Zur Ausgabe
Artikel 72 / 88

LUFTFAHRT Sarg geschrammt

Die Flugsicherungs-Experten rätseln über das Beinahe-Desaster eines Jumbos, der nach einem mysteriösen 10 000-Meter-Sturzflug mit schweren Schäden landen konnte. *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Bis das Schreckliche geschah, war der elend lange Trip von Taiwan ein Flug wie jeder andere gewesen. 272 Seelen waren an Bord der Boeing 747 SP, Flug 006 der China Airlines mit Flugziel Los Angeles, gerade war Frühstück serviert worden - noch eine Flugstunde bis zur Küste Kaliforniens.

Passagier Seksan Caniyo sah sich plötzlich an erhitzte Maiskörner erinnert, wie er später aussagte: »Die Leute flippten hoch wie Popcorn.« Unvermittelt war der vierstrahlige Jumbo aus der Reiseflughöhe von 12 700 Metern in einen schier endlosen Sturzflug übergegangen, mit heftigen Torkelbewegungen nach links. Mehr als 50 Passagiere, nicht angeschnallt, wurden gegen die Decke oder gegen die Plastikwände des Flugzeugs geschleudert.

»Es ist aus, dachte ich, als ich durchs Fenster die See so rasend schnell näherkommen sah«, bekundete Passagier Harold Chom. Noch mehr Entsetzen ergriff die Fluggäste, als sie bemerkten, daß die Triebwerke verstummt waren.

Erst in 2700 Meter Höhe - ganze 36 Sekunden trennten die Maschine noch vom Aufprall - konnten die Piloten die Turbinen wieder zünden und ihr Flugzeug unter Kontrolle bringen. Nach der Notlandung im 800 Kilometer entfernten San Francisco, bei der etliche Passagiere in Ohnmacht fielen, offenbarte sich den erschrockenen Experten der Flugsicherung, daß dem chinesischen Flugkapitän mit der Landung ein Meisterstück gelungen war.

Das Flugzeug war verkrüppelt wie ein aus schwerem Abwehrfeuer heimgekehrter Bomber des Zweiten Weltkriegs, riesige Stücke des Höhenleitwerks waren abgefetzt, die Klappen des Rumpffahrwerks wie abrasiert, irgendwo im Pazifischen Ozean versunken. Wenn jemals

bewiesen wurde, was ein modernes Großflugzeug vertragen kann, dann hier, letzte Woche vor San Francisco.

Unverzüglich machten sich die Unfalluntersucher der amerikanischen Zivilluftfahrtbehörde FAA an die Arbeit. Doch blieb bis zum Wochenende ungeklärt, was wohl - am Tage des Desasters der Iberia-Boeing bei Bilbao mit 148 Toten - beinahe den Absturz des Jumbos aus Taiwan herbeigeführt hätte.

Aus dem Funksprechverkehr mit den Flugsicherern und den Aussagen der Besatzung ergab sich zweifelsfrei: Zunächst war nur eines der vier Triebwerke ausgefallen - womöglich durch ein verstopftes Kraftstoffilter, weil in der bis zu 60 Minusgraden kalten Reiseflughöhe Paraffinbestandteile »ausflocken« können. Zu den Schwierigkeiten bis hin zu einem minutenlangen unkontrollierten Flugzustand kam es aber erst, als sich die Besatzung an den nunmehr gebotenen Abstieg in dichtere Luftschichten machte - die Turbinen arbeiten in der Dünnluft nahe ihrer »Dienstgipfelhöhe« an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.

Die schweren Scherwind-Turbulenzen, in die das Flugzeug nun unversehens geriet, beutelten einen Jumbo-Typ, der nervöser reagiert als die herkömmliche Boeing 747. Das Modell mit dem Zusatz »SP« ist kürzer gebaut, wiegt weniger, hat mithin ein günstigeres Leistungsgewicht, kann höher steigen, verbraucht weniger und hat eine größere Reichweite als die normale Langbauch-Version.

Als eine Art Rennwagen der Lüfte hat sie jedoch einen geringeren Manövrier-Spielraum: Fliegt sie zu langsam, droht der gefürchtete Strömungsabriß ("Stall"), fliegt sie zu schnell, droht eine ähnliche, von Schüttelerscheinungen begleitete Gefahr - früher jedenfalls als beim Normaltyp. Piloten nennen diesen engen Spielraum hart an der zulässigen Flughöhe »Coffin's Corner« (wörtlich übersetzt: Sarg-Ecke), weil sie dort schon mal eher hart am Tode vorbeischrammen.

Aus dieser Höhenlage tauchte das Flugzeug über die linke Fläche steil ab und verlor dabei zeitweilig auch noch den Antrieb der restlichen drei Turbinen - vielleicht durch Strömungsabriß in den Triebwerken. Dazu kann es kommen, wenn der Luftstrom, wie beim Taumelflug denkbar, plötzlich schräg auf die jeweils 38 aerodynamisch geformten Schaufelblätter der vorderen Kompressorstufen trifft.

Vollends unklar blieb, wie es zu den Schäden am Höhenleitwerk kam. Hat der Pilot das beim Notabstieg durchaus übliche Verfahren, durch Ausfahren des Fahrwerks das Flugzeug zu »bremsen«, bei zu hoher Geschwindigkeit riskiert? Dann nämlich reißen die aerodynamisch besonders belasteten Rumpffahrwercklappen ab und fetzen in das Leitwerk. Der Pilot allerdings beteuert, er habe die Räder nicht ausgefahren.

Noch ein weiteres verdächtiges Detail entdeckten die FAA-Spezialisten: eine beschädigte Flügelklappe an der linken Tragfläche, an jener Seite, über die das Flugzeug zunächst abgekippt war. Das aber erinnerte fatal an ein früheres, ganz ähnlich verlaufenes Beinahe-Unglück.

Eine beschädigte, teils abgebrochene Flügelklappe hatten die Unfall-Experten auch bei einer Boeing 727 der US-Fluggesellschaft »Trans World Airlines« festgestellt. Die Maschine war am 4. April 1979 über dem Michigansee plötzlich in einer steilen Spirale aus 12 000 Meter vom Himmel gestürzt. Als der Pilot sie abfing, flog sie nur noch 1500 Meter über dem Wasser.

Zur Ausgabe
Artikel 72 / 88
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren