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Schweigen im Frostkeller

Betrugsverdacht im Fall Ötzi: Ist die alpine Steinzeitleiche in Wahrheit eine ägyptische Mumie? War der gefrorene Urtiroler schwul oder ein Kastrat? Seit Monaten ist ein internationaler Forscherklub an der Universität Innsbruck mit der Leichenschau beschäftigt. Derweil blühen die Spekulationen phantasiebegabter Außenseiter.
aus DER SPIEGEL 10/1993

Am 19. September 1991 stießen die Nürnberger Hobby-Bergsteiger Erika und Herbert Simon am Similaun-Gletscher auf ein braunes, lederartiges Gebilde. »Mei, dös is ja a Mensch«, erschrak Erika. Ehemann Herbert prüfte den Fremdling und befand: »Wiederbelebungsversuche sind zwecklos.«

Der mysteriöse, haarlose Leichnam entpuppte sich bald als »archäologischer Jahrhundertfund«. 5300 Jahre lang hatte der auf 15 Kilo Gewicht geschrumpelte Urtiroler im ewigen Eis gelegen - konserviert durch ein fast unglaubliches Zusammenspiel meteorologischer und geographischer Gegebenheiten.

Rund 100 Wissenschaftler aus sieben Nationen sind derzeit mit der Leichenschau beschäftigt. Doch der exklusive Forscherklub gerät zunehmend unter Beschuß. Um den Knochenmann ranken sich zahlreiche Mysterien.

Weshalb ist die Mumie nicht wie jede normale Gletscherleiche wachsweiß? Warum wurde sie nicht von den Scherbewegungen des Gletschers zerrissen und zermalmt? Und weiter: Wieso tauchte ausgerechnet der Alpenhallodri Reinhold Messner als einer der ersten Augenzeugen am Fundort auf?

»Schau mal, da waren die Eier drin«, wunderte sich der Innsbrucker Gerichtsmediziner Hans Unterdorfer beim Anblick des leeren Hodensacks. Auch der Penis des Gipfelstürmers fehlt. Kam das Gemächte bei der Bergung abhanden, oder war Ötzi ein Kastrat?

Das wachsende Unbehagen über den Steinzeitfund, im angelsächsischen Sprachraum: »Frozen Fritz«, hat das britische Fachblatt Nature zu einer vehementen Anklage veranlaßt. Anstatt die merkwürdigen Befunde aufzuklären, so das Magazin, würden unerfahrene Wissenschaftler den Toten abschotten und die Forschung verschleppen.

»18 Monate nach der Entdeckung sind die publizierten Informationen mehr als armselig«, klagen die Autoren Paul Bahn und Katherine Everett. Das Ötzi-Gremium, dominiert von »Österreichern und Deutschen«, arbeite »unkoordiniert«. Ergebnis dieser Wuselei seien »bizarre Gerüchte«.

Walter Leitner, Mitglied des eigens gegründeten »Forschungsinstituts für alpine Vorzeit« an der Universität Innsbruck, zeigte sich letzte Woche »bestürzt« über die Anschuldigungen. Weil Ötzi 92 Meter weit auf italienischem Staatsgebiet lag, hatte ein Paragraphendschungel die Arbeit gehemmt. Erst vor drei Monaten gab Südtirol die Erlaubnis zur Öffnung der Leiche.

Doch merkwürdig: Auch seit der Sektionsfreigabe dringen kaum Neuigkeiten aus dem Frostkeller des Anatomischen Instituts Innsbruck, wo der braunschwarze Kahlkopf bei minus sechs Grad aufgebahrt liegt. Alle Ötzi-Forscher sind durch einen Vertrag mit der Universität zum Schweigen verpflichtet.

Millionenbeträge will die Universität mit Exklusivinformationen und Fotorechten reinholen, um die aufwendige Forschungsarbeit zu finanzieren. »Mit der Vermarktung der Leiche«, so Leitner, »wurde die PR-Agentur Ethik und Kommunikation beauftragt« - ein Verein mit dem esoterisch klingenden Untertitel »für ganzheitliche Kommunikation«.

Das meiste Geld erhoffen sich die notleidenden Uni-Professoren von einem Prachtband, den der Ötzi-Spezialist Konrad Spindler derzeit für den Bertelsmann-Verlag schreibt. Das Werk erscheint im Herbst und verspricht exklusive Enthüllungen, etwa den Hinweis, daß der Tote viel mehr Tätowierungen hat als bisher bekannt.

Doch je mehr die Forschergilde verstummt, desto besser gedeiht die Fama. Eines der schrillsten Gerüchte wird in Schwulenmagazinen kolportiert: In Ötzis Hintern seien Spermien gefunden worden. Mit kühnen Behauptungen dürfte auch ein Buch aufwarten, das demnächst erscheint: Die Autorin gibt ** Michael Heim, Werner Nosko: »Die Ötztal- _(Fälschung«. Rowohlt Verlag, Reinbek; 172 ) _(Seiten; 29,80 Mark. * Vorn ein ) _(Kupferbeil, dahinter ein angespitztes ) _(Rundholz mit einem Dorn aus Knochen oder ) _(Geweih; rechts eine Steinscheibe mit ) _(Lederschnüren; links hinten ein ) _(Steindolch. ) sich als Reinkarnation des vorzeitlichen Bergsteigers aus.

Angeheizt werden die Spekulationen vor allem von dem kreglen Journalisten Michael Heim. Seit über einem Jahr kobolzt der TV-Mann vom Bayerischen Rundfunk durch die Medien und hantiert mit abenteuerlichen Insinuationen.

Heims Verweise auf »zahlreiche Ungereimtheiten« beim Similaun-Fund münden in einen schrecklichen Verdacht: Demnach hätte ein Mister X die Mumie aufs Dach Europas geschleppt, sie tief im Eis versenkt, mit 5300 Jahre alten Gräsern drapiert und sodann auf Tauwetter gewartet. Seine Ötztal-Recherche erscheint Ende des Monats**.

Ist Ötzi also vielleicht ein Pharao, eine Moorleiche oder eine aus dem Inkaland herangekarrte Hock-Mumie? »Nicht ein einziger Hinweis deutet auf diesen Verdacht hin«, sagt Markus Egg vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz.

Doch der rührige Gletscherdetektiv aus München gewinnt zunehmend Anhänger. Auch der Nature-Artikel zeigt sich von Heims Thesen inspiriert. Obwohl die Autoren »eine Fälschung für nur schwer vorstellbar« halten, sehen sie den Fund von »Wundern«, »Rätseln« und offenen Fragen umgeben.

An der Echtheit der Alpenmumie gibt es jedoch in Wahrheit keine Zweifel. Neue Untersuchungen haben die angeblich »ans Mirakulöse grenzende Konservierung des Toten« (Nature) in ein plausibles Szenario gebündelt.

Demnach starb Ötzi im September den Kältetod. Er wurde von einer dünnen Schneedecke eingeschlossen, die ihn vor Aasvögeln schützte. Dann bliesen Winde durch den luftdurchlässigen Schnee und »dehydrierten« die Leiche. Wissenschaftlern ist dieser Prozeß aus dem Labor bekannt. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und hoher Luftfeuchtigkeit (wie unter der Schneedecke) verwandelt sich Menschenfleisch in eine Art mumifizierte Trockenmasse.

Die Annahme, daß Ötzi im wetterwendischen Herbst starb, kann sich auf Indizien stützen: *___Im Gepäck des Toten wurde eine Schlehbeere gefunden, ____eine typische Herbstfrucht. *___Pollenanalysen im umliegenden Eis ergaben, daß der ____Korpus »im Spätsommer bis Frühherbst« in den Gletscher ____geriet.

Auch über die Todesursache gibt es plausible Annahmen. Der Dörrtiroler weist keine Verletzungen auf. Wahrscheinlich von Süden aufsteigend, so die Annahme, geriet der Bergsteiger in ein Unwetter. Geschwächt vom Aufstieg auf 3200 Meter Höhe, stellte der schmächtige Mann seine Waffen ab und warf sich bäuchlings in eine Felsrinne. Der Kopf ruhte auf einer Grasmatte.

Einzige Rettung hätte in dieser Situation ein beim Toten gefundenes Birkenrindengefäß bedeuten können, das offensichtlich als Glutbehälter diente. In der Dose wurden chlorophyllhaltige Ahornblätter und Holzkohlenreste gefunden. Doch woher Brennholz nehmen? Der Alpenhauptkamm ist eine öde Geröllwüste. Ötzi erfror.

Bei näherer Betrachtung stürzen die im Nature-Artikel vorgetragenen »Ungereimtheiten« in sich zusammen. Überrascht zeigen sich die europäischen Festlandsforscher zudem von der Tatsache, daß sich das renommierte Londoner Fachblatt für den Vortrag der Verdächtigungen einspannen ließ: Die beiden Nature-Kritiker sind gar keine Wissenschaftler. Bahn arbeitet als freier Journalist, Everett filmt für die BBC.

** Michael Heim, Werner Nosko: »Die Ötztal-Fälschung«. RowohltVerlag, Reinbek; 172 Seiten; 29,80 Mark. * Vorn ein Kupferbeil,dahinter ein angespitztes Rundholz mit einem Dorn aus Knochen oderGeweih; rechts eine Steinscheibe mit Lederschnüren; links hinten einSteindolch.

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