HIRNCHIRURGIE Schwarzes Loch im Kopf
Als Maurice den Weg hinterm Deich zum ersten Mal mit dem Fahrrad bewältigt, ruft die Mutter den Vater herbei und den Bruder und die Großeltern. Sie klatschen, sie planen, ein Spanferkel müsse auf den Grill, ein Hoch der Familie, ein Hoch auf Maurice! Sie fachsimpeln noch, welcher Metzger die besten Ferkel schlachte bei ihnen in Ostfriesland, da versperren Nachbarn mit Blumenkübeln die Auffahrt. »Tütüüt«, trötet Maurice auf seinem Rad, das stabiler als andere ist und auf drei Reifen fährt. Nichts gegen Kinder, zetern die Nachbarn. Aber nicht dieser Junge!
Dieser Junge. Der Verrückte. Krüppel. Geisterkopf. Christine Mehlhardt wollte lernen wegzuhören, wenn Leute über ihren Sohn reden; sie traut Maurice inzwischen zu, sich auch allein zu schützen. Doch die Mutter kann nicht weghören. An manchen Tagen freut sie das Gerede auch. Wenn Leute tuscheln, er sei ein Phänomen. Ein kleines Wunder.
13 Monate alt war ihr Sohn, als ihn ein Neurochirurg lange Stunden operierte. Er entfernte einen großen Teil der rechten Hälfte des Gehirns.
Seither ist auf den Bildern seines Kopfinneren rechts ein großes schwarzes Loch zu sehen. Seither ist Maurice linksseitig gelähmt. Das linke Bein, der linke Arm. Die Eltern wussten, dass es so kommen würde - und waren dennoch überzeugt, ihrem Sohn eine einmalige Chance zu bieten.
Da stimme doch etwas nicht, hatte Jens Mehlhardt im Kreißsaal gebrummt, als er seinen Zweitgeborenen sah. Ordentliche 3850 Gramm wog der Junge, gute 50 Zentimeter war er groß. Aber sein Körper schnellte nach dem ersten Atemschrei zusammen wie ein Klappmesser.
Arzt und Hebamme winkten ab. Als Maurice immer wieder zusammenschnellte, schweißgebadet, brachten ihn die Eltern in die Kinderklinik. Dort sagte der Arzt, der Junge habe einen Schaden.
Christine und Jens Mehlhardt hatten alles für das Leben gerichtet. 14 Jahre kannten sie einander, bevor sie Hochzeit feierten, den Brautstrauß ließen sie aus Kunstblumen nachbinden, als Omen für ein dauerhaftes Glück. Sie kauften ein Haus aus rotem Backstein, das Grundstück groß genug für Schaukel und Schwimmbecken. Sie trug Briefe aus, er verdiente sein Geld als Maurer; Sohn Philip kam und vier Jahre darauf, am 24. Oktober 2000, endlich das zweite Kind. Manchmal hatte die werdende Mutter ein Stechen im Unterleib verspürt. Der Gynäkologe hatte Magnesium empfohlen, und Christine Mehlhardt war guter Hoffnung geblieben.
Nun galt nur noch dieser eine Satz.
Der Junge hat einen Schaden.
Im Krankenhausflur wartete die Familie. Der Großvater nahm die weinende Tochter in den Arm und leuchtete dem Enkel mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Also nee, sagte er, blind scheine der Junge schon mal nicht zu sein. Er habe doch diese tanzenden Pupillen.
Sekunden später schlugen Kopf und Beine des Jungen wieder gegeneinander.
Intensivstation. Krampfanfälle. EEG. Krämpfe. Computertomografie. Krämpfe. Kernspintomograf. Jeder Tag schnitt ins Leben der Familie.
Epilepsie, sagte ein Arzt. Gehirnmissbildung rechts, präzisierte ein anderer. BNS, urteilte der dritte.
Christine Mehlhardt bestellte Bücher in das Krankenhaus. Wenn ihr Sohn nicht schrie und sich nicht schüttelte, nicht schwitzte und spie, erschloss sie sich den Schrecken: Bei rund einem Drittel der 500 000 Epilepsiepatienten in Deutschland verursacht eine Missbildung im Gehirn die Krankheit. Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe, abgekürzt BNS, treten bei einem von ungefähr 6000 Kleinkindern auf; typisch ist das blitzartige Zusammenzucken. Die Krämpfe gehen mit fortschreitendem geistigem Verfall einher.
Maurice werde bis zu seinem Tod, und der sei aller Voraussicht nach in einem frühen Lebensalter, nur flach in seinem Bettchen liegen, erklärte ihr der Arzt. Er werde nie sehen, nie sprechen, nie sitzen, nie laufen. Er werde sich kaum entwickeln.
Die Mutter hatte alle Lügen strafen wollen; den Arzt, die Nachbarn, auch die Verwandten, die eine Nottaufe erwarteten. Als Maurice sechs Wochen alt war, fand sie eine Krankengymnastin für ihn; auch eine Sonderpädagogin kam bald in den Mehlhardtschen Haushalt. Sie strich über ein Xylophon, sie hielt dem Säugling Lichterketten hin; er sollte aufhorchen, sollte aufblicken lernen. Christine Mehlhardt putzte derweil oder las Philip Bilderbücher vor. Sie hatte gelernt, ihre Arbeiten zu erledigen und Maurice trotzdem genau zu beobachten. Immerfort suchte sie nach den Augenblicken, die auf Entwicklung schließen ließen.
Doch meist, wenn sein Körper nicht gerade zusammenschnellte, lag der Junge benommen auf dem Rücken. Die starken Medikamente unterdrückten nur seine Lebendigkeit, gegen die epileptische Krankheit halfen sie nicht. Kaufte Christine Mehlhardt ein in dieser Zeit, hasteten die Leute im Ort an ihr vorbei. Die Krämpfe könnten ansteckend sein, meinten jene, die früher mit Mehlhardts gefeiert hatten.
Sieben Monate nach der Geburt fällte die Mutter eine Entscheidung. »Es geht so nicht weiter«, teilte sie ihren Eltern mit. »Ich versuche es in Bethel.« Das sei doch diese Stelle, wo Behinderte gebrauchte Briefmarken sortieren, hatte ihr Mann gesagt. Dann hatte er genickt. Er ist es gewohnt, seine Frau bei großen Ideen zu begleiten.
Seither liegt im Familienordner mit den Arztberichten die Kopie einer Landkarte, auf der die Strecke von der ostfriesischen Küste in den Bielefelder Ortsteil Bethel mit einem rosafarbenen Leuchtstift nachgezogen ist. »Bodelschwinghsche Anstalten« hat Christine Mehlhardt danebengeschrieben. »Haus Mara, Epilepsie-Zentrum«. Es ist das größte in Deutschland.
Vier Tage lang blieb Maurice dort, in einem Kinderbett mit karierter Krankenhauswäsche; 60 Elektroden erfassten seine Hirnströme, eine Videokamera filmte den zuckenden Körper, auch eine Neuropsychologin untersuchte ihn. Einmal nur weinte der Junge in diesen Tagen. Da war der braune Teddy, der ihn seit seiner Geburt begleitet, unerreichbar in eine Ecke gerutscht.
Am Ende fällten die Ärzte ihr Urteil: Maurice gehöre zu jenen 20 Prozent krampfender Kinder, denen kein Medikament helfe. Seine Entwicklung sei extrem verzögert; momentan entspreche sie der eines fünf Monate alten Säuglings. Doch er sei geeignet für eine Operation, die man Hemisphärotomie nenne. Dabei werde das Gewebe der aufgeblähten rechten Gehirnhälfte mitsamt der Anfallsherde entfernt. Und für den Fall, dass anschließend weitere Nervenzellen rebellierten, müsse vorsorglich auch der verbindende Balken durchtrennt werden. Dann könne das Chaos nicht auf die gesunde linke Seite überwechseln.
Die Chance, dass Maurice nach einer Operation ohne Anfälle leben könne, liege bei 60 bis 80 Prozent, urteilten sie. Wahrscheinlich werde er sich auch besser entwickeln, sobald ihn Anfälle und Medikamente nicht mehr beeinträchtigten. Ihm fehlten zwar dann große Teile der rechten Großhirnhälfte, jener, die dem Menschen helfe, räumlich zu denken, Gefühle zu verstehen, intuitiv zu handeln und sich feingliedrig zu bewegen. Die linke sei ja eher Sitz von Sprache und Logik. Doch womöglich wachse sie so gut heran, dass sie auch die Aufgaben der rechten erledige. Es sei wichtig, Maurice bald zu operieren. Denn es werde mit jedem Lebensjahr schwieriger, die Arbeitsteilung im Gehirn zu durchbrechen.
Nach dem Gespräch tagträumten Mutter, Vater, Großmutter und Großvater Mehlhardt. Sie malten sich aus, Maurice könne die Welt entdecken, vielleicht gar die Schule. Sie dachten an ein Leben, in dem sie weniger Angst um den Jungen haben müssten, an ein Leben ohne Selbstvorwürfe. Hunderte Male hatte Christine Mehlhardt schon gegrübelt, im Schwimmbad, die Riesenrutsche, da sei sie doch längst schwanger gewesen. Solche Gedanken seien Quatsch, hatte ihr Mann immer wieder gesagt, aber er hatte sie nicht überzeugen können.
Sie sollten keine Wunder erwarten, hatte die Neurologin gesagt. In jedem Fall zerstöre der Schnitt ins Gehirn auch unversehrte Strukturen. Sie müssten sich bewusst machen, dass Maurice nach dem Eingriff halbseitig gelähmt sein werde; dass er alles, was links von ihm geschehe, nicht wahrnehmen werde. Das könne sich im Laufe der Jahre ändern. Aber eben auch nicht. Im Grunde ähnelten die Folgen denen eines Schlaganfalls. »Hirninfarkt« stand auf dem Blatt Papier, das der Chirurg den Eltern vorlegte, als er sie über die Risiken der Operation aufklärte: »Gefäßverletzung. Wachkoma/Tod«.
Es sei ja klar, dass er mit diesen Krämpfen höchstens sieben Jahre alt werde, hatte Christine Mehlhardt zu ihrem Mann gesagt. Da gebe sie ihn, müsse es denn sein, lieber jetzt weg.
Es erging ihnen wie allen Eltern schwerkranker Kinder: Sie konnten Maurice nicht fragen, ob er das Risiko des Todes eingehen würde, der Chance auf ein besseres Leben zuliebe. Sie mussten für und über ihn entscheiden. Und obwohl sie nie mit einem Medizinethiker gesprochen haben, entschieden sie so, wie es die allgemeinen Grundsätze für Eingriffe bei Kindern verlangen: Ein Kind ist zu schützen. Seine Zukunft muss offen vor ihm liegen. Und weil Entwicklungsfähigkeit das besondere Merkmal im Kindesalter ist, muss sie bewahrt und gefördert werden.
Noch heute findet es Christine Mehlhardt merkwürdig, dass die Stunden an jenem 28. November 2001 überhaupt vorübergingen. Morgens um halb acht hatte sie Maurice an der Schleuse zum Operationssaal abgegeben. Dann briet die Großmutter Koteletts in dem Ferienapartment, das die Familie nahe dem Krankenhaus gemietet hatte. Sie gingen ins Kino, Philip wünschte sich »Harry Potter«, den Film über den Jungen mit der Narbe am Kopf; sie bummelten durch Bielefelds Geschäfte.
Der Chirurg schnitt derweil in die Kopfhaut ihres Sohnes. Er klappte die Hautlappen zur Seite, sägte ein Loch in die Schädeldecke, schob das Ende eines Mikroskops hinein. Er trug den vorderen Teil des rechten Schläfenlappens ab, den Hippocampus, den Mandelkern, die Insel; er durchtrennte den Balken. Er zerstörte Regionen, die einem gesunden Menschen helfen, Musik zu verstehen, Gesichter zu erkennen, Angst zu empfinden, Mitleid zu fühlen, zu schmecken, zu riechen und das Ausmaß von Schmerzen zu beurteilen. Drei Liter Blutverlust musste der Anästhesist ausgleichen. Gewöhnlich zirkuliert in einem 13 Monate alten Jungen nicht viel mehr als einer.
Bloß nicht, sagte Jens Mehlhardt, als seine Frau ihm in einem Geschäft einen Kapuzenanzug für Kleinkinder hinhielt. Nachher sei da nur noch dieses Kleidungsstück. Dann, plötzlich, riet er ihr, doch zuzugreifen. Sie hätten angerufen, sagte er. Maurice atme schon wieder selbst.
Ein Turban aus Verbänden, das Gesicht blau, überall Schläuche; die Augenlider dick, als platzten sie gleich: Jeden Tag fotografierte die Mutter den Sohn. Wie sie so etwas tun könne?, schimpfte der Opa. Es sei auch für Maurice, wehrte sie sich. Er solle einmal wissen, was er ausgehalten habe. Damit er stolz auf sich sein könne.
Am fünften Tag steckte er Zeigefinger und Mittelfinger in den Mund. So wie früher, dachte sie. Dann fiel ihr Blick auf die andere Hand. Regungslos lag sie da. In diesem Augenblick beschlich Christine Mehlhardt ein erstes Mal der Zweifel. Sie stellte sich plötzlich Fragen, an die sie vorher nie gedacht hatte. Es gibt keine Antworten auf diese Fragen: Ob Maurice nun eigentlich ein anderer sei? Was wohl mit den Erfahrungen geschehe, die in seinem alten Gehirn gespeichert waren? Ob die, in krankes Gewebe eingebettet, jetzt irgendwo im Müll lägen?
18 Monate nach der Operation frühstückt Maurice Brötchen mit Nutella. Er trägt die Haare wild wie Pumuckl, Kämme kann er seit einigen Wochen nicht leiden. »Los jetzt«, sagt er zu der Krankengymnastin, die gerade eingetroffen ist, »dalli!« Er hat sich daran gewöhnt, dass Erwachsene tun, was er will. Sein Schicksal verunsichert sie. Nur wenige muten ihm Verbote zu.
Die Krankengymnastin ist streng. »Erst das Nutella-Glas«, sagt sie. Maurice guckt auf, schluchzt, lacht, heult, schreit. Dann drückt er das Glas mit dem Arm gegen den Körper und will den Deckel daraufsetzen. »Schwer«, sagt er. »Wir arbeiten ja auch«, sagt die Krankengymnastin ruhig.
Der Junge benötige ein großes Förderprogramm, hatten die Spezialisten in Bethel zum Abschied betont. Die linke Gehirnhälfte müsse ja nun alle Entwicklungsaufgaben allein meistern. Und sie soll wieder aufbauen, was der Chirurg zerstören musste: das Bewusstsein, dass da noch eine linke Körperhälfte ist, die sich bewegen lässt.
»Teddy«, ruft Maurice, als die Krankengymnastin ihm auf die ausklappbare Therapieliege im Wohnzimmer hilft.
»Teddy setzt sich gleich neben dich.«
»Nein! Jetzt!«
Die Therapeutin hält den zappelnden Jungen fest, das rechte Bein, den rechten Arm. »Und nun greif nach Teddy«, sagt sie. »Versuch es mit der linken Hand.«
Seit mehr als 200 Therapiestunden zwingt sie Maurice in die immer gleichen Positionen, drückt auf die immer gleichen Körperstellen, löst die immer gleichen Reflexe aus. Sie hofft, dass Maurice diese Muskelbewegungen so zu eigen werden, dass er sie eines Tages auch bewusst steuern kann.
Führt sie ihn an der Hand, stolpert er jetzt bereits ein paar Schritte geradeaus, die Füße umschnallt von hochgezogenen Stützeinlagen. Einmal setzte er den rechten Fuß auf die unterste Treppenstufe. »Klasse«, schrie er, als er den linken hinterhergezogen hatte. Es dauerte Minuten.
Die gelähmte Hand hat sich zu einer starren Faust geschlossen. Er kann sie nicht leiden. »Die geht nicht«, sagt er, wenn die Sonderpädagogin sie in eine Schüssel mit Trockenbohnen legt, um ihr Gespür zu wecken. Oft schlägt Maurice die Hand, weil ihr die feinen Bewegungen nicht gelingen, für die sie geschaffen ist.
Krankengymnastik, Frühförderung, Ergotherapie, Sprachtherapie - der Junge ertrage mehr, als sie es könnte, denkt die Mutter. An manchen Tagen fürchtet sie den eigenen Mut. Die Schafe weiden vor dem Küchenfenster, wie eine grüne Wand steht der Deich da, und sie fragt sich, ob sie nicht doch zu viele Grenzen gesprengt hat. Sogar ein Wunder hält sie dann im Nachhinein für möglich. Sie stellt sich vor, ihr Sohn wäre gesund geworden, einfach so. Die Gesetze der Medizin hätten es nie zugelassen, das weiß sie.
Christine Mehlhardt hat eine Tabelle angelegt. »Lebensalter« - »Entwicklungsalter«. Nach jeder Kontrolluntersuchung in Bethel schreibt sie hinein.
Ein halbes Jahr nach der Operation hatte die Neuropsychologin Maurice wie einen halbjährigen Säugling eingestuft. Sechs Monate darauf war er so weit wie ein 15 Monate altes Kind. In einem halben Jahr habe Maurice also neun Monate aufgeholt, errechnete die Mutter. So werde es nicht bleiben, warnte die Psychologin. Christine Mehlhardt zählte trotzdem leise weiter: Zwei Jahre noch, dann könnte ihr Sohn den Rückstand überwunden haben.
Wenige Tage vor seinem dritten Geburtstag läuft er. Er stapelt nun Klötzchen zu hohen Türmen und füttert den Teddy mit einem Löffel. Anderen Menschen stellt er sich strahlend als Maurice vor. Voll Zuversicht notiert die Mutter in der Spalte Entwicklungsalter »22 Monate«.
Als die Familie zur nächsten Kontrolle nach Bethel reist, ist Maurice vier Jahre und acht Monate alt. Seit einigen Wochen hat er starke Kopfschmerzen; er bricht und schreit und schiebt den Hals so weit hervor, dass die Großmutter an eine Giraffe denken muss. Alle fürchten, die Schmerzen könnten Vorboten neuer Anfälle sein.
Eine Krankenschwester setzt ihm die Mütze mit den weißen Elektroden auf. Noch einmal soll ein EEG geschrieben werden, noch einmal muss der Junge ruhig bleiben. Vor dem Fenster senkt sich das Rollo. Aus dem blauen Stoffstern klimpert »Schlaf, Kindlein, schlaf«.
»Mama, bleibst du da?«
»Ja.«
»Und wenn ich weine?«
Die Krankenschwester mischt sich ein. »Warum willst du denn weinen? Dir geht es doch gut.«
»Weiß nicht«, antwortet Maurice.
Die Ergebnisse sind unauffällig. Auch die Neuropsychologin gratuliert der Mutter. Maurice hat höhere Türme gebaut als beim vorigen Mal, er hat nach Leberwurstbroten verlangt und dabei auch an eines für Teddy gedacht; er hat originell auf ihre Fragen geantwortet. Ob er später ein Mann oder eine Frau werde? »Später bin ich Maurice, und dann rauch ich!«
Entwicklungsstand: 2,5 Jahre. »Ohne die Operation wäre er eher bei 1,5. Wenn überhaupt«, meint die Psychologin.
Christine Mehlhardt weint dennoch. Sie sitzt auf einem Balkon des Krankenhauses unter gelben Sonnenschirmen und denkt, dass er zu Hause viel höhere Türme baue. Es grämt sie, dass die linke Hand noch immer gelähmt ist; dass er noch Windeln trägt, die Oma hat im Badezimmer vorgelesen, die Toilette hat Musik gespielt, nichts hat geholfen. Sie hadert, weil er weiterhin Medikamente nehmen muss, niedrig dosiert zwar, aber trotzdem. Sollte sich wirklich noch einmal ein Anfall anbahnen, solle die neue Ordnung seiner Nervenzellen nicht gestört werden, hat die Neurologin erklärt.
So verzweifelt ist sie, dass ihr Mann sie schließlich in den Arm nimmt. Er ist kein Freund großer Gesten, er hat sich Sätze zurechtgelegt für Momente wie diesen. »Maurice ist so ein lieber, netter Junge«, sagt er. »Wenn der in den Drittweltländern wäre, dann wäre der längst tot. Stell dir doch das vor.«
Christine Mehlhardt denkt an die gleichaltrigen Kinder im Ort, die mit den Fingern Kirschkerne springen lassen.
Es wird mit jedem Jahr komplizierter, die Normalität zu schaffen, die sich die Mutter erhofft. Zum fünften Geburtstag von Maurice füllen Anträge, Gutachten und Entwicklungsberichte bereits zwei Hängeregister. Zuletzt hat sie um den Platz im Kindergarten gerungen. Es ist im Umkreis der einzige für gesunde und behinderte Kinder. Hier könne Maurice die Erfahrung machen, einer von vielen zu sein, hofft sie. Hier könne er die Regeln lernen, mit denen ein Mensch unter Menschen besteht.
Beständig merkt sie nun, dass ihm mehr fehlt, als sie sich hatte vorstellen können.
An manchen Tagen ist alles gut. »Die Sonne mag ich besonders gern«, sagt Maurice dann; einmal hat er von seinem Taschengeld eine Sprudeltablette für Philips Badewasser gekauft, um sich nach einem Streit zu entschuldigen.
Er steigt mittlerweile Treppen, er putzt die Zähne, schließt die Klettverschlüsse seiner Schuhe und kommt auch ohne Windeln zurecht. Die Schafe auf dem Deich nennt er »Pulloverschweine«. Er brauche keine Sprachtherapie mehr, findet der Kinderarzt. Auch die Welt an seiner linken Seite sieht er nun, nach einer Augenoperation, besser. Doch wenn er zürnt, verbiegt er seine Brillengestelle, und er zerstört auch Philips Spielzeug. Die Mutter hat alles getan, damit er über seine Grenzen hinauswachse. Nun fällt es ihr schwer, ihm Grenzen zu setzen.
Zuweilen sprechen Mehlhardts in der piepsigen Stimmlage, in der die Krankengymnastin den Teddy reden lässt, weil Maurice nur darauf reagiert. Und wenn ihn die Kopfschmerzen überfallen, dirigiert er sie alle schreiend: Leg die Hand dorthin, nein dahin, geh weg, komm wieder, kraul mir den Rücken, nein doch nicht. Dann hält Christine Mehlhardt es kaum aus, dass Philip mit den Schmerzensschreien des Bruders klarkommen muss. Er fühlt sich ohnehin zu oft verantwortlich, findet sie. Die Grundschüler, die Maurice neulich über den Zaun hinweg hänselten, hätte er am liebsten kaltgemacht. »Kaltgemacht«, sprach Maurice ihm nach.
Bald werden Lehrer und Erzieher den Jungen fünf Tage lang beobachten, um zu beurteilen, ob er künftig in die Grundschule gehen kann, in eine normale Grundschule. Das, was sie soziale Kompetenz nennen, wird ihnen wichtig sein, auch Frustrationstoleranz, Konzentrationskraft und Ausdauer. Die Mutter weiß, dass es ihrem Sohn an all dem mangelt. Wenn ihm beim Basteln die Schere entgleitet, zerreißt er das Papier und fegt die Fetzen vom Tisch.
Womöglich werde es irgendwann zu schwierig für ihn, immerzu integriert zu werden, hat die Leiterin des Kindergartens vorsichtig gewarnt. Vielleicht halte er es auf Dauer nicht aus, ständig hintenanzustehen.
Viel Zeit, darüber nachzudenken, bleibt Christine Mehlhardt nicht. Sie arbeitet wieder, zu Hause muss sie alles sauber halten, es ist viel, sie mag Zierrat; und Maurice braucht in diesen Monaten wieder mehr Hilfe. Er trägt oft einen Gipsverband um den Arm. Sein Wagemut entwickelt sich schneller als sein Körpergefühl.
Häufig kümmern sich die Großeltern um ihn. Nach dem Mittagessen spazieren Opa und Enkel zu einer Treppe, die ins Wattenmeer reicht; der Großvater breitet oben eine Decke aus, und sie warten auf die Flut. Maurice liebt es, wenn die Wellen Stufe um Stufe höher platschen. Es sind ruhige Stunden bei Opa und Oma.
An diesem Abend aber können sie den Enkel nicht beruhigen. Der Großvater fährt den schluchzenden Jungen zu den Eltern, und Maurice steht lange im Kinderzimmer am Fenster. »Die Sterne im Himmel sind die toten Menschen«, sagt er.
Um 21.30 Uhr gellt ein Schrei durch das Haus.
»Maurice!«, ruft die Mutter. »Was ist?«
»Nichts«, schreit er. »Ich wollte nur wissen, ob alle da noch sind.«
Einige Minuten später gellt es erneut. »Teddy!«
Eine gute Stunde lang suchen die Eltern nach dem Plüschtier. Dann steht schlaftrunken Philip auf der Schwelle. »Ihr wisst doch, dass Maurice den Teddy braucht«, sagt er, und die Mutter würde am liebsten die Tür schließen und alles hinter sich lassen.
Aus dem Flur dringt Gelächter. Eine Figur steht dort, eine Hexe. Sie lacht immer, wenn es laut wird. Sie lacht ziemlich oft in letzter Zeit.
8000 Kilometer fern der ostfriesischen Küste gelingt Familie Mehlhardt ein anderer Blick auf ihr Leben. Sie gibt in zwölf Tagen die Ersparnisse mehrerer Jahre aus, und schon auf dem Hinflug in die Karibik zerbricht die Filmkamera. Doch Curaçao, im November 2007, steckt für sie voller Magie.
Christine Mehlhardt hatte sich im Internet über Delphintherapie informiert. Die Tiere, stand da, würden aus behinderten Kindern verträglichere Menschen mit beweglicheren Körpern machen. Sie stellte sich vor, was für ein Kind sie aus Maurice machen würden.
Er geht nun in die Vorschule; sie hat die amtliche Entscheidung über seine Einschulung noch einmal hinauszögern können. Eine Integrationshelferin leitet ihn jeden Tag einige Stunden lang an, sich auf das Malen, Puzzeln und Basteln zu konzentrieren. Einmal schon hat er eine halbe Stunde lang durchgehalten, und auch Rad- fahren hat er inzwischen gelernt. Die linke Hand aber ist nicht beweglicher geworden, obwohl die Krankengymnastin nun dreimal in der Woche mit ihm arbeitet.
Ihr Kind solle noch stärker werden, bis die Pädagogen endgültig über seine Schullaufbahn entscheiden, wünscht sich die Mutter. Dass andere Menschen eine Delphintherapie für Unsinn erklären, weiß sie. Scheine die Sonne und funkele das Meer, nähmen sich Therapeuten Zeit, und zahle man selbst viel Geld, müsse dabei ja irgendetwas Gutes herauskommen, sagen diese Kritiker. Mit Delphinen habe das gar nichts zu tun. Auch der Großmutter kam die Idee verwegen vor. Großvater und Vater aber meinten, wenn es helfe, sei es doch egal, warum. So packten sie Shorts und Kleider ein; Mutter, Vater, Großmutter, Großvater, Philip und Maurice.
In dem Jungen stecke noch viel mehr, sagte der deutsche Therapeut gleich bei der Begrüßung, dann sprach er lange allein mit ihm. Auch während der täg-lichen Therapiestunden durften die Eltern und die Großeltern nur von fern zusehen, wie sich Maurice beim Schwimmen an seinem Delphin Papito festhielt, wie er dessen Flossen streichelte - und dabei ausschließlich den linken Arm und die linke Hand einsetzen durfte. In den Pausen auf dem Ponton löste Maurice Aufgaben: Zahlen, Buchstaben, Farbenlehre. Erledigte der Junge alles gut, sprang Papito für ihn durch einen Reifen. Benahm er sich schlecht, musste er den Delphin verlassen.
Jeden Nachmittag redete der Therapeut mit den Eltern. Sie hätten seine Worte in jedem Erziehungsratgeber nachlesen können. Man müsse konsequent sein, sagte der Mann in Curaçao; Ehepaar Mehlhardt gefiel sein besonnener Ton. Man müsse nach dem Belohnungsprinzip verfahren. Man dürfe nicht allen Wünschen nachgeben. Man dürfe Maurice nicht immerzu beäugen. Man müsse ihm die Freiheit einräumen, sich selbst zu helfen.
Christine Mehlhardt fragte sich, wie das denn gehen solle, und doch erschien ihr der eigene Erziehungsstil mit einem Mal verquer. Er soll sich normal entwickeln, und wir packen ihn in Watte, dachte sie. Er soll selbständig leben, und wir unterstützen ihn bei jeder Kleinigkeit. Er soll keine Diva werden und steht immer im Mittelpunkt.
Als Familie Mehlhardt nach dem Urlaub zu Hause in Ostfriesland ankam, war die linke Hand, die sich so lange zur starren Faust geschlossen hatte, gestreckt. Womöglich habe auch das Gefühl von Schwerelosigkeit im Wasser dazu beigetragen, meint die Krankengymnastin. Sie übt nun mit Maurice, die Hand bewusst zu benutzen.
Christine Mehlhardt lässt ihren Sohn inzwischen auch einmal allein spielen. Er muss keine Medikamente mehr einnehmen, und seit die Ärzte die Kopfschmerzen als Migräne einstufen, sind sie für alle leichter zu ertragen. Ihr Mann hat sein Versprechen eingelöst, er hat Maurice von der Operation erzählt. Der Junge habe alles ganz gut verstanden, finden die Eltern. Die Mutter hatte große Angst, Maurice könne ihr vorwerfen, dass sein Gehirn zerschnitten sei und er deshalb gelähmt.
Irgendwie habe der Urlaub die ganze Familie therapiert, sagt die Großmutter. Dass es allein an den Delphinen lag, mag sie nach wie vor nicht glauben.
An einem Samstagmorgen im August 2009 läuten die Glocken zum Gottesdienst. Die Orgel braust, die Türen öffnen sich, und als Kinder, Eltern und Großeltern auf den Holzbänken der Kirche Platz gefunden haben, spricht die Pfarrerin von einem neuen Lebensabschnitt. »Ich freu mich so«, sagt Maurice. In den Armen hält er eine Schultüte.
Eine außerordentliche Kommission hatte getagt: ein Vertreter der Schulbehörde, die Schulleiterin, die Integrationshelferin, eine Grundschullehrerin, eine Lehrerin der Förderschule, ein Gutachter, die Krankengymnastin und Christine Mehlhardt. Die kennen ihn kaum und haben so viel Macht, hatte die Mutter gedacht.
Nun wird er in der Grundschule lernen, in einer normalen Grundschule, und die Integrationshelferin aus dem Kindergarten wird ihm weiterhin zur Seite stehen. Er wird rechnen lernen, und es wird ihm schwerer fallen als den Mitschülern. Er wird begeistert lesen, und es wird ihm leichter fallen als vielen Kindern in seiner Klasse. In der Weihnachtszeit wird er ein Bild malen, von einem Rentier, und dazu schreiben: »Für Mama von Maurice«. Und die Mutter wird sagen, dass es sich lohne, für solche Kinder zu kämpfen. »Man kann mehr erreichen, als alle anderen erwarten.« Ein bisschen Segen allerdings brauche man auch, das wisse sie. Oft denkt sie an einen anderen Jungen, der zur selben Zeit in Bethel operiert wurde. An den, der sich in den vergangenen acht Jahren kaum entwickelt hat.
Im Garten der Mehlhardts dreht sich bereits das Spanferkel am Spieß.
»Lasset uns beten«, spricht die Pfarrerin. Maurice legt die Schultüte auf die Bank. Er hebt die rechte Hand, dann schiebt er einen Finger nach dem anderen zwischen die Finger der linken Hand. »Warte mal!«, ruft er der Pfarrerin zu. »Bei mir dauert alles ein bisschen länger.« KATJA THIMM