Zur Ausgabe
Artikel 84 / 118

Hirnforschung Schuß durch die Seele

Ein Unfall, bei dem eine Stahlstange einem Arbeiter das Hirn durchbohrte, gibt Aufschluß über das Wesen des Menschen.
aus DER SPIEGEL 23/1994

Phineas Gage war 25 Jahre alt und ein zuverlässiger Vorarbeiter. Er war einer der Pioniere, die in den Bergen von Vermont eine Trasse für die Eisenbahn durch die zerklüftete Landschaft sprengten. Seine Aufgabe war es, Löcher in den Fels zu bohren. Er füllte sie mit Explosivstoff, schüttete Sand darüber und stampfte die Sprengsätze mit einer Stahlstange fest. Dann zündete er die Lunte und rannte in Deckung.

An dem Unglückstag, es war der 13. September 1848, hatte Gage vergessen, Sand in eines der Löcher zu füllen. Er hämmerte mit der Stange direkt auf den Sprengstoff, ein Funke sprang über, die Stahlstange schoß dem Arbeiter durch Wange, Hirn, Schädel und dann wieder ins Freie. Viele Meter entfernt schlug das stählerne Projektil auf den Fels.

Zur Verblüffung der Männer in seinem Bautrupp richtete sich ihr derart durchbohrter Vormann wieder auf. Er war benommen, aber er redete noch. Gestützt auf seine Leute, schaffte er es bis in eine Schenke. Dort fiel er ins Bett.

Nach einigen Wochen erholte sich der Mann mit dem Loch im Schädel. Doch bald mußten seine Freunde feststellen, daß der Genesene mit dem Phineas Gage, den sie kannten, nicht viel mehr als das Äußere gemein hatte.

Er hörte, roch und fühlte wie ehedem. Ein Auge hatte er bei dem Unfall verloren, doch mit dem anderen konnte er sehen wie zuvor. Seine Intelligenz hatte nicht gelitten, er sprach flüssig und klar, er verstand alles, sein Gedächtnis war unbeeinträchtigt. Aber aus dem verantwortungsbewußten Vorarbeiter, einem umgänglichen und beliebten Kerl, war ein unflätig schimpfender, launischer Zeitgenosse geworden.

»Das Gleichgewicht zwischen seinem Intellekt und seinen animalischen Neigungen ist aus dem Lot«, notierte damals sein Arzt John Harlow. 13 Jahre streunte Gage bindungslos und verwahrlost durch den Wilden Westen. 1861 starb er in San Francisco.

Den Hirndurchschuß, der Gages Charakter löschte, haben jetzt Antonio Damasio, Chef der weltgrößten Klinik für Neurologie, und seine Frau Hanna in Iowa City mit Hilfe eines Computerprogramms rekonstruiert. Auf dem Bildschirm der beiden Forscher kreist ein gefurchtes, lappiges Organ - ein detailgenaues Abbild jenes Gehirns, das vor 146 Jahren von der drei Zentimeter dicken Stange durchbohrt wurde.

Anhand von Fotos und Röntgenbildern vom Schädel des Toten gelang es, die Bahn des Stahlgeschosses exakt nachzuzeichnen: Zwischen Jochbein und Oberkiefer drang die Stange ins Gesicht, verletzte das linke Auge und durchstieß rechts oberhalb der Nasenwurzel die Stirn.

Mit der Abspeicherung im Computer ist Phineas Gage damit zu einem von mehr als 1500 Fällen geworden, die das amerikanische Forscher-Ehepaar untersucht und zu einer Art neurologischem Gruselkabinett versammelt hat. Jede der Krankenakten erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Verhaltensstörung, eines bizarren Sprachausfalls, eines seltenen Sehfehlers - allesamt zurückzuführen auf Beschädigungen der grauen Substanz im Schädel.

Der quirlige Damasio und seine Frau setzen damit ein wissenschaftliches Großprojekt fort, mit dem ihre Vorgänger vor rund 150 Jahren begonnen haben, gerade zu jener Zeit, als John Harlow in einer amerikanischen Medizinzeitschrift die Lebensgeschichte des Bahnarbeiters Gage veröffentlichte.

Schon damals waren den Nervenärzten Patienten mit Schäden im linken Schläfenbereich aufgefallen: Sie konnten redegewandt daherfabulieren, doch der Wortschwall ergab nichts als Unsinn. Lag die Verletzung etwas weiter vorn, konnten die Patienten nur noch mühsam radebrechen, doch ihr Gestammel hatte noch einen Sinn.

Bald hatten die Hirnanatomen auf diese Weise ganze Seelenatlanten entworfen. Das Sprachverständnis orteten sie im linken Schläfenlappen, die Spracherzeugung hingegen im linken Stirnlappen; das Sehen im Hinterkopf, Bewegen und Fühlen unter dem Schädeldach, das Hören hinter der Schläfe.

Je weiter sich die Forscher jedoch in Richtung Stirn vortasteten, um so komplexer und verworrener wurden die Aufgaben, die dort verborgen lagen. Fälle wie die des Bahnarbeiters Gage zeigten, daß sich hier offenbar Zentren befanden, die mit schwer definierbaren Eigenschaften wie sozialem Verhalten und Charakter zu tun hatten. Hier schienen Pläne geschmiedet und Entscheidungen gefällt zu werden - doch klare Trennlinien zwischen diesen Funktionen waren nicht zu finden.

Gerade dieser Teil des Hirns gilt inzwischen als Inbegriff des Menschlichen: Das Stirnhirn von Ratten ist winzig. Bei Katzen macht es gerade 3,5 Prozent der gesamten Großhirnrinde (Cortex) aus. Bei Schimpansen steigt sein Anteil auf 17 Prozent.

Hinter der hohen Stirn des Menschen schließlich verbergen sich 29 Prozent des Gesamtcortex: Die Evolution des Menschen läßt sich als schrittweise Verstirnung darstellen. »Falls Gott zum Menschen spricht«, so meinte die US-Neurobiologin Candace Pert, »dann geschieht es durch die Stirnlappen.«

Fälle wie derjenige des Bahnarbeiters Gage zeigen, daß das Geheimnis des Stirnhirns weder in der Intelligenz noch in der Sprache liegt. Das Wesen des Menschen, so läßt sich schließen, liegt in seinen sozialen Fähigkeiten.

Jetzt ist es das Ziel des Forscher-Ehepaars aus Iowa, im Stirnhirn verschiedene Funktionen voneinander abzugrenzen. Die Rekonstruktion von Gages Kopfdurchschuß soll dabei ein Schlüssel sein: Durch Zufall, so glauben die Damasios herausgefunden zu haben, wurde bei dem Unglück nur eine kleine Rindenregion ganz vorn im Hirn zerstört.

Dadurch seien jene Teile des Frontalhirns unversehrt geblieben, die beim Menschen für komplexe Verarbeitungen von Sprache, komplizierte logische Schlußfolgerungen und räumliche Wahrnehmung zuständig sind.

Der eng umgrenzte Schaden in Gages Kopf betraf genau die Stelle, an der Emotionen aus tiefer gelegenen Hirnregionen (dem limbischen System und dem Hypothalamus) in die Großhirnrinde eingespeist werden. Wenn diese Vermutung sich bestätigt, wäre das Forscherpaar dem Zentrum des Menschenwesens auf der Spur: dort, wo menschliche Regungen wie Liebe, Verläßlichkeit und Scham ihren Ursprung haben. Y

Zur Ausgabe
Artikel 84 / 118
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten