Rückblick 2009
SPORTWISSENSCHAFT
Mannfrau auf der Laufbahn
Sie kam, sah, siegte - und ging doch schwer gedemütigt. Die Südafrikanerin Caster Semenya erkämpfte im August die Goldmedaille über 800 Meter bei der Leichtathletik-WM in Berlin. Doch aus dem Triumph wurde eine diplomatische Krise. Ist Semenya Frau oder Mann? Die Wissenschaft tut sich mit der Antwort schwer. Die 18-Jährige ist aufgewachsen als Frau, doch wer ihre Stimme hört und ihren Gang sieht, meint, einen Mann vor sich zu haben. Medien weltweit spekulierten über erhöhte Testosteron-Werte und eine fehlende Gebärmutter. Der Internationale Leichtathletikverband IAAF hat immer noch keine klaren Regeln, wie mit Zwittern umzugehen ist. Dabei ist das Problem nicht neu. Männer mit Eierstöcken, Frauen mit Penis: Immer wieder tauchen solche Fälle auf. Die spanische Hürdenläuferin María Martínez Patiño zum Beispiel sieht weiblich aus, doch ihr Chromosomensatz ist männlich. Als das 1986 herauskam, wurde sie gesperrt. Doch weil ihr Körper relativ unempfindlich gegen das muskelbildende Testosteron ist, wurde sie ein paar Jahre später doch wieder zu Frauenwettkämpfen zugelassen. Im Fall Semenya drückt sich die IAAF noch immer um eine Antwort.
ANTHROPOLOGIE
»Lucys« Uroma
Am 1. Oktober betrat eine Prominente neuer Art die Weltbühne: »Ardi«. Besondere Merkmale: 1,20 Meter klein, 50 Kilogramm leicht, stämmiger Körper, lange Arme, äffisches Gesicht. 4,4 Millionen Jahre lang musste »Ardi« warten, bis sie Berühmtheit erlangte. Genauer: ihre sterblichen Überreste, darunter Beckenknochen, Zahnreste und Schädelfragmente, gefunden in einer kargen Steinwüste Äthiopiens. Mit offiziellem Namen heißt sie ARA-VP-6/500 und ist eine Vertreterin der Art Ardipithecus ramidus. Sie gilt als ältester Vorfahr des Menschen und damit gleichsam als Uroma des berühmten Vormenschfossils »Lucy«, das 1974 nur wenige Kilometer entfernt gefunden worden war. »Ardi« lebte 1,2 Millionen Jahre früher als »Lucy« - umso verblüffender, dass auch sie offenbar schon aufrecht ging. 17 Jahre lang buddelte und bastelte ein riesiges Forscherteam, scannte Knochensplitter ein, setzte sie zu Computermodellen zusammen, verwarf und korrigierte. Schließlich entwarfen sie im Fachblatt »Science« ein Gruppenbild mit Dame von der vormenschlichen Urgesellschaft: »Ardi« und ihre Sippe lebten demnach in einem lichten Bergwald, den sie sich mit Stachelschweinen, Urpferden und Elefanten teilten. Sie konnten nicht nur leidlich laufen, sondern auch gut klettern. Und sie waren überraschend friedfertig: Ihre Eckzähne sind zu klein, als dass sie sich für Rivalen- und Revierkämpfe geeignet hätten.
ELEKTRONIK
Das große Kabbeln
Ein jeder wildere im Garten des anderen. Nach diesem Motto verhält sich derzeit die Hightech-Branche. Konvergenz heißt hier das Zauberwort: Handys, Musikspieler und Internetgeräte verschmelzen. Erstaunlich diverse Branchen treten damit plötzlich in Konkurrenz zueinander: Buchhändler, Handy-Hersteller und Suchmaschinenbetreiber. Nokia und Sony Ericsson zum Beispiel verlassen das reine Handy-Geschäft und bieten eigene Musikportale. Google wiederum kann angesichts des iPhone-Erfolgs nicht widerstehen: Der Suchmaschinenriese bietet jetzt nicht nur ein spezielles Portal für Musik an, sondern auch ein Betriebssystem für Mobiltelefone namens Android. Bald soll sogar ein Google-Telefon dazukommen. Auch der Internethändler Amazon will bei der Musik mitverdienen und lockt mit Schnäppchenpreisen für Downloads. Die Firma fährt trotz der Krise Rekordgewinne ein, vor allem durch den Verkauf des Lesegeräts Kindle, das in der neuen Version wie ein Handy mit dem Funknetz verbunden ist. Außerdem kann es Musikdateien abspielen.
TEILCHENFORSCHUNG
Rennsport der Physiker
Nach einem Fehlstart aus der Pole-Position holt das Team auf und liegt nun wieder in Führung. Ein Hauch von Formel 1 umgibt das Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf mit seinem Geschwindigkeitsrausch im Reich der Materieteilchen, die auf einem 27 Kilometer langen Rundkurs im Kreis rasen, fast so schnell wie Licht. Nach technischen Pannen 2008 musste der Large Hadron Collider noch einmal in die Werkstatt. Seit November dieses Jahres ist er wieder im Rennen und fuhr prompt einen Rekord ein: Er beschleunigte Protonen auf eine Energie von 1,18 Tera-Elektronenvolt (TeV) und überrundet damit die Konkurrenz, das Fermilab bei Chicago, dessen Teilchenschleuder es bisher nur auf 0,98 TeV brachte. Aber Geschwindigkeit ist nicht alles, bei Physikern geht es auch um Präzision - und Glück: Wer findet das Higgs-Boson, das sogenannte Gottesteilchen, das angeblich allen Gegenständen ihre Masse verleihen soll? Sollte keines der Teams durch die Ziellinie gehen, könnten sie sich in eine Sackgasse manövrieren: Aus Physik würde dann Metaphysik. Damit es dazu nicht kommt, soll das Rennen 2010 in den Endspurt gehen, das Cern zündet irgendwann den Turbo mit 7 TeV - wenn nicht wieder ein Getriebeschaden dazwischenkommt.
MEDIZIN
Schwächelnde Grippe
Im Nachhinein haben es viele schon vorher gewusst: Die Schweinegrippe verläuft 2009 milder, als von vielen Experten zunächst befürchtet. Der Virenstamm H1N1 kostete bis Mitte Dezember in Deutschland 119 Menschen das Leben - das entspricht in etwa einem Prozent der Opfer einer herkömmlichen Grippewelle. Über 40 Millionen Impfdosen, von den Behörden bestellt, drohen zu verfallen. Einen der »größten Medizinskandale des Jahrhunderts« vermuten Kritiker wie der Arzt und ehemalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg (SPD). Er wirft der Weltgesundheitsorganisation in Genf »Panikmache« vor, sie hätte »unnötigerweise Millionen gesunder Menschen dem Risiko mangelhaft getesteter Impfstoffe ausgesetzt«. Doch beim Risiko der Vakzine gehen die Expertenmeinungen auseinander. In Schweden etwa, wo die Impfquote bei 50 Prozent liegt (sechsmal höher als in Deutschland), wurden sogar 100 000 Kleinkinder geimpft, bislang ohne große Probleme. Wer also schürt hier Panik: die Impfer, die Impfmuffel - oder beide? Das lässt sich frühestens im April sagen: Dann ist die Influenza-Saison vorbei.
EHRUNGEN
Weibliches Rekordjahr in Stockholm
Ist der Nobelpreis bald fest in weiblicher Hand, sind Frackträger beim Bankett in Stockholm und Oslo bald nur noch für das Auftragen der Speisen zuständig? Fünf Frauen bekamen im Dezember in Stockholm ihre Nobelpreis-Urkunden überreicht. Das gab es noch nie. Neben der rumänischstämmigen Schriftstellerin Herta Müller, 56, wurden diesmal auffallend viele Forscherinnen geehrt: Der Nobelpreis für Medizin ging unter anderem an Elizabeth Blackburn, 61, und ihre ehemalige Mitarbeiterin Carol Greider, 48, beide aus den USA. Den Preis für Chemie teilte sich die Israelin Ada Yonath, 70, mit zwei männlichen Kollegen. Auch in der Kategorie Wirtschaftswissenschaften wurde erstmals seit Einführung des Preises vor 40 Jahren eine Forscherin geehrt: Elinor Ostrom, 76, aus den USA. Auf einen Schlag liegt damit der Frauenanteil in den Wirtschaftswissenschaften mit 1,6 Prozent über demjenigen der Physik (1,1 Prozent). Davon, die Hälfte des Forscherhimmels zu erobern, sind die Frauen noch weit entfernt. Von den insgesamt 806 Preisträgern seit 1901 stellten sie ganze 41. Tiefpunkt waren die fünfziger Jahre, in denen kein einziger Preisträger weiblich war. Seit 2001 dagegen kommen Frauen im Schnitt immerhin auf 10,4 Prozent. Doch selbst im Rekordjahr 2009 (Frauenanteil: 38,5 Prozent) standen die fünf Preisträgerinnen acht Männern gegenüber.