NEUROWISSENSCHAFT Spiegel hinter der Stirn
Seit Jahren schon hatten die Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti und Vittorio Gallese von der Universität Parma mit Affen experimentiert - aber was da Anfang der neunziger Jahre in ihrem Labor passierte, hatten sie noch nicht erlebt: Das Gehirn ihres Versuchstiers schien regelrecht verrückt zu spielen.
Die Messgeräte der beiden Italiener zeichneten die Aktivität bestimmter Nervenzellen im vorderen Teil der Affenhirnrinde auf. Dort liegen hoch spezialisierte Kommandozentralen, die immer dann aktiv werden, wenn das Tier eine ganz bestimmte gezielte Bewegung ausführt. In dem italienischen Experiment etwa feuerten sie immer, wenn der Affe eine Erdnuss aufhob.
An jenem Tag aber schlugen die Zeiger gänzlich unverhofft aus - der Versuchsaffe saß nur untätig in der Gegend herum. »Wir konnten es einfach nicht glauben«, sagt Rizzolatti noch heute. War das Gerät kaputt?
Den Schlüssel lieferte eine Kleinigkeit, die den Forschern zunächst entgangen war: Just in dem Moment, als die Neuronen des Affen anfingen, außerplanmäßig zu feuern, hatte statt des Affen einer der Forscher eine Erdnuss aufgehoben.
Hatte der Affe das gesehen? Hatte sein Gehirn darauf reagiert, als greife er selber zu? War es denkbar, dass ein und dieselbe Nervenzelle für Beobachten und Auslösen einer Handlung zuständig ist? Das, so war den beiden Entdeckern rasch klar, wäre nicht nur neu, sondern spektakulär: »Wir waren ganz schön aufgeregt«, erinnert sich Gallese.
»Spiegelneuronen« tauften Rizzolatti und Gallese die Nervenzellen mit der verblüffenden Doppelfunktion. Unter diesem Namen begann das Phänomen bald die Phantasie von Forschern unterschiedlichster Fachrichtungen - Psychologen, Philosophen, Sprachwissenschaftlern - zu beflügeln: Auf einmal schien eine direkte Brücke gefunden zwischen dem elektrischen Geflimmer hinter der Stirn und komplexen menschlichen Verhaltensweisen.
Wie werden menschliche Bewegungsabläufe organisiert? Wie lernt der Mensch das Tennis- oder das Geigenspiel? Wie gelingt es ihm, sich in andere hineinzuversetzen? Wie kann er die Absichten anderer erraten? Wie entsteht Mitgefühl? Und wie Kommunikation? Auf einmal schien es, als könnten Spiegelneuronen überraschende Antworten auf all diese Fragen geben.
Das gilt auch für eine Reihe zuvor rätselhafter Alltagsphänomene: Warum etwa ist Lachen ansteckend? Und warum neigt der Mensch dazu, seine Beine ebenso übereinander zu schlagen wie sein Gegenüber?
»Über die Spiegelneuronen befinden wir uns ständig in Kommunikation mit anderen«, erklärt Rizzolatti. Das mache die unbewusste Imitation anderer verständlich. Überraschend sei eher, dass Menschen einander nicht ständig nachäfften.
Doch auch darauf haben Forscher kürzlich eine Antwort gefunden: Sie entdeckten im Gehirn einen Mechanismus, der verhindert, dass die Bewegungsimpulse, die in den Spiegelneuronen entstehen, bis zu den Muskeln weitergeleitet werden.
In emotional besonders aufgeladenen Situationen allerdings versagt dieser Mechanismus offenbar immer wieder. Und auch bei Kindern scheint die Unterdrückung noch nicht völlig ausgereift zu sein. Bei bestimmten Hirnverletzungen und bei einigen Formen der Schizophrenie kann die Imitier-Hemmung verloren gehen. Die Kranken ahmen dann Bewegungen und vor allem Wörter unentwegt nach.
Inzwischen vermuten viele, dass das Wirken der Spiegelneuronen noch weiter- geht: Es könnte die Grundlage für die Fähigkeit sein, Absichten anderer zu erkennen. So konnten Rizzolatti und Gallese zeigen, dass die Zellen offenbar selbst dann aktiv werden, wenn nicht der gesamte Bewegungsablauf beobachtet werden kann. Es reicht, wenn die Absicht, das Ziel einer Bewegung erkennbar ist.
Das könnte im Alltag von großer Bedeutung sein. Denn mehr als eine Bewegung selbst scheint der Mensch deren Ziel wahrzunehmen. »Wenn jemand an einem Zebrastreifen steht«, erklärt Franz Mechsner vom Münchner Max-Planck-Institut für psychologische Forschung, »sehen wir doch nicht: Das eine Bein hat er leicht vorgeschoben, und den Kopf dreht er zur Seite. Wir sehen: Der will die Straße überqueren.«
Wer die Absicht hinter einer Handlung oder den Zweck eines Gegenstands nicht erkennen könne, sagt Mechsner, sei so gut wie blind. So gibt es Hirnverletzte, die zwar noch in der Lage sind, einen Hammer Hammer zu nennen, aber nicht mehr, dessen Funktion zu erkennen. Im Alltag sind sie völlig hilflos.
Das Erkennen von Absichten dürfte auch entscheidend sein, wenn es darum geht, komplexe Bewegungsabläufe nachzuahmen und zu erlernen. »Beim Tennisspielen oder beim Erlernen eines Instruments ahmen wir nicht die Bewegung an sich nach«, sagt Mechsner, »hier ein bisschen den Bizeps anspannen und dann den Trizeps im 45-Grad-Winkel anheben und so weiter. Nein, es geht vor allem darum, das Ziel der Bewegung zu erfassen; uns auf der Geige eine Melodie vorzustellen oder wie der Ball über das Netz fliegt. Dann kommt der Rest fast von selbst.«
»Ich war schon lange der Meinung«, erklärt auch Marcel Braß, Psychologe am Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung in Leipzig, »dass Bewegung und Wahrnehmung viel enger zusammenhängen, als die meisten glauben. Als ich von den Spiegelneuronen hörte, fühlte ich mich darin sehr bestätigt.«
Anders als die Mehrzahl seiner Kollegen glaubt Braß nicht daran, dass für die Steuerung einer Handlung komplexe motorische Programme (etwa: »Tasse heben") entscheidend sind, die dann nur an die Wahrnehmung im Einzelfall ("Tasse 15 Zentimeter vor mir, Henkel 5 Zentimeter über der Tischplatte") angepasst werden.
»Das wäre viel zu kompliziert«, sagt Braß. »Schließlich ist jede Tasse völlig anders.« Entscheidend sei vielmehr, das Ziel, die Tasse zu heben, vor Augen zu haben.
Unter Psychologen ist unumstritten, dass der Mensch ein Meister darin ist, Absichten zu erkennen. Ohne Unterlass deutet er das Verhalten seiner Mitwelt: Ein Mann hebt den Schlüsselbund vom Tisch auf - er will gehen. Eine Frau nimmt ein Handtuch aus dem Schrank - sie will duschen. Ein Kind nimmt den Ball aus dem Regal - es will spielen.
»Theory of Mind« nennen die Forscher jene Vorstellung, die sich ein Mensch vom Innenleben des anderen macht. Ähnlich wie Physiker die Gesetze der Natur ergründen, entwickelt der Mensch alltagspsychologische Theorien darüber, nach welchen Regeln sich andere Menschen verhalten - so jedenfalls glaubten die meisten Forscher bisher.
Alvin Goldman allerdings, Philosoph an der Universität von Arizona, hält das für Unfug: »Stellen Sie sich das doch mal vor: Ein kleines Kind grübelt Tag und Nacht darüber nach, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich seine Mutter wohl verhält. Das ist doch absurd.« Er selbst hat eine andere Vermutung: »Es reicht, sich selbst einfach in die Lage des anderen zu versetzen; wir versuchen, mit seinen Augen zu sehen, und überlegen uns dann, was wir selbst an seiner Stelle tun würden.«
Spiegelneuronen könnten dafür die biologische Grundlage bilden. In einer noch unveröffentlichten Untersuchung, welche die beiden Forscher aus Parma gemeinsam mit Wissenschaftlern der University of Southern California in Los Angeles durchführten, konnten sie tatsächlich nachweisen, dass, während ein Proband die Absichten anderer zu erraten sucht, das Gebiet seiner Spiegelneuronen aktiv ist.
Neuere Forschungen schreiben den Wunderzellen im Frontalhirn immer neue Aufgaben zu. So vermuten einige Experten bereits, dass sie auch mitverantwortlich sind für die Fähigkeit zu Mitgefühl, sozialer Kompetenz und Kommunikation.
Für Letzteres spricht besonders ein anatomischer Befund: Die Spiegelneuronen liegen beim Affen in genau der Region des Gehirns, von der man - aus ganz anderen Gründen - vermutet, dass aus ihr das motorische Sprachzentrum des Menschen, die so genannte Broca-Region, hervorgegangen ist.
»Kann das Zufall sein?«, fragte sich Rizzolatti sofort. Tatsächlich gibt es eine alte Theorie der Sprachentstehung, in die sich die Spiegelneuronen nahezu perfekt einfügen: die »Motor Theory of Speech Perception« von Alvin Liberman aus dem Jahr 1963. Ihr zufolge ging allen heutigen Sprachen ein Kommunikationssystem aus Handgesten und Mimik voraus - ähnlich, wie es auch Affen, wenngleich in sehr primitiver Weise, bereits benutzen. Diese Gesten könnten mit Hilfe von Spiegelneuronen verstanden worden sein.
Langsam wuchs das Gesten-Repertoire - bis es der Urmensch auch um Laute erweiterte. Aus diesen Laut-Gesten wiederum, so jedenfalls vermutet Liberman, gingen dann die Worte der ersten Sprache hervor. VERONIKA HACKENBROCH
* Am Institut für Humanphysiologie der Universität Parma. Indem Experiment soll festgestellt werden, ob beim Beobachten einerHandbewegung auf dem Bildschirm dieselbe Hirnregion aktiv wird, dieauch die Bewegung der eigenen Hand steuert.