Zur Ausgabe
Artikel 55 / 88

VISIONEN Sehnsucht nach Größe

Bizarre Technikpropheten haben in Russland Konjunktur: Im Bündnis mit Politikern wollen sie Tunnel nach Alaska graben oder radioaktives Abwasser trinkbar machen.
aus DER SPIEGEL 53/2009

Der Mann, der sich gern einen »modernen Leonardo da Vinci« nennt, will seinem Volk reinstes Wasser einschenken, endlich. Wiktor Petrik, 65, schwere Brille und schüttere Locken, steht in seinem winzigen Labor nahe St. Petersburg. »Schauen Sie nur«, schwärmt der Forscher, »meine Filter reinigen Wasser von jedem Schadstoff.« Sogar von Radioaktivität.

Bald schon will Petrik die verseuchten Abwässer von Kernreaktoren in Trinkwasser verwandeln. Einen einflussreichen Förderer hat er bereits gewonnen: Boris Gryslow, Parlamentschef und Putin-Vertrauter. Die Russische Akademie der Wissenschaften mag Petrik einen Scharlatan schimpfen, auf dem renommierten Petersburger Wirtschaftsforum durfte der schrullige Gelehrte seine Ideen trotzdem vor Wirtschaftsführern und Spitzenpolitikern präsentieren. Hauptsache seine Filter sind Kreml-geprüft: Sie tragen das Bärenlogo der Putin-Partei »Einiges Russland«. Nun hofft Petrik, auch mit anderen Geniestreichen zu reüssieren.

Den Krebs zum Beispiel will er besiegen - und Juwelen billig rein synthetisch herstellen.

Kaum irgendwo auf der Welt fallen Versprechungen bizarrer Technikpropheten auf so fruchtbaren Boden wie in Russland. Hingebungsvoll verschreiben sich hochrangige Politiker hier Projekten, die ebenso absurd wie größenwahnsinnig sind.

Das hat Tradition: Unter Zar Fjodor I. wurde im 16. Jahrhundert die größte Kanone der Welt gebaut, zum Einsatz kam sie nie. Dafür ist sie heute als Denkmal der Großmannssucht im Kreml zu besichtigen, ebenso wie eine sechs Meter hohe Rekordglocke. Schade nur, dass diese mit 200 Tonnen so schwer ist, dass man sie nach einem Brand nicht mehr aus der Mulde hieven konnte, in der sie gegossen worden war. Erst hundert Jahre später wurde sie geborgen.

Zu Sowjetzeiten paarte sich die russische Sehnsucht nach Größe mit dem kommunistischen Machbarkeitsmantra, gewürzt noch mit volkstümlichem Wunderglauben, der etwa die Wahrsagerin Dschuna zur Vertrauten von Generalsekretär Leonid Breschnew aufsteigen ließ. Sein Vorgänger Nikita Chruschtschow mühte sich um reale wissenschaftliche Großtaten. Er wollte den Mais in der Sowjetunion heimisch machen - und zwang Kolchosbauern im kalten Karelien, die ursprünglich aus Mexiko stammende Pflanze anzubauen.

Noch heute weckt die schiere Größe eines Vorhabens zuverlässig das Interesse russischer Spitzenpolitiker. Die Regierung unter Wladimir Putin etwa brachte den Bau eines Megatunnels zwischen Russland und den USA ins Gespräch: Die Röhre solle Alaska mit Russlands fernem Osten verbinden. Dass keine dieser Regionen sich durch besonders reges Verkehrsaufkommen auszeichnet, schien niemanden zu stören. An der Küste vor der Olympia-Stadt Sotschi plante Putin gar, ein Mini-Russland aufzuschütten. Die Ufer der »Föderationsinsel« sollten den Grenzen des Vaterlands nachempfunden sein.

Auch Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luschkow gibt sich gern visionär. Mal träumte er von einer neuartigen Anlage, die wie von Zauberhand Moskaus Müll trenne - per Wasserkraft. Dann wieder wollte er die Hausmeister der Hauptstadt mit Laserkanonen bewaffnen, um Eiszapfen von Dachrinnen zu schießen.

Auch für Russlands Zukunft schmiedet Luschkow Pläne: Zwei der großen Ströme Sibiriens, den Tobol und den Irtysch, will der Stadtvater zum Teil von Norden nach Süden umleiten. Der Mensch, schreibt er in seinem Buch »Wasser und Frieden«, solle die Schöpfung nicht nur bewahren. Seine Aufgabe sei es auch, sie zu vollenden.

In der Realität nehmen sich die Erfolge russischer Forscher und Entwickler freilich bescheiden aus. Ende November las der mächtige Chef der Präsidialverwaltung, Sergej Naryschkin, der Forschungselite seines Landes die Leviten. Man beschäftige zwar ähnlich viele Wissenschaftler wie westliche Länder, die Zahl bedeutsamer Innovationen aber sei »winzig«, klagte er im futuristischen Gebäude der Akademie der Wissenschaften.

Russlands Anteil am Weltmarkt für forschungsintensive Produkte betrage nur ein Prozent - der Deutschlands dagegen das 17fache.

»Wenn wir heute keine ernsthaften Schritte unternehmen«, mahnt auch Wirtschaftswissenschaftler Sergej Sibirjakow, »werden wir von der weltweiten Entwicklung abgekoppelt.« Und dann breitet Sibirjakow, »Berater der Russischen Föderation dritter Klasse«, seinen eigenen Entwurf einer wahrhaft wegweisenden Technologie aus. Der Ökonom, der einen Lehrstuhl an Moskaus Hoher Verwaltungsschule, einer Kaderschmiede der Kreml-Jugend »Naschi - Die Unsrigen«, innehat, will Chinas Fabriken und Europas Metropolen verbinden, quer durch Sibirien. Dazu schwebe ihm ein neues Verkehrsmittel vor: schnell wie ein Flugzeug, bequem wie ein Auto und billig wie die Eisenbahn.

Seine Skizzen erinnern an ein altes deutsches Technologieprojekt mit eher düsteren Aussichten: den Transrapid. »Unserem Transnet aber gehört die Zukunft«, schwärmt Sibirjakow. Morgen schon könne man mit dem Megaprojekt starten, gern auch gleich heute.

Nötig sei dafür nur eines: »der politische Wille«. BENJAMIN BIDDER

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 55 / 88
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten