Singender Stein
Im brasilianischen Industriezentrum Sao Paulo kreischten Geigen, schepperten Flügel und Harfe, dröhnten Pauken. Die Akustik war miserabel.
Das befrackte Symphonieorchester spielte in einer Werkhalle der Siemens-Fabrik Lapa. Die 80 Musiker sollten aber nur demonstrieren, daß sie in einer 19 Meter weiten und 6,40 Meter hohen Ringstruktur bequem mit ihren Instrumenten Platz fanden.
Letzte Woche stand das stählerne Riesenrund, wieder zerlegt in seine noch immer gewaltigen Segmente, fertig zum Versand. Das Ständergehäuse einer der größten je konstruierten, insgesamt 3400 Tonnen schweren Dynamomaschine S.221 geht jetzt auf dreimonatige Reise.
Spezialtieflader mit 290 Reifen, bewegt von jeweils drei Zugmaschinen, transportieren die Bauteile 900 Kilometer weit auf eigens verstärkten Straßen, über abgestützte Brücken und durch verbreiterte Unterführungen. Weitere 17 solcher Mammut-Generatoren sollen die Niederlassungen von Siemens und des schweizerischen Elektrokonzerns BBC in Sao Paulo während der kommenden Monate und Jahre nachliefern.
Denn am brasilianisch-paraguayischen Grenzfluß Parana, unweit der mächtigen Wasserfälle von Iguacu, entsteht auf der gegenwärtig wohl größten Baustelle der Erde das leistungsstärkste Wasserkraftwerk der Technikgeschichte.
Von 1982 an wird dort ein sieben Kilometer langer Damm, dessen 190 Meter hohe Hauptmauer den Kölner Dom noch um 30 Meter überragen würde, den Strom auf rund 150 Kilometer Länge stauen; sein Tal, in dem nun letztmals Sojabohnen, Mais und Weizen geerntet werden, wird zum Binnenmeer von der dreifachen Fläche des Bodensees. Bereits Anfang 1983 werden aus dem 1500 Quadratkilometer überflutenden Reservoir erstmals 700 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch eine der 18 Turbinen jagen, soll der erste Generator ans Verbundnetz geschaltet werden.
Für 1988 ist die volle Leistung von 12 600 Megawatt (das Zehnfache eines Atommeilers vom Typ Biblis A) geplant. Dann wird das junge Industrieland Brasilien allein aus diesem Zehn-Milliarden-Dollar-Projekt zweieinhalbmal soviel elektrische Energie ziehen, wie etwa die hochtechnisierte Schweiz verbraucht.
»Itaipu«, singender Stein, hatten die Indios einige rauschend vom Rio Parana umspülte Inselchen genannt. Nun sind die Felsbrocken unter dem Jahrhundert-Bauwerk, dem sie den Namen gaben, begraben.
Mit 60 Tonnen Dynamit wurden auf einen Schlag am 20. Oktober 1978 die Ufer des Stroms aufgesprengt. Seither schießen seine kakaobraunen Fluten -- bei normaler Wasserführung mehr als doppelt soviel wie im Rhein -durch einen zuvor ausgeschürften Umleitungskanal.
Rund um die Uhr türmten inzwischen die »barrageros«, erfahrene Staudammarbeiter, das festungsartige Hauptsperrwerk mit dem rund einen Kilometer langen, 100 Meter hohen Kraftwerksgebäude in das trockengelegte Strombett. Aus dem Basaltgrund ließen sie Wälder von Armierungsstahl wachsen, die sogleich wieder von oben aus sieben Seilbahnen zubetoniert wurden. Das Riesenwerk läuft voll nach Plan: im Report der leitenden Ingenieure über den S.222 Stand der Arbeiten hieß es unter dem 19. April dieses Jahres:
* 23 Millionen Kubikmeter Erdreich (99 Prozent der vorgesehenen Menge) wurden bereits bewegt; 31,5 Millionen Kubikmeter Fels (95 Prozent) sind gesprengt, ausgehoben, zu Schotter gebrochen und als Seitendamm aufgeschüttet oder zu Bausand zermahlen.
* 7,8 Millionen Kubikmeter Beton, der auf sechs Grad Celsius abgekühlt und deshalb in dieser subtropischen Region teils mit Eis aus einer gigantischen Kältemaschine angemacht werden muß, sowie 170 000 Tonnen Stahl sind verbaut; allein das noch fehlende Drittel an Stahlbeton entspricht dem 20fachen Volumen der Möhne-Talsperrenmauer.
* 24 159 Arbeiter waren an diesem Tag auf der Baustelle beschäftigt; jeder dritte kommt aus Paraguay, die übrigen sind -- bis auf 236 Spezialisten etwa aus den USA oder Europa -- Brasilianer.
Das Gemeinschaftswerk der beiden Anrainerstaaten soll vor allem Brasilien über die Schwelle zur voll entwickelten Welt helfen. Das war bereits klar, als sich die Präsidenten Alfredo Stroessner und Ernesto Geisel am 17. Mai 1974 zur Besiegelung des Bauvertrages am Rio Parana die Hände schüttelten.
Das arme Paraguay steuert lediglich Land, Wasser und Arbeitskraft bei. Von der produzierten Elektrizität wird es keine Kilowattstunde brauchen können; der kleine Partner wird vielmehr seinen gesamten Anteil am Strom zur Abzahlung des enormen Kostenanteils zu Vorzugspreisen an den Riesen Brasilien liefern, der praktisch allein plant, managt und finanziert.
Protest gegen das titanische Unternehmen erhob anfangs nur der dritte Parana-Anrainer. Argentinien sah ein eigenes Kraftwerk-Projekt flußabwärts und den Wasserstand in seinen Häfen am Strom gefährdet.
Inzwischen versuchen auch brasilianische Bauern, die der Stausee vertreiben wird, mitunter den Fortgang der Arbeiten zu hindern. Sie klagen über zu geringe Entschädigung und wollen nicht in bisher unerschlossene Regionen umgesiedelt werden.
Aber in Brasilia und in Sao Paulo, das von dem Wasserkraft-Schub am meisten profitieren wird, verfangen solche Einwände wie auch ökologische Bedenken kaum. Itaipu, das belebt noch einmal den technologischen Zukunftstraum in dem von wirtschaftlichen Krisen geplagten Land.
Bei Jahresanfang war Brasilien mit 57 Milliarden Dollar im Ausland verschuldet; über die Hälfte der Exporterlöse mußte es 1980 für Erdöl-Importe ausgeben. Die Inflation erreichte mit 110 Prozent eine Rekordmarke.
Jeden Monat wächst das 120-Millionen-Volk um mehr als 250 000 Menschen. Jedes Jahr braucht es 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze.
»Die Prioritäten der Brasilianer --Frauen, Fußball, Samba -- haben sich verschoben«, erklärte jüngst in Rio de Janeiro ein Industrieberater: »An erster Stelle kommt jetzt Energie.«
Tatsächlich verkündete schon 1979 Präsident Joao Figueiredo ein Aktionsprogramm, das Brasilien vom Zugriff der Opec lösen, seinen Brenn- und Treibstoffbedarf drosseln und zunehmend landeseigene Energiereserven erschließen soll.
So fahren derzeit bereits 400 000 Autos mit reinem Äthanol; bis 1985 sollen es 2,5 Millionen sein. Dem Normalbenzin für die übrigen Wagen sind 20 Prozent dieses Alkohols aus Zuckerrohr beigemischt.
Den Hauptanteil des Energiebedarfs aber sollen schon in wenigen Jahren die großen Flußsysteme decken. Erdöl wird kaum in Kraftwerken verfeuert -- 85 Prozent des benötigten Stroms erzeugt Wasserkraft.
Zum gesamten Energieverbrauch tragen die hydroelektrischen Anlagen zur Zeit knapp 28 Prozent bei. Bis 1985 soll dieser Anteil nach einem Plan des Bergbau- und Energieministeriums auf 38 Prozent steigen, der des Erdöls von 40 unter 24 Prozent sinken.
Allein Itaipu, errechnete das US-Wirtschaftsmagazin »Fortune«, werde bei voller Leistung täglich 100 000 Barrel Öl ersetzen können. Und weitere Wasserkraftwerke, so die 1200-Megawatt-Anlage Emborcacao am Rio Paranaiba, die 1500-Megawatt-Anlage Itaparica am Rio Sao Francisco und neun zusätzliche Turbogeneratoren mit 3000 Megawatt Leistung für den Wasserkraft-Komplex Paulo Alfonso im Nordwesten werden in den nächsten Jahren den Betrieb aufnehmen.
Elektrizität soll die Wirtschaftsstruktur des einstigen Agrarlandes der von Nordamerika und Europa angleichen. Vor zwei Jahrzehnten machte Kaffee 60 Prozent der Exporte aus; diesen Anteil haben inzwischen Industrieerzeugnisse.
Nahe den Bevölkerungszentren jedoch können kaum noch mehr Wasserkraftwerke gebaut werden. Deshalb verfolgt Brasilien, trotz technischer und finanzieller Schwierigkeiten und heftigen S.224 Einspruchs vor allem der USA, ein heikles Prestigeprojekt: die Übernahme westdeutscher Atomtechnologie.
Bei Angra dos Reis ("Bucht der Könige"), südwestlich von Rio de Janeiro, wird in den nächsten Wochen schon ein Reaktor des US-Konzerns Westinghouse erstmals nuklear befeuert. Dort beginnt nun die Siemens-Tochter KWU, nach langwierigen und kostspieligen Gründungsarbeiten, mit dem Bau der ersten zwei von acht geplanten 1300-Megawatt-Kernkraftwerken.
Entsprechend dem deutsch-brasilianischen Atomvertrag von 1975 werden gleichzeitig Anlagen für die Gewinnung, Aufbereitung und Anreicherung von Uran, für die Fertigung von Brennelementen und den Reaktorbau errichtet. Die KWU und andere deutsche Firmen stellen einstweilen Fach- und Führungskräfte und bilden unterdessen brasilianisches Personal aus.
Obwohl der Wert des Cruzeiro zusehends verfällt und die Devisenreserven rasch schrumpfen, will Brasilien bis 1995 für das Nuklearprogramm 18 Milliarden Dollar aufwenden.
Auch dabei strebe sein Land »eine umfassende Lösung« an, betonte vorletzte Woche Paulo Nogueira Batista, Präsident des Staatsunternehmens Nuclebras -- »mit einem Mindestmaß an Abhängigkeit vom Ausland«.
S.222Beim probeweisen Aufbau im Siemens-Werk Lapa in Sao Paulo.*