PSYCHOANALYSE Schamlos verunstaltet
Alles ist da, nur ich nicht«, murmelte der greise, todkranke Sigmund Freud, als er im September 1938 zum erstenmal sein neues Arbeitszimmer im Londoner Exil betrat.
Freuds Haushälterin, die treue Perle Paula Fichtl, die dem innig verehrten »Herrn Professor« in die Emigration gefolgt war, hatte ein kleines Wunder vollbracht. Es war ihr gelungen, das Londoner Studio Freuds exakt so einzurichten wie das Originalzimmer in der Wiener Berggasse 19, wo der Ur-Analytiker 47 Jahre hindurch gelesen, nachgedacht, geschrieben und seine Patienten behandelt hatte.
Gegen Zahlung einer »Reichsfluchtsteuer« in Höhe von rund 16 000 Reichsmark war es dem Juden Freud im Juni 1938 erlaubt worden, sein ins Nazi-Reich heimgeholtes Vaterland zu verlassen. Zu diesem Preis hatte der weltberühmte Seelenforscher seine komplette Wohnungseinrichtung, die Bibliothek und auch seine 300teilige Sammlung antiker Statuetten mitnehmen dürfen.
»Ich kann die Gestapo jedermann empfehlen«, schrieb er vor der Ausreise mit grimmiger Ironie unter einen Revers, in dem er bestätigen sollte, er sei daheim keinerlei Repressionen ausgesetzt gewesen. In London bezog der Emigrant - gemeinsam mit Ehefrau Martha, Tochter Anna, der Schwägerin Minna Bernays und Paula Fichtl - eine freundliche Villa im Edwardian Queen-Anne-Stil, die sich von der engen und düsteren Etagenwohnung in der Wiener Berggasse vorteilhaft abhob. Er sei »geneigt, 'Heil Hitler' zu rufen«, scherzte Freud nach seiner Ankunft in London.
Nur ein Jahr lebte der seit langem an Kieferkrebs leidende Freud in der schmucken Backsteinvilla, 20 Maresfield Gardens; am 23. September 1939 starb der 83jährige an einer Überdosis Morphium, die er sich, vom Schmerz zermürbt, von seinem gleichfalls aus Wien emigrierten Hausarzt Max Schur erbeten hatte. Danach, bis zu ihrem Tod im Jahre 1982, wohnte Freuds Tochter Anna in dem zweistöckigen Anwesen, das insgesamt 18 Zimmer und sogar einen kleinen Personenfahrstuhl birgt.
Nun, am Montag nächster Woche, soll in der Villa im stillen Londoner Stadtteil Hampstead ein Freud-Museum eröffnet werden. Rund zwei Millionen Dollar wurden aufgewendet, die letzte Station auf dem langen Lebensweg Freuds zu sanieren und umzugestalten.
»Wir mußten«, klagt der federführende Architekt Lionel Sturgess, »außer den Möbeln erst einmal fünf Container voll Trödelkram auslagern, bevor wir mit den Umbauten beginnen konnten« - die waren durchgreifend: Eine Zentralheizung und eine hochsensible Alarmanlage wurden eingebaut, die Sprossenfenster mit Isolierglasscheiben und doppelten Scherengittern verunstaltet. Die Türen bekamen moderne Klinken und zeitgemäße Sicherheitsschlösser, eine gedeckte Terrasse wurde im Telephonzellenstil verglast, der Fußboden einheitlich mit hellbrauner Teppichware ausgelegt - und nachts soll das Sammelsurium der Stilbrüche noch angestrahlt werden.
Den wenigen Überlebenden aus dem Freundeskreis Freuds, die das modernisierte Heim des Wiener Seelenforschers bislang zu Gesicht bekamen, sträubten sich die Haare; vom plüschigen, überladenen Ambiente, in dem Freud - sonderbarer Kontrast - seine kristallklare Prosa verfaßt hatte, war kaum mehr eine Spur geblieben. »Nicht wiederzuerkennen, schamlos verunstaltet«, jammerte eine Freundin Anna Freuds.
Tatsächlich sind nur zwei Räume der Villa, Freuds Arbeitszimmer und die Bibliothek, vom Schaffensdrang der Museumsgründer verschont geblieben. Ansonsten haben die Neuerer das Haus gründlich umgebaut und das Mobiliar - alte oberösterreichische Bauernschränke und Truhen - nach Gusto in den indirekt beleuchteten Zimmern verteilt.
Museumsdirektor David L. Newlands, 48, Kanadier, ist gleichwohl begeistert vom Ergebnis der Renovierungsarbeiten. Newlands und seine Stellvertreterin Karen Booth, gleichfalls aus Kanada, möchten den »heutigen Ansprüchen von Museumsbesuchern gerecht werden« und auf möglichst einprägsame Art belehrend wirken - auf »Oberschulniveau«, wie sie arglos erklären. Das Museum soll, über Reisebüros angepriesen, zur Touristen-Attraktion werden.
Mit Freud und seiner labyrinthischen Seelenlehre hatten die beiden Museumsleiter bis vor kurzem nichts im Sinn. Newlands hat zuvor in Afrika in einigen Naturkunde-Museen, Karen Booth im kanadischen Vancouver in einem Meereskunde-Museum gearbeitet: Was, so fragen sich verstörte Freud-Verehrer, qualifiziert die beiden für den Job im Analytiker-Ashram?
Daß ausgerechnet zwei Analyse-Ignoranten die Londoner Freud-Gedenkstätte hüten sollen, hat womöglich mit einem Schock zu tun, der die psychoanalytische Weltgemeinschaft vor ein paar Jahren schwer erschüttert hatte. Ein Außenseiter namens Jeffrey Masson, vormals Sanskrit-Professor, hatte sich damals in die fest geschlossenen Reihen der rechtgläubigen Analytiker eingeschlichen und war, wie ein Wolf im Schafspelz, über die Herde der orthodoxen Freud-Adepten hergefallen.
Masson, offenbar ausgestattet mit einem geradezu verheerenden Charme, behexte mit Eloquenz und Chuzpe die greisen Gralshüter der reinen Lehre Freuds, darunter den Freud-Schüler Kurt R. Eissler, der das Freud-Archiv an der Kongreß-Bibliothek in Washington leitete, und Anna Freud, die in London streng und mißtrauisch den Nachlaß ihres Vaters verwaltete.
Wie ein »Trüffelschwein«, so behaupten empörte Freudianer heute, habe Masson in den unveröffentlichten Briefen des Meisters, die ihm Anna Freud zur Einsicht überlassen hatte, nach Sensationen geschnüffelt - mit dem fatalen Ergebnis, daß der undankbare Lieblingsschüler Eisslers bald darauf eine scharfe Kritik an Freuds Neurosenlehre veröffentlichte; der Streit darüber dauert an, zum Schaden der Analytiker-Zunft.
Masson, den Eissler voreilig zum wissenschaftlichen Direktor des Freud-Archivs promoviert hatte und der später das schon damals geplante Londoner Freud-Museum leiten sollte, wurde schleunigst gefeuert. Für seinen Abgang kassierte der clevere Ketzer eine Abfindung in Höhe von 150 000 Dollar, einen Judaslohn, den eine »New Land Foundation« genannte Stiftung hinblätterte.
Die Stiftung ist das Werk der amerikanischen Analytikerin Muriel Gardiner, einer steinreichen Enkelin des Fleischkonserven-Königs Gustavus Swift aus Chicago. Mit den Konserven-Millionen der inzwischen verstorbenen Großerbin kaufte Eisslers Freud-Archiv 1980 das Londoner Freud-Haus. Ein Museumskomitee wurde eingesetzt, das zusätzlich Spenden sammeln sollte und das darauf achtgab, daß bei der Auswahl eines Museumsdirektors nicht abermals ein »Trüffelschwein« eingekauft wurde.
Dieses Risiko konnte, wie inzwischen feststeht, bravourös vermieden werden. Mit den Glaubensfragen seiner Brötchengeber hat der wackere Kanadier Newlands nicht mehr zu schaffen als etwa ein Techniker, der in Abu Dhabi für fanatische Muselmanen eine Ölpumpe baut.
Der neu bestellte Direktor, dem 18 Angestellte zur Hand gehen, arrangierte die Hinterlassenschaft Freuds zu einer sterilen Schau, die kritikloser Heldenverehrung dient, zugleich aber alle privaten, widersprüchlichen Arabesken aus dem Bild des psychoanalytischen Ordensgründers tilgt.
So wurde Freuds nostalgischer »Trödelkram« weitgehend abgeräumt und durch Glasvitrinen ersetzt, in denen aufgeschlagene Bücher, Briefe, Photos oder Schautafeln mit Freuds Lebensdaten zu besichtigen sind.
Im Parterre findet sich eine Verkaufstheke für Souvenirs; feilgeboten werden dort Postkarten, Farbdias, Freud-Büsten aus Keramik und Freud-Ringe mit einem jener orientalischen Ornamente, welche die Decke auf der legendären Couch des Wiener Ur-Analytikers zierten. Am späten Nachmittag, so die Planung, soll den Besuchern Tee serviert werden.
Eröffnet wird das gründlich entzauberte Freud-Gedenkhaus - in das Architekt Sturgess auf Geheiß der Behörden drei kleine Appartements mit separatem Eingang einbaute - von Prinzessin Alexandra, einer Cousine der britischen Königin. Zur Einweihungsfeier geladen war ursprünglich auch Freuds treue Putzfee Paula Fichtl, die das Haus mehr als vier Jahrzehnte hindurch mit Schrubber und Fensterleder in Schuß gehalten hatte.
Doch als Direktor Newlands erfahren hatte, daß die greise Haushälterin inzwischen an den Rollstuhl gefesselt ist, ließ er sie wieder ausladen - »keine Zeit«, so erklärte er, sich im Gedränge der behinderten alten Frau anzunehmen.
Auch so reicht der Platz kaum aus für die Scharen der Ehrengäste; allein 250 Seelendoktoren aus aller Welt, die Creme der Analytikerschaft, haben ihr Erscheinen zugesagt. Die meisten haben durch Geldspenden zum Gelingen des Unternehmens beigetragen.
Wenn das Wetter es zuläßt, wollen sich die Freud-Nachfolger im idyllischen Garten versammeln, dort, wo der Gründervater, auf einem Schaukelsofa ruhend, seine letzten Lebenstage verbrachte. Alle werden da sein, nur Freud nicht.