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MEDIZIN Seuche am Scheideweg

Binnen Tagen hat sich die mysteriöse Lungenkrankheit SARS rund um den Globus ausgebreitet. Jetzt rekonstruieren Experten minutiös den Weg des aus Südchina stammenden Erregers. Hat die entschlossene Seuchenhygiene in Vietnam, Singapur und Kanada nun den Siegeszug des Virus gestoppt?
aus DER SPIEGEL 15/2003

Jeden Abend um 20.30 Uhr nimmt Wolfgang Preiser Kontakt zur Welt auf. Dann berichtet der Frankfurter Virologe in einer internationalen Telefonkonferenz, wie weit er gekommen ist mit der Fahndung nach dem Patienten X.

Ob der Gesuchte noch lebt, ist ungewiss. Sicher ist nur, dass er an der mysteriösen Lungenentzündung SARS erkrankt ist und dass er vermutlich von hier stammt, aus der südchinesischen Provinz Guangdong, wo Preiser zusammen mit drei Kollegen von der Weltgesundheitsorganisation WHO Ende vergangener Woche endlich beginnen durfte mit der Suche nach der Herkunft der Krankheit SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome).

»Unser Ziel ist es, den Erreger an seinen Ursprung zurückzuverfolgen. Hier in Südchina ist er erstmals aufgetaucht«, sagt Preiser im Gästehaus der Millionenstadt Foshan. Das WHO-Team wolle nun »alles so detailliert wie möglich rekonstruieren«.

Die Delegation fährt in einem beigefarbenen Toyota-Bus vor dem Volkskrankenhaus Nr. 1 vor. Nach kurzen Verhandlungen werden die Experten in das weiße Kachelgebäude im hinteren Teil des Krankenhausgeländes gelassen. Drei grüne Schriftzeichen an der Wand verkünden: »Infektionsabteilung«. Hier sind im November die ersten Patienten mit der mysteriösen Lungenentzündung behandelt worden. Seit einem Monat, beteuern die Gastgeber, sei allerdings kein SARS-Fall mehr aufgetreten.

Ob es gelingt, den Patienten X, das erste menschliche Opfer der Krankheit, ausfindig zu machen, ist ungewiss. In dieser Woche will Preiser unter anderem herausfinden, ob im Perlfluss-Delta in letzter Zeit ungewöhnlich viele Hühner, Enten oder Schweine erkrankt sind. Denn möglicherweise ist der Erreger von diesen Tieren auf die Menschen übergesprungen. »Vielleicht«, spekuliert der Deutsche, »hat aber auch einer rohe Quallen gegessen.«

Als weitgehend gesichert gilt nur, dass von hier aus ein Virus seinen Seuchenzug startete, das inzwischen den ganzen Globus in Atem hält. 2353 Infizierte zählte die WHO bis Ende voriger Woche; 84 Menschen sind an SARS gestorben.

In der Millionenstadt Hongkong wagt es kaum noch einer, ohne Mundschutz die Straße zu betreten. Am Flughafen in Bangkok werden die Passagiere zur Fieberkontrolle gebeten, in Toronto erklärten die Behörden Krankenhäuser zum Sperrgebiet, in Singapur zocken die Broker an der Börse mit Mundschutz.

Die gespenstischen Fernsehbilder der Vermummten und der in Überdruckanzügen umhertapsenden Virologen schüren die Angst auch in Europa. Dienstreisen nach Singapur oder Vietnam werden storniert. »Nur wer unbedingt reisen muss, fliegt«, erklärt Fred Bärbock, Sprecher des Volkswagen-Konzerns, der normalerweise täglich etwa zehn Mitarbeiter auf die Reise zu den chinesischen VW-Werken schickt. Und in der ARD musste ein Virenexperte besorgte Zuschauer beruhigen, die wissen wollten, ob sie nun »keine asiatischen Lebensmittel mehr kaufen« dürften.

Auch unter Ökonomen und Politikern grassiert die Angst. Das in Peking geplante Weltwirtschaftsforum wurde abgesagt. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber strich bei der China-Visite die Stadt Hongkong vom Programm. Hamburgs Wirtschaftssenator Gunnar Uldall blieb gleich ganz zu Hause.

Die Zahl der Fernreisenden nach Hongkong ging um 60 Prozent zurück. Schon erwägen Luftlinien, einzelne Maschinen stillzulegen. »Wir wollen doch keine leeren Flugzeuge durch die Gegend fliegen«, sagt Lufthansa-Chef Jürgen Weber. Und Monika Gresser, die in Bonn eine kleine Agentur für Vietnam-Reisen betreibt, wartet vollends vergeblich auf Kundschaft: »Seit drei Wochen keine einzige Buchung.«

Nicht nur die Reisebranche stürzt das Virus in Turbulenzen: Der Hongkonger Aktienindex Hang Seng fiel auf den tiefsten Stand seit viereinhalb Jahren. Pessimistische Analysten ziehen bereits Vergleiche zur großen Asienkrise von 1997.

Ist SARS also die große Seuche des 21. Jahrhunderts, das »neue Aids«, vor dem Experten immer wieder gewarnt haben? Werden die Vermummten demnächst auch durch Frankfurts Straßen eilen, werden bald in Dresden und Köln die ersten Wohnblocks unter Quarantäne gestellt? Oder erlebt die Welt nur eine Woge der Hysterie, die ebenso rasch abebben wird, wie sie entstand? Was schließlich sind weltweit kaum hundert Tote angesichts von jährlich zwei Millionen Tuberkulose-Toten? Warum so viel Aufregung um bisher maximal fünf SARS-Fälle in Deutschland, die zudem allesamt glimpflich verlaufen sind, wenn doch alljährlich 30 000 Deutsche an konventionellen Lungenentzündungen sterben?

Fest steht: SARS ist ein Paradefall dessen, was Mediziner unter dem Namen »emerging disease« ("neu auftauchende Krankheit") fürchten. Entstanden im infektionsbiologischen Hexenkessel Südostasiens, wo durch das enge Zusammenleben von Mensch und Tier immer wieder neue Krankheitserreger entstehen, hat sich ein neues Virus binnen Tagen rund um den Erdball ausgebreitet. Vor allem ein Alptraum der Epidemiologen ist dabei wahr geworden: SARS ist, anders als Aids oder Ebola, wie ein Schnupfen per Tröpfcheninfektion übertragbar.

Wu Meilin, die in der vergangenen Woche den Besuch der WHO-Delegation in Foshan vorbereitet hat, war eine der Ersten, die SARS-Patienten zu Gesicht bekam. Stolz zeigt die Ärztin die Station, die so sorgsam gewienert ist, dass die Patienten vom Fußboden essen könnten. Wus rundes Gesicht ist hinter Mull verborgen. Dieser Maskentyp, verkündet sie, sei weitaus wirksamer als der in Hongkong verwendete.

Als Ende vorigen Jahres die ersten Fälle der atypischen Lungenentzündung eingeliefert wurden, sah Wu noch keinen Anlass zur Beunruhigung. Dass sich im November die Erkältungskrankheiten häufen, ist schließlich nichts Ungewöhnliches. Stutzig wurde die Ärztin erst, als die Antibiotika nicht anschlagen wollten: Hatte sie es nicht mit Bakterien, sondern mit Viren zu tun?

Prompt handelten die Behörden - mit einer Informationssperre. Monatelang erfuhr die Welt nichts von den Sorgen der Ärzte in Guangdong. »An Aufklärungsarbeit«, gesteht Wu, »haperte es wohl.« »Erst als die Presse in Hongkong im Februar berichtete, dass die Leute in Guangdong panisch Essig zur Desinfektion kauften, sind wir aufmerksam geworden«, erzählt Klaus Stöhr, Projektleiter des Globalen Influenza-Programms der WHO.

Wenig später erfährt die ganze Welt davon. Denn am 15. Februar erkrankt in Guangdong der 64-jährige Arzt Liu Jianlun, der zuvor SARS-Patienten behandelt hatte. Er ging als derjenige in die Geschichte der Seuche ein, der den Erreger aus den Armenvierteln Südchinas hinaus in die globalisierte Welt trug. Schon fiebernd fuhr er im Bus nach Hongkong zu einer Familienfeier. Schwer hustend checkt er am 21. Februar im Hotel Metropole ein. Schon am Tag darauf muss er ins Hospital eingeliefert werden, wo er tags darauf stirbt.

Ein internationales Hotel ist einer jener Orte, wo sich die Wege von Menschen aus aller Welt kreuzen - am Frühstückstisch, an der Rezeption, im Fahrstuhl. An einem einzigen Tag steckte Liu Jianlun vor den Fahrstühlen im Hotel Metropole zehn Gäste an.

Einer von ihnen war der chinesisch-amerikanische Geschäftsmann Johnny Chen, 47. Chen reist weiter nach Hanoi, wo er mit grippeähnlichen Symptomen in das Französische Hospital eingeliefert wird. Die Mediziner dort ahnen die Gefahr nicht und untersuchen den Patienten zunächst ohne Handschuhe und Mundschutz. Drei Ärzte und zwei Krankenschwestern bezahlen das später mit ihrem Leben.

Auch die 78-jährige Kwan Sui-chu wohnte im Metropole, ehe sie am 23. Februar in ihre Heimatstadt Toronto zurückkehrte. Wenige Tage später erkrankt sie an Fieber und Husten, ihre Familie pflegt sie zu Hause. Inzwischen stellten kanadische Ärzte 69-mal die Diagnose SARS, sieben Patienten kamen ums Leben.

Noch ein anderer Hotelgast schleppte die Krankheit nach Kanada ein, drei weitere nach Singapur, wo sie wiederum Mediziner und Schwestern ansteckten. Einer der Ärzte aus Singapur landete am 15. März auf dem Rückflug von einem New Yorker Kongress in Frankfurt zwischen - nun hatte SARS auch Deutschland erreicht.

Als ersten Deutschen erwischten die mysteriösen Erreger schließlich einen 72jährigen Rentner aus Hattingen in Nordrhein-Westfalen. Zusammen mit acht weiteren Urlaubern war der Mann Mitte Februar nach Hanoi gereist und startete von dort aus eine dreiwöchige Reise unter anderem in das Mekong-Delta. Der Patient habe dort »in den normalen Wirtshäusern mit der Bevölkerung gesessen und gegessen« und »in einfachen Unterkünften geschlafen«, berichtet Hans-Nikol Macha, Ärztlicher Direktor der behandelnden Lungenfachklinik in Hemer im Sauerland.

Wo genau sich der Patient ansteckte, ist ungewiss. Ein Krankenhaus hat er in Hanoi offenbar nicht betreten. Schon zwei Tage nach seiner Rückkehr litt er an hohem Fieber mit Schüttelfrost. »Ich hielt ihn erst für einen Malariafall«, berichtet Lutz Freitag, Chefarzt für Lungenkrankheiten an der Spezialklinik in Hemer. Bald jedoch war die Diagnose SARS gestellt. »Husten und Luftnot«, kenntlich an »blauen Lippen«, sowie »mehrere Fieberschübe bis an die 40 Grad« beobachtete der Arzt bei dem 72-Jährigen.

Mit Sauerstoff, viel Flüssigkeit und Antibiotika gegen mögliche bakterielle Begleitinfektionen stabilisierten die Mediziner den Patienten. Das Ungewöhnliche an der Krankheit: Offenbar greifen die SARS-Erreger, anders als verwandte Viren, direkt und beidseitig die Lunge an. Flüssigkeit im Lungengewebe, berichtet Freitag, habe zur Atemnot geführt.

Der Tod tritt ein, wenn der Körper schließlich gar keinen Sauerstoff mehr aufnehmen kann, erläutert der Mediziner. Die Organe ersticken dann gleichsam. Der Hattinger Weltenbummler allerdings hatte Glück.

Fälle wie dieser geben den Medizinern Mut: Vielleicht wird sich die Seuche doch frühzeitig eindämmen lassen. Denn die Gefahr wurde - zumindest nachdem sie einmal die westliche Welt erreicht hatte - recht schnell erkannt. Als einer der Ersten hatte der italienische Arzt und WHO-Seuchen-Experte Carlo Urbani, 46, bei der Behandlung von Patienten in Hanoi die Brisanz der scheinbar banalen Lungenentzündung erkannt. Am 12. März gab die WHO eine weltweite Seuchenwarnung heraus.

In täglichen Telefonkonferenzen halten sich die Experten der WHO seither gegenseitig auf dem Laufenden. Epidemiologen beginnen, die Ausbreitung der Krankheit Stück für Stück zu rekonstruieren, um mehr über Ausbreitungswege, Inkubationszeit und die Gefährlichkeit des zunächst noch unbekannten Erregers herauszufinden.

So schnell wie möglich läuft auch die Fahndung nach dem Erreger selbst an. Elf von der WHO ausgewählte Labors aus neun Ländern werden damit beauftragt, darunter das Institut für Medizinische Virologie in Frankfurt am Main und das Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg.

Bei der Analyse des Erbguts des Erregers gerät bald eine eigentlich als eher harmlos geltende Virengruppe ins Visier: Coronaviren, die bei Menschen meist allenfalls ungefährliche Erkältungen auslösen. »Dieser Erreger aber scheint ein völlig neues Virus zu sein, dessen Eigenschaften wir natürlich nicht kennen«, erklärt Bernhard Fleischer, Direktor des Bernhard-Nocht-Instituts.

»Inzwischen«, sagt sein Kollege Stöhr, »sind wir uns so gut wie sicher, dass dieses Coronavirus der Hauptverursacher der Krankheit ist.« Die Erbgutanalyse läuft bereits auf Hochtouren. Mitte dieser Woche, schätzt Stöhr, wird das Ergebnis da sein. Vielleicht wird es helfen zu erklären, warum die gutmütige Coronafamilie einen so aggressiven Spross hervorgebracht hat.

Auch andere entscheidende Fragen sind noch offen: Welche Übertragungswege gibt es eigentlich? Zunächst schien klar, dass ein enger Kontakt zwischen zwei Menschen für eine Infektion nötig ist. Inzwischen jedoch konnten Coronaviren auch im Stuhl der Erkrankten nachgewiesen werden - das heißt, dass auch Schmierinfektionen über Toiletten, Türklinken und U-Bahn-Haltegriffe nicht auszuschließen sind, wie zum Beispiel bei der hochansteckenden Hepatitis A. Inzwischen steht sogar fest, dass zumindest das Erbgut der Viren auch noch nach der Genesung im Stuhl ausgeschieden werden kann.

Doch seit im Wohnblock E der Hongkonger Wohnanlage Amoy Gardens die Krankheit umgeht, rätseln die Epidemiologen, wie es dort den Weg von Mieter zu Mieter fand: War es das Trinkwasser? Die Luft? Die Türklinke?

Am Freitag vergangener Woche gab es vom Hongkonger Department of Health dazu eine erste Hypothese: Neben Block E habe es eine Baustelle gegeben. Die Bauarbeiter, von denen nachweislich einer an SARS erkrankte, hätten den Rohbau als Toilette benutzt. Sind die Viren von dort auf Block E hinübergeweht?

Warum, so ein anderes Rätsel, gibt es unter den Infizierten einige »Super-Spreaders« (Super-Streuer), die offenbar extrem ansteckend sind? Waren das vielleicht vor allem die ersten Infizierten, die besonders aggressive Viren abbekommen hatten?

Auch warum die Krankheit bei verschiedenen Patienten so unterschiedlich verläuft, ist unbekannt. Auf jeden Fall scheint sie nicht, wie die Grippe, bevorzugt die Alten und Kranken dahinzuraffen.

Während all diese Fragen noch auf ihre Antwort warten, sind durchaus schon Erfolge in der Bekämpfung von SARS sichtbar. Sie beweisen, dass klassische Seuchenhygiene, die schon im Mittelalter half, immer noch am besten wirkt - und zwar je früher, desto besser.

In Vietnam, wo WHO-Arzt Urbani, sobald ihm die Gefahr klar war, für strikte Isolierung sorgte, erkrankten zwar zunächst 59 Menschen - auch Urbani selbst zählte zu den Opfern, er verstarb am 29. März in Bangkok. Doch inzwischen kam die Seuche zum Stillstand.

Auch in Singapur scheinen Isolierung und Quarantäne zu greifen. Noch weitaus mehr Glück hatte Deutschland: Der erste SARS-Patient, der Arzt aus Singapur, tauchte erst auf, nachdem die WHO ihren Seuchenalarm ausgesprochen hatte. Die deutschen Ärzte waren gewarnt und konnten den Kranken sofort isolieren. Die Folge: In Deutschland hat sich noch niemand mit SARS angesteckt.

»Wir stehen am Scheideweg«, resümiert Stöhr, »wenn wir jetzt konsequent weitermachen, könnten wir SARS wieder dorthin schicken, wo es hergekommen ist. Wenn wir aber nachlassen, müssen wir uns schon bald daranmachen, einen Impfstoff zu entwickeln.« PHILIP BETHGE,

VERONIKA HACKENBROCH,

ULRICH JAEGER, ANDREAS LORENZ,

ANDREAS WASSERMANN

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