ASTRONOMIE Regen aus Gas
Wer die fremde Welt betreten will, muss sich warm anziehen. Sekundenschnell gefriert der Atem zu Eis. Noch im Hochsommer ist es mindestens dreimal so kalt wie am irdischen Südpol.
Auch einen starken Scheinwerfer sollte der Besucher dabeihaben. Der orangefarbene Nebel verschluckt das ohnehin spärliche Sonnenlicht. Selbst tagsüber wird es dort nur so hell wie bei Kerzenschein.
Doch der Saturnmond Titan hat auch seine angenehmen Seiten. Wegen der weit geringeren Schwerkraft wiegt ein Mensch kaum mehr als ein Dackel. In der dichten Atmosphäre kann deshalb jeder fliegen wie ein Vogel: einfach Flügel umschnallen und abheben - mit der eigenen Muskelkraft.
»Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich wirklich bereits über die Titan-Oberfläche hinweggeflogen«, schwärmt Ralf Jaumann vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR). »So detailreich sind die Daten und Bilder, die uns die 'Cassini'-Sonde zur Erde gefunkt hat.«
Seit fünf Jahren erkundet der europäisch-amerikanische Spähroboter nun schon den Ringplaneten. Und am häufigsten steuert die Raumsonde den größten aller Saturnmonde an. Denn Planetenforscher erinnert die chemische Zusammensetzung der Titan-Atmosphäre an die Verhältnisse auf der jungfräulichen Erde, wo sich vor Jahrmilliarden in einer Ursuppe die ersten Biomoleküle zusammenbrauten. Stellt der Nebelmond also eine zweite Urerde dar?
»Ganz so einfach ist es sicher nicht«, sagt Jaumann, der in Berlin-Adlershof die Auswertung der »Cassini«-Daten leitet. »Auf der anderen Seite ist der Titan unglaublich fremdartig, so ganz anders als unser eigener Planet.«
Mit Hilfe des Infrarotspektrometers von »Cassini« konnte der DLR-Forscher beispielsweise ein Gewässer aufspüren, das aussieht wie der nordamerikanische Ontariosee. Doch in den Titan-See fließt kein Wasser, es schwappen Methan und Ethan darin - flüssig gewordenes Erdgas.
Durch Einsatz einer neuen Messmethode könnte es dem Planetologen bereits in den kommenden Wochen gelingen, auf dem Saturnmond weitere Seen nachzuweisen - und vielleicht sogar ein richtiges Erdgasmeer. Jaumann: »Wir stehen kurz vor dem Durchbruch, wir warten nur noch auf besseres Wetter.«
Fest steht schon jetzt: Wegen der frostigen Temperaturen ist auf dem Titan ein ganz eigener, exotischer Flüssigkeitskreislauf entstanden. Während Wasser dort nur als Eis vorkommt, fallen unablässig Riesentropfen aus Methan und Ethan vom düsteren Himmel. Heftige Regenschauer speisen die eisigen Flüsse und Seen, aus denen die Kohlenwasserstoffe wiederum verdunsten und neue schmutzige Wolken bilden. Überall auf dem Nebelmond dürfte es stinken wie in einer Ölraffinerie.
Nach einer aktuellen Hochrechnung der »Cassini«-Wissenschaftler gibt es auf dem Titan hundertmal mehr kohlenwasserstoffhaltige Brennstoffe als in sämtlichen Öl- und Gasvorkommen der Erde - obwohl er viel kleiner ist. Jaumann: »Wäre der Erdgasmond nicht so weit weg, könnte man glatt auf die Idee kommen, diese gigantischen Vorräte auszubeuten.«
Die spannendste Frage lautet: Haben sich in den Titan-Seen womöglich primitive Lebensformen gebildet? Da Methan oder Ethan chemisch weniger aggressiv sind als Wasser, könnten die außerirdischen Biomoleküle sogar stabiler sein. Gegen die Entstehung von Leben spricht allenfalls, dass die extrem niedrigen Temperaturen komplexe chemische Reaktionen erschweren.
»Zwar haben sich noch keine Titan-Bewohner bemerkbar gemacht«, sagt Jaumann. »Aber die Existenz anaerober Bakterien oder Kleinstlebewesen im Untergrund, wo es wärmer ist, halte ich nicht für ausgeschlossen. Auf dem Titan müssen wir immer mit Überraschungen rechnen.«
Jüngstes Beispiel: Eine Doktorandin aus dem Jaumann-Team hat Mitte September aus den »Cassini«-Daten erstmals eine vollständige Karte potentieller Flusssysteme zusammengestellt. Dabei kam heraus: Es scheint sogar dort Flussbetten zu geben, wo niemand sie vermutet hätte: am Rande von Dünenfeldern in der ausgedörrten Äquatorgegend.
Alles spricht dafür, dass diese Flüsse trockengefallen sind. Doch wie konnte das geschehen? War dies die Folge eines Klimawandels? Und falls ja: Wodurch wurde dieser ausgelöst? »Auf der Erde führten Vulkanausbrüche, Asteroideneinschläge oder auch biologische Prozesse zu drastischen Klimaschwankungen«, erklärt Jaumann. »Nur haben wir bislang keine Hinweise gefunden, dass auf dem Titan etwas Vergleichbares passiert ist; das macht uns ein wenig nervös.«
Am besten ließen sich all die Rätselfragen durch eine bemannte Mission lösen. Doch Astronauten werden wohl erst in sehr ferner Zukunft auf dem wolkenverhangenen Mond landen.
Denn zumindest mit den heutigen Raketen scheint der anderthalb Milliarden Kilometer entfernte Himmelskörper unerreichbar. Wer zum Titan reisen will, müsste sich über sieben Jahre lang in eine enge Kapsel einsperren lassen - und das nur für den Hinflug. OLAF STAMPF