UHREN Rosa Zittern
Es tickt noch ganz richtig bei dem Physiker Robert Vessot in Boston (Massachusetts). »Zu Hause«, erzählt er, »habe ich eine Standuhr aus dem 18. Jahrhundert.«
Als Wissenschaftler aber will er es ganz genau wissen: Im Zentrum für Astrophysik der Harvard University und der Smithsonian Institution, einer staatlichen Forschungsstiftung, entwickelt er mit seinem Team die zuverlässigsten Chronometer der Welt.
Da flackert nicht einmal mehr eine Digitalanzeige. Die wäre unsinnig, denn Vessot bemißt die Ganggenauigkeit seiner Kreationen nicht nach Milli-, Mikro- oder Nano-, sondern nach Picosekunden, Billionsteln der im täglichen Leben gebräuchlichen kleinsten Zeiteinheit.
Auffällig daran ist nur ein neonrosa glimmender Glaskolben, gleichsam die Triebfeder des lautlosen Uhrwerks: Wasserstoff-Atome zittern darin vor Energie.
An einem Eintrag im »Guinness Book of Records« ist Vessot nicht gelegen (er steht auch noch nicht drin). Ihn drängen Forscherkollegen, die -- wenn sie etwa Verschiebungen der Erdkruste, Bahnen von Raumsonden oder Strahlungsimpulse vom äußersten Horizont des Alls messen wollen -- die Zeit gar nicht exakt genug kennen können; und ebenso stellen Militärs immer höhere Anforderungen.
Deshalb veralten sogar diese Atomuhren, so empfindlich sie die gleichmäßig verrinnende Zeit auch bestimmen.
»Als wir in den frühen sechziger Jahren anfingen«, berichtet Vessot, »bastelten wir diese verrückten Maschinen, die eine halbe Tonne wogen und aussahen wie ein Tisch mit einer Mülltonne drauf.« Das erste dieser Wunderwerke, das in 1,7 Millionen Jahren allenfalls eine Sekunde vor- oder nachgegangen wäre, ist nach zwölf Jahren Betrieb seit kurzem in Washington ausgestellt -- als Museumsstück.
Die neuesten Atomuhren aus Boston, Stückpreis 355 000 Dollar, ähneln äußerlich einer Kühlbox. Ihre Abweichung von der wirklichen Zeit entspricht nur mehr »einer Sekunde in 50 Millionen Jahren«, wie Vessot in der US-Wissenschaftszeitschrift »Discover« erläutert, »obwohl wir natürlich nicht erwarten, daß sie so lange laufen«.
Die eigentliche Funktion hat sich indes nicht geändert, seit die Harvard-Physiker Norman Ramsey, Daniel Kleppner und H. Mark Goldenberg 1960 den sogenannten Wasserstoff-Maser entwickelten. Es war für die damalige Technik der Zeitmessung noch einmal ein Fortschritt wie von Peter Henleins Nürnbergisch Ei zur Quarz-Armbanduhr.
Ähnlich wie ein Laser energiereiche Lichtwellen bestimmter Frequenz abstrahlt, erzeugt und verstärkt ein Maser Mikrowellen.
( Maser: Abkürzung für »Microwave ) ( Amplification by Stimulated Emission of ) ( Radiation« (Mikrowellen-Verstärkung ) ( durch angeregte Strahlung). )
Beim Wasserstoff-Maser werden Wasserstoff-Atome durch Radiostrahlung zu starker Schwingung gebracht; dadurch entsteht auch das hellrote Glimmen.
Diejenigen Atome, die eine bestimmte Energie erreicht haben, passieren dann eine Art Schleuse. Etwa zehn Billionen Atome pro Sekunde strömen, jedes rund 12 000 Stundenkilometer schnell, in eine teflonbeschichtete Quarzkammer, prallen wie rasende Billardkugeln zwischen den Kammerwänden hin und her und springen schließlich zurück auf ein niedrigeres Energieniveau.
Dieser Prozeß erzeugt ein an- und abschwellendes Magnetfeld, das wiederum Mikrowellen auf seine Frequenz einstimmt. Damit der Wasserstoff-Maser zur Uhr wird, muß er nur noch mit einem Gerät verbunden werden, das die Schwingungen zählt -- es sind genau 1 420 405 751,68 pro Sekunde.
»Wir sind wie Kunsthandwerker«, sagt einer der US-Experten stolz. »Vier Leute brauchen ein ganzes Jahr, um nur einen Maser herzustellen; allein die Quarzkammer mit Teflon zu beschichten ist Schwarze Magie.«
Bislang hat die Bostoner Gruppe 15 Wasserstoff-Maser-Uhren für Satelliten-Bodenstationen, astronomische Radioteleskope und Forschungslabors in den USA und Europa gebaut. Höchste Präzision ist zum Beispiel vonnöten, seit Raumgefährte immer weiter ins Sonnensystem ausschwärmen.
Als jüngsten Erfolg feierten Vessot und seine Mitarbeiter den sicheren Vorbeiflug von Voyager 1 an den beringten Großplaneten Jupiter und Saturn S.165 mit ihren Trabantensystemen. Auch Voyager 2 wird gegenwärtig auf die Begegnung mit Saturn am 26. August ausgerichtet.
Dafür messen die Bodenstationen in Kalifornien, Spanien und Australien den äußerst geringen Zeitunterschied, mit dem Radiosignale der Sonde ihre Antennen erreichen. Aus dieser Differenz und den bekannten Abständen der Stationen läßt sich die Position der Sonde auch über die Entfernung von derzeit rund 1,3 Milliarden Kilometer noch auf wenige Dutzend Kilometer berechnen.
Selbst Quarzuhren gehen derart unstet, daß damit solche Missionen gefährdet wären. Atomuhren hingegen messen so genau, verdeutlichte der Harvard-Forscher James Moran, »als könnte man von Boston aus die Breite von Präsident Lincolns Nase auf einer Penny-Münze bestimmen, die jemand in San Francisco hochhielte«.
Indem sie den Zeitunterschied eintreffender Signale messen, untersuchen Astronomen weit entfernte Galaxien und andere kosmische Objekte. Eine Umkehrung des Verfahrens erlaubte ihnen wiederum, die Entfernung zweier Radioteleskope in Massachusetts und Kalifornien, die gleichzeitig auf dieselbe Strahlenquelle am Himmel ausgerichtet wurden, mit absurd anmutender Genauigkeit zu bestimmen: auf 3 928 881 677,4 Millimeter.
Einen Nutzeffekt hat das schon. Die kontinentale Scholle Nordamerikas, ergaben wiederholte Messungen, ist in sich stabil.
In Kalifornien jedoch rückten zwei Meßstationen beidseits des San-Andreas-Grabens, einer Bruchzone der Erdkruste, im Laufe von elf Wochen um rund 20 Zentimeter auseinander. Kurz darauf erschütterte ein Erdbeben das Imperial Valley nahe der mexikanischen Grenze.
Physiker Vessot ließ sogar eine nur 40 Kilogramm schwere Atomuhr mit einer Rakete 10 000 Kilometer hoch schießen, um wieder einmal Albert Einsteins Relativitätstheorie zu bestätigen. Tatsächlich -- zeigte das Experiment -- beschleunigt sich der Ablauf der Zeit, wenn das Schwerefeld (in diesem Fall durch Abrücken von der Erde) schwächer wird.
Ein weit ausgespanntes Netz von Atomuhren, meint Vessot, könnte auch die laut Einstein existierenden Schwerkraftwellen aufspüren, nach denen die Forscher bisher vergeblich suchten. Allerdings müßte eine Meßsonde etwa in Entfernung des Jupiter stationiert werden -- ein Vorhaben für das nächste Jahrzehnt.
Im militärischen Bereich werden ultragenaue Zeitgeber schon bald in großem Umfang eingesetzt. So wollen die USA damit geheime Daten kodieren und auch Sprache, etwa gefunkte Kommandos, verschlüsseln.
Zudem plant die US-Marine das Projekt »Navstar«. Dieses Satelliten-Navigationssystem soll Schiffen, Flugzeugen und Landfahrzeugen und selbst Stoßtrupps mit geeignetem Empfangsgerät erlauben, ihre Position, wo immer sie sind, auf wenige Meter genau zu bestimmen.
Atomzeit regiert freilich auch lange schon das zivile Leben. Bis in die Silvesternacht 1971 war die Sekunde ein Teil von Jahr, Tag, Stunde und Minute. Seither gelten diese Einheiten als Vielfaches der Sekunde -- und die ist offiziell definiert durch 9 192 631 770 Schwingungen des elektromagnetisch angeregten Cäsium-Atoms.
Weil die Erde nicht so gleichmäßig rotiert, wie die Atomuhren laufen, mußten inzwischen neun »Schaltsekunden« eingelegt werden. Nur 1980 drehte sich der Globus aus bislang unerfindlichen Gründen ein wenig schneller -- die zusätzliche Sekunde fiel zu Neujahr aus und wird nun erst am Mittwoch dieser Woche um 2 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (... 58, 59, 60, 00, 01 ...) gezählt.
Alle Länder richten sich dabei nach einem Standard des Internationalen Zeit-Büros in Paris. In der Bundesrepublik verbreitet das Atomuhrenzentrum der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig diesen Gleichtakt weiter. Das amtliche Zeitsignal kommt über Langwellensender DCF 77 auf 77,5 Kilohertz. Die Uhren von Fernsehen und Bundesbahn hingegen werden vom Deutschen Hydrographischen Institut in Hamburg gesteuert, das mittels astronomischer Beobachtungen auch feststellt, wann eine Schaltsekunde fällig wird.
Das Zeichen der Zeit ist bis in die bewahrte Idylle gedrungen. Wenn etwa die vergoldeten, 3,30 und 2,91 Meter langen Zeiger der Uhr am Rathausturm in Regensburg weisen, was die Stunde geschlagen hat, gehen alle anderen Turmuhren der Stadt synchron mit.
Da schwingt nirgends im Gebälk noch ein Pendel, muß kein Glöckner mehr Treppen steigen und aus Leibeskraft Gewichte hochziehen. Gesteuert werden die spätgotischen bis modernistischen Uhren zentral von einem schuhkartongroßen Plastikkasten -dem Empfänger für die Braunschweiger Atomzeit.
Vater und Sohn Georg Rauscher, die in Regensburg eine Turmuhrenfabrik betreiben und Ziffern, Blätter und Zeiger im Stil aller vergangenen Epochen fertigen, sind mit der neuen Technik zufrieden: »Eine saubere Sache.«
S.164Maser: Abkürzung für »Microwave Amplification by Stimulated Emissionof Radiation« (Mikrowellen-Verstärkung durch angeregte Strahlung).*