MEDIZIN Segensreiche Potentiale
Gewöhnlich hat ein Patient, dem die Ohren klingen und der über Schwindel klagt, kein Glück bei seinen Ärzten. Beide Symptome lassen sich vom Kranken nicht beweisen und vom Doktor nicht widerlegen. Deshalb besinnen sich die Mediziner gern auf ein altes Vorurteil. Es lautet: »Schwindel heißt zu Recht so.«
Das Gefühl des gestörten Gleichgewichts signalisiert aber nicht nur harmlose Befindlichkeitsstörungen oder einen niedrigen Blutdruck. Manchmal verbirgt sich dahinter auch eine Geschwulst der Gehör- und Gleichgewichtsnerven, das »Akustikusneurinom«.
Dieser Tumor gilt als gutartig, weil er nur langsam wächst und keine Tochtergeschwülste (Metastasen) absiedelt. Doch auch der gutartigste Tumor kann zum Tode führen, wenn er nur lange genug wächst. Beim Akustikusneurinom vergehen zwischen dem ersten Auftreten der drei verdächtigen Zeichen - Ohrenklingen, Schwindel, Abnahme der Hörfähigkeit - und der endgültigen Diagnose im statistischen Durchschnitt 4,9 Jahre.
»Das ist doch grotesk«, urteilt Konrad Maurer, Leiter der Abteilung für Klinische Neurophysiologie an der Universitäts-Nervenklinik in Würzburg. Damit die Groteske nicht zur Tragödie für den Kranken wird, hat der Professor nach einer verläßlichen Methode zur Frühdiagnostik gesucht - und sie gefunden, »im Nanovoltbereich«.
Maurer leitet bei dem verdächtigen Patienten mit Hilfe komplizierter Elektroapparaturen sogenannte »akustisch evozierte Potentiale« (AEP) ab. Das sind elektrische Impulse ("Potentiale") von minimaler Stromspannung ("Nanovolt"), die im Gehörnerv erregt ("evoziert") und fortgeleitet werden, wenn akustische Reize das Innenohr treffen. Zu diesem Zweck wird dem Patienten ein Kopfhörer übergestülpt, aus dem in regelmäßigen Abständen ein lautes, aber ultrakurzes Geräusch (Dauer: eine tausendstel Sekunde) kommt. »Der Patient hört nur ein monotones Knacken«, so Maurer, »viele schlafen dabei ein.«
Das macht aber nichts, denn die AEP-Diagnostik ist nicht auf die Mithilfe des Patienten angewiesen. Entscheidend ist vielmehr die Form der Elektrowellen, die vom Schädel »schmerzlos abgegriffen« und 30 Minuten lang aufgezeichnet werden. Aus ihrer Konfiguration läßt sich die Existenz eines Nerventumors beweisen oder widerlegen.
Etwa acht bis zehn Prozent aller im Schädelbereich auftretenden Tumore sind nach Schätzung der Experten Akustikusneurinome. Die Patienten sind oft noch relativ jung, ihr Durchschnittsalter beträgt nur 47 Jahre. Daß die richtige
Diagnose bislang meist erst spät gestellt wird, liegt auch an den Besonderheiten der Geschwulst: Sie entsteht im inneren Gehörgang, einem engen Knochenkanal, der die Verbindung zwischen Innenohr und Gehirn gewährleistet. Hier verlaufen, dicht an dicht, der Hör- und der Gleichgewichtsnerv, beide so dick wie eine Bleistiftmine. Zusätzlich schlängelt sich die Innenohrarterie durch den Knochenkanal.
Beginnen in diesem schmalen Gehörgang die Zellen der Nervenhülle zu wuchern - bildet sich ein »Neurinom« -, so geraten die anderen anatomischen Strukturen rasch unter Druck. Meist geht der Tumor vom Gleichgewichtsnerv aus, verändert jedoch auch die Leistungsfähigkeiten der Hörnerven. Ein komprimierter Hörnerv läßt die elektrischen Wellen nur verzögert passieren. Diesen »Verzug der Impulsfortleitung« macht Maurer sichtbar.
Das neue Untersuchungsverfahren, weiß der 41jährige Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus Erfahrung, »läßt sich relativ rasch erlernen. Wir wollen es nicht mystifizieren«. In »Seminaren für die Praxis« hat er die AEP-Novität, über deren Anwendung er sich 1981 habilitierte, inzwischen etlichen interessierten Kollegen beigebracht. Für 30 000 bis 100 000 Mark bietet die Geräteindustrie mittlerweile auch die entsprechenden Apparate an. Im Herbst letzten Jahres räumte die Bundesärztekammer der AEP-Diagnostik sogar einen eigenen Punktwert ein: Der Könner darf mindestens 80,50 Mark liquidieren.
Die »entscheidende Bedeutung der Früherkennung«, lehrt Maurer seine Hospitanten, »ergibt sich aus der therapeutischen Konsequenz: Ein kleiner, im inneren Gehörgang gelegener Tumor kann unter Schonung der Gesichtsnerven und mit eventueller Erhaltung des Hörvermögens operiert werden.« Auch bleibe ein solcher Patient arbeitsfähig. Bei zu später Diagnose drohen Komplikationen, darunter epileptische Anfälle und dauernde Berufsunfähigkeit.
Bevor das Akustikusneurinom operiert wird, sichern die Neurochirurgen seine Lage und Ausdehnung noch durch weitere, zum Teil jedoch schmerzhafte oder auch riskante Untersuchungsverfahren. Der AEP-Such- ("Screening«-) Test, berichtet Maurer, habe in den Uni-Kliniken, wo er angewendet wird, die Operationstermine deutlich vorverlegt. Als meßbarer Erfolg gilt die geringere Größe der Tumore. »Große Akustikusneurinome«, hofft Maurer, »sollten von nun an der Vergangenheit angehören.«
Doch auch in anderen medizinischen Spezialdisziplinen hat die AEP-Diagnostik nun Konjunktur. Mit ihrer Hilfe lassen sich unter anderem auch Krankheiten des Hirnstamms frühzeitig erkennen. Maurer hat daher, gemeinsam mit zwei Koautoren, über die segensreichen Potentiale schon ein Buch verfaßt.