Medizin Schuß auf die Abwehr
Etwa vier Millionen Deutsche leiden an der Stoffwechselkrankheit Diabetes, die meisten an jener Form, die sich mit dem Wohlstand ausgebreitet hat: Der Altersdiabetes ist eine Stoffwechselentgleisung, die häufig mit Übergewicht einhergeht und die sich mit Diät und Tabletten im Zaum halten läßt.
Eine andere Form der Zuckerkrankheit, der sogenannte Typ I (juveniler Diabetes), beginnt hingegen schon im Kindes- oder Jugendalter. Rund 400 000 Bundesbürger werden von dieser Krankheitsvariante heimgesucht, bei der die körpereigene Abwehr die Langerhansschen Inseln in der Bauchspeicheldrüse angreift und schließlich ruiniert - jene Zellhaufen, in denen das lebenswichtige Hormon Insulin erzeugt wird.
Die Symptome, mit denen sich die Erkrankung meldet, sind vielfältig. Viele Betroffene fühlen sich matt und müde und werden von ständigem Durst geplagt. Andere klagen über Juckreiz, Heißhunger oder den Verlust an sexueller Energie.
Wird bei einem Kind oder Jugendlichen die Krankheit diagnostiziert, beginnt ein Leben der Entsagung: strengste Diät, keine Süßigkeiten, niemals Alkohol. Viele Diabetiker, deren Körper kein Insulin mehr produziert, müssen sich für den Rest ihres Lebens die klare Hormonflüssigkeit unter die Haut spritzen.
Heilbar ist die Stoffwechselstörung nicht. Bis 1922 - damals wurde Ersatz-Insulin erstmals großtechnisch aus Schweinen und Rindern isoliert - waren Typ-I-Diabetiker dem frühen Tod geweiht.
Noch heute müssen die Betroffenen mit schweren Spätfolgen rechnen: Nierenversagen, Blindheit, Amputation von Armen oder Beinen. Und bis jetzt blieb die Frage ungeklärt: Wie kommt das Immunsystem dazu, so zerstörerisch gegen die körpereigenen Insulinfabriken vorzugehen?
Forschungsteams der Stanford-Universität sowie der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) melden jetzt Fortschritte bei der Lösung dieses Rätsels. Erstmals konnten die Forscher den Ablauf des Vernichtungswerks in der Bauchspeicheldrüse ermitteln; Ansätze für eine Heilung zeichnen sich damit ab.
Die Zerstörung der insulinproduzierenden Beta-Zellen, so berichten die Experten in der neuesten Ausgabe des Fachblattes Nature, beginne stets mit einer Art Scharmützel: Im Anfangsstadium der Krankheit greift die fehlgeleitete Immunpolizei nur ein ganz bestimmtes Enzym an, die Glutamin-Decarboxylase (GAD). Der Wirkstoff wird im Inneren der Beta-Zellen hergestellt.
Zu Beginn der Krankheit hat die Immunpolizei nur dieses einzige Feindbild. Der Zustand kann über Jahre andauern, erst danach beginnt der Generalangriff. Ist dieses Stadium erreicht, können die insulinproduzierenden Zellen innerhalb weniger Monate vernichtet werden. Die Insulinausschüttung sinkt auf Null.
Damit gerät der Stoffwechsel in eine lebensbedrohende Schieflage. Die mit der Nahrung aufgenommene Glukose (Traubenzucker) kann nicht in die Zellen transportiert werden. Ergebnis: Der Organismus wird unterversorgt, die nicht verbrauchte Glukose durchströmt in Mengen die Blutbahn und wird mit dem Harn ausgeschieden.
Alle Versuche, das Leiden der Patienten zu beheben, hatten bislang nur begrenzten Erfolg. Die Transplantation von Inselzellen, in vielen Hospitälern in aller Welt versucht, erwies sich weitgehend als Fehlschlag. Die transplantierten Inselzellen starben meist nach kurzer Zeit ab.
Einen völlig neuen Therapieansatz haben nun die Mediziner aus Kalifornien in Aussicht gestellt. Anstatt die Folgen zu lindern (etwa mit ausgetüftelten Mini-Diagnosegeräten zur Blutzuckermessung oder künstlichen Insulinpumpen), erwägt UCLA-Forscher Daniel Kaufman eine Radikalkur, die den Ausbruch von Diabetes schon im Ansatz blockieren könnte.
Kaufmans Hoffnung gründet sich auf einen frappanten Tierversuch. Experimentiert wurde mit einem speziell gezüchteten Mäusestamm, der genetisch auf Diabetes programmiert ist. Schon wenige Wochen nach der Geburt bilden die Labornager die Stoffwechselstörung aus.
Diesen Mäusen injizierten die Forscher kurz nach der Geburt eine hohe Gabe von GAD-Enzymen, eben jenem Wirkstoff, den das Immunsystem stets als erstes Angriffsziel auswählt. Kaufmans Idee: Das sich langsam aufbauende Immunsystem der Mäusebabys könnte sich vielleicht an den Stoff gewöhnen und von späteren Attacken absehen.
Die Taktik bewährte sich. Die Versuchsmäuse in Los Angeles sind mittlerweile 40 Wochen alt, keine einzige von ihnen leidet bis heute an der Zuckerkrankheit. »Ein einziger Schuß«, konstatiert Kaufman, »scheint den Krankheitsprozeß gestoppt zu haben.«
Ermutigt durch das Blockadephänomen bei den Tieren, wollen die Mediziner nun zügig an Humanexperimente herangehen. Kaufman will Kinder aus genetisch vorbelasteten Familien (beide Eltern Diabetiker) für Testreihen gewinnen. Erprobt werden soll, ob auch die Kinder durch vorbeugende GAD-Injektionen gegen Diabetes immunisiert werden können.
In Fachkreisen wird das neue Therapiekonzept als neue spannende Forschungsfährte gewertet. Möglicherweise werde sich die häufigste schwere Kinderkrankheit bald durch eine Art Schutzimpfung bekämpfen lassen.
Die US-Forscher versuchen die Euphorie zu dämpfen. Bis zur klinischen Anwendung der neuen Methode werde nach ihrer Schätzung noch mindestens ein Jahrzehnt vergehen. Y
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_243_ Neue Untersuchungen zur Entstehung der Zuckerkrankheit
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