Zur Ausgabe
Artikel 95 / 125

Tiefseeforschung Schnee in der Tiefe

Meeresforscher nutzen unterseeische militärische Horchposten, um Vulkanausbrüche und Walgesänge zu registrieren.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Für menschliche Ohren waren die Geräusche nicht wahrnehmbar, die am 26. Juni über eine Telefonstandleitung den Labors der US-Behörde zur Erforschung der Ozeane und der Atmosphäre (NOAA) in Newport (US-Staat Oregon) übermittelt wurden. Die Schwingungen lagen in einem Frequenzbereich unter 50 Hertz.

Erst als die unhörbare Botschaft, ausgedruckt in Form eines sogenannten Spektrogramms, zu Papier gebracht war, reagierten die Wissenschaftler - so hektisch, als würden sie von der Polizei verfolgt: Sie stürmten an Bord des Forschungsschiffs »Discoverer« und stachen, volle Kraft voraus, in See.

Rund 500 Kilometer nordwestlich von Newport hievte die »Discoverer«-Besatzung einen mit Scheinwerfern und TV-Kameras bestückten Roboter über Bord und senkte ihn auf den Grund des Pazifischen Ozeans. Mit Hilfe eines Versorgungskabels steuerten die Forscher das zwei Tonnen schwere Gerät durch zerklüftetes Unterseegelände.

Was der TV-Späher rund 2500 Meter unter dem Meeresspiegel aufzeichnete und auf die Monitoren übertrug, bot einen »erregenden Anblick«, so die Experten: »sehr frische, wie Glas glänzende Lava«. Erstmals in der Geschichte der Tiefseeforschung waren Wissenschaftler Zeugen eines unterseeischen Vulkanausbruchs geworden.

Ein »brandneues, noch heißes Lavafeld«, berichtet Expeditionschef Stephen Hammond, erstreckte sich auf einer Länge von etwa zwei Kilometern. Entlang einer Eruptionszone taten sich Krater auf, aus denen heißes Wasser sprudelte. Im Umkreis dieser Quellen maßen die Fühler des Roboters Temperaturen von nahezu 50 Grad; normalerweise liegt die Wasserwärme in dieser Tiefe knapp über dem Gefrierpunkt.

Über den Quellen waberten weiße Wolken, die ein Beobachter mit »einem Schneegestöber im tintenschwarzen Ozean« verglich: Bakterien hatten sich explosionsartig in dem warmen Wasser vermehrt und schwebten zu Boden.

Das »gänzlich neue Fenster in die dunklen Tiefen des Ozeans« (Hammond) verdanken die Forscher einem Spionagesystem, das seit dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung verloren hat: Das Unterwasserhorchsystem »Sosus« diente einst vor allem zur Früherkennung sowjetischer U-Boote.

Anfang der fünfziger Jahre hatte die U. S. Navy begonnen, auf dem Festlandsockel des nordamerikanischen Kontinents Unterwassermikrofone zu verlegen. Diese »Hydrophone« leiteten die Fahrgeräusche an küstennahe Horchstationen weiter. Dort wurden Nebengeräusche ausgefiltert und jeweils charakteristische Klangbilder der sowjetischen Tauchboote gespeichert.

Das Sosus-Sonarsystem (Gesamtkosten: 15 Milliarden Dollar) wurde ständig erweitert. Ende der achtziger Jahre maß das Unterwasserkabelnetz schließlich 48 000 Kilometer.

Vor zwei Jahren machte die Navy ihr »beispielloses akustisches Observatorium« der zivilen Meeresforschung zugänglich. Seither verfügen Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen über ein Untersuchungsinstrument, dessen Einsatzspektrum der US-Biologe Adam Frankel von der Cornell University als »revolutionär« beschreibt.

Dank der Lauschangriffe mit dem Sosus-Horchsystem müssen, wie Frankel-Kollege Christopher Clark glaubt, »die Lehrbücher über die Kommunikation und das Verhalten der Wale umgeschrieben« werden. Clark hatte Abhörspezialisten der Navy in einer von ihm entwickelten Technik unterwiesen, die Wanderung von Walen mit Hilfe der Laute zu bestimmen, die von den Meeressäugern ausgestoßen werden.

Die geheimnisvollen Walgesänge sind erst seit kurzem bekannt; nur selten, durchweg bei Zufallsbegegnungen, war es gelungen, sie aufzuzeichnen. Mit Hilfe der Sonarketten brachten es die Navy-Techniker bereits auf 30 000 Kontakte, bei denen die Wechselgesänge der Meeresriesen zusammenhängend dokumentiert wurden. Das musikalische Walpalaver erinnerte Zuhörer an das Lamento tropischer Vögel im Urwald, wenn sie aufgescheucht werden.

Dabei zeigte sich, daß Blau- und Finnwale ganzjährig und nicht nur, wie bislang angenommen, im Winter und Frühjahr singen und grunzen. Womöglich, hofft Biologe Clark, werde es bald gelingen, die rätselhafte Bedeutung der Walgesänge zu entschlüsseln.

Beim Abhören der Wale, deren Geräusche über Hunderte von Kilometern von den Hydrophonen aufgefangen wurden, konnte auch eine neue Technik zur Messung von Temperaturschwankungen im Ozean perfektioniert werden. Sie beruht auf der Erkenntnis, daß sich Schallwellen in warmem Wasser schneller ausbreiten als in kaltem.

An der Meßmethode mit Hilfe des Sosus-Systems sind vor allem die Klimatologen interessiert. Bislang waren zur Temperaturforschung umfangreiche Expeditionen erforderlich. Großflächige Veränderungen der Wassertemperatur gelten als wichtige Hinweise auf mögliche Folgen des Treibhauseffekts.

Nach Ansicht von NOAA-Forscher Christopher Fox hat das Horchnetz für Meeresforscher, Geologen und Klimaexperten eine ähnlich revolutionäre Bedeutung wie einst die Erfindung des Fernrohrs für die Astronomen. In Zukunft, meint Fox, »können wir sehr viel besser in den Ozean hineinhorchen«.

Auf das neue Tiefseeteleskop allein wollen sich die NOAA-Forscher im neuentdeckten Vulkangebiet vor der Küste Oregons allerdings nicht verlassen. »Alvin«, ein Spezial-U-Boot zur Erforschung der Tiefsee, wird im Oktober zu der brodelnden Lavaspalte hinabfahren; an Bord: drei Mann Besatzung, die Gesteins- und Wasserproben sammeln und Bakterien einfangen sollen. Y

[Grafiktext]

_215_ Sonarbeobachtungen eines unterseeischen Vulkanausbruchs

[GrafiktextEnde]

Zur Ausgabe
Artikel 95 / 125
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren