehen - es besteht kein Bedarf für liebende Zuwendung. Um das abweisende Verhalten zu beeinflussen, müßte folgerichtig dem »chemischen Exzeß« im Hirn des Kindes mit einer anderen Substanz begegnet werden.
Die Wissenschaftlerin verabreichte fünf autistischen Kindern den synthetischen Wirkstoff Naloxon, einen Opiat-Gegenspieler, der auch schon bei Heroin- und Morphiumsüchtigen erfolgreich eingesetzt wurde. Naloxon hebt die Folgeerscheinungen der Drogen auf, indem es eben jene Schaltstellen im Gehirn besetzt, über welche die Psychodrogen wirken; das Naloxon selbst hat offenbar keine Wirkung.
Tatsächlich konnte Barbara Herman Veränderungen im Verhalten der Kinder feststellen. Zwar verbesserte sich durch Naloxon nicht das Sprachvermögen, doch alle Kinder zeigten wesentlich seltener die für Autisten charakteristischen wedelnden oder kreiselnden Hand- und Körperbewegungen. Die Eltern berichteten, daß ihre Kinder stärker auf Zuwendung reagierten, mehr Blickkontakt _(An der Stanford University. )
suchten oder auch Umarmungen eher duldeten.
Auch das selbstzerstörerische Gebaren mancher autistischer Kinder konnte, in einer weiteren Studie, durch die Gabe von Naloxon gemildert werden. Autistische Kinder, so die Hypothese der Wissenschaftlerin, empfinden, wenn sie sich stoßen oder schlagen, keinen Schmerz, weil sie sich in einem »Rauschzustand durch Opiate« befinden. Doch einstweilen seien ihre Patientenzahlen noch zu gering, schränkt Barbara Herman ein; umfassendere klinische Studien müßten die Ergebnisse bestätigen.
So bleibt vorerst, darin sind sich die Autismus-Forscher einig, Verhaltenstraining die Hauptstütze der Therapie. Mit Hilfe eines besonders intensiven lang andauernden Übungsprogramms, bei dem die Eltern mitmachen, haben amerikanische Psychologen Fortschritte in der Entwicklung der Kinder erzielen können.
Ivar Lovaas, Psychologe an der University of California in Los Angeles, veröffentlichte jetzt eine Studie über ein Forschungsprojekt, in das 19 autistische Kinder bis zu sechs Jahre lang einbezogen waren. Jedes Kind übte wöchentlich 40 Stunden lang mit einem Therapie-Spezialisten; zu Hause machten die vom Therapeuten angelernten Eltern weiter.
Die schon bei den Dreijährigen begonnene Behandlung sollte das bizarre Verhalten der Kinder dämpfen, ihnen Kontakte verschaffen und sie zur Nachahmung normalen Verhaltens bewegen. Die Methode: »Richtiges« Sprechen oder Handeln wird ausdrücklich gelobt, typisch autistisches Auftreten hingegen ignoriert oder deutlich abgelehnt. Auch kleinere Strafen, etwa ein Klaps, wurden in diesem Programm angewandt - ein Vorgehen, das andere Autismus-Therapeuten strikt ablehnen.
Lovaas und seinen Mitarbeitern gelang es, fast alle Kinder so weit zu normalisieren, daß sie in Kindergärten und später in Schulen mitmachen konnten. Die Lehrer wurden über das vorliegende Leiden nicht informiert, die Behinderung wurde als »Sprachverzögerung« ausgegeben.
Es sei »für autistische Kinder katastrophal«, so Lovaas, wenn sie in Sonderschulen in einer Klasse mit anderen Autisten zusammen sind: »Sie lernen nichts Vernünftiges.« Andere Autismus-Experten halten Lovaas'' Methoden dennoch für fragwürdig: Für die meisten Eltern sei der Aufwand an Zeit, Geld und Energie einfach zu hoch, die anderen Kinder der Familie kämen zu kurz, wendet Eric Schopler ein, Herausgeber des »Journal of Autism and Developmental Disorder«.
Psychologe Lovaas, der zwei Jahrzehnte in die Entwicklung seiner Therapie-Programme investiert hat, läßt sich durch solche Einwände nicht beirren. Er sei jetzt endlich davon überzeugt, sagt der Verhaltens-Lehrer: »Autismus muß nicht mehr chronisch sein.«
An der University of California in Los Angeles.An der Stanford University.