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ATOMKRAFT Störfall in Strang A

Weil eine schwarze Serie immer mehr Atommeiler lahmlegt, muß Frankreich teuren Strom im Ausland kaufen. Vorläufiger Höhepunkt der Misere ist ein schwerwiegender Konstruktionsfehler beim modernsten französischen Reaktortyp.
aus DER SPIEGEL 40/1998

Drinnen tauchte ein Geysir die Reaktorhalle in heißen Nebel, draußen an den Steuerpulten floß der kalte Schweiß.

Zehn lange Stunden, eine ganze Nacht, kämpften die Betriebsmannschaften in der Schaltwarte des Atomkraftwerks Civaux-1, 35 Kilometer südöstlich der Stadt Poitiers, gegen die befürchtete Eskalation. Dann, am Morgen des 13. Mai, hatten sie den Ende 1997 in Betrieb genommenen Reaktor wieder unter Kontrolle.

Der schwere Störfall ereignete sich in einem Kraftwerkstyp der jüngsten Baureihe N4. Dem Zufall verdankten die Betreiber, daß die französische Öffentlichkeit von dem dramatischen Zwischenfall wenig Notiz nahm: Tage zuvor war der Skandal um radioaktiv kontaminierte

* Der noch unfertige, inzwischen gestoppte, Block 2 während der Bauarbeiten.

Brennelement-Transporte aufgeflogen -

Journalisten und Atomkraftkritiker waren beschäftigt.

Inzwischen nährt die Panne, die der frühere Atommanager Klaus Traube für den bisher gravierendsten Störfall in einem französischen Druckwasserreaktor hält, grundlegende Zweifel an der Zuverlässigkeit der einst hoch gelobten Atomtechnik jenseits des Rheins. Was in der »Nacht der nuklearen Angst« ("Libération") geschah, belastet nicht nur das Ansehen, sondern auch die Bilanzen der französischen Atomwirtschaft.

Gegen 19.45 Uhr am Abend des 12. Mai hatten die Displays in der Schaltwarte des 1450-Megawatt-Meilers einen plötzlichen Druckabfall im primären Kühlkreislauf gemeldet. Kurz darauf schlugen die Brandmelder im Reaktorgebäude an, weil sie heißen Wasserdampf als Rauch deuteten. Schließlich signalisierten Sensoren steigende Wasserpegel im sogenannten Reaktorsumpf, dem tiefsten Punkt des Sicherheitsgebäudes.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die Diagnose eindeutig: Der Hauptkühlkreislauf verlor ständig große Mengen Wasser. Doch kein Instrument gab Auskunft, wo sich das Leck befand und wie es verursacht worden war.

Die Reaktorfahrer taten, was die Betriebshandbücher für diesen Fall vorschreiben. Ohne Unterlaß speisten sie frisches Wasser nach, um das durch die Leckage verlorene zu ersetzen und die lebenswichtige Kühlung des Reaktorkerns zu sichern.

Erst im Morgengrauen, als Druck und Temperatur im Kühlkreislauf absanken und sich der Nebel im Reaktorgebäude lichtete, entsandten die Verantwortlichen einen Stoßtrupp mit Schutzanzügen in das Containment-Innere.

Neun Stunden nachdem sich der Riß geöffnet hatte, gelang es den Technikern endlich, das Leck in Strang A des Nachkühlsystems zu orten. Gegen 5.40 Uhr wurde die defekte Leitung abgesperrt.

Rund 300 Kubikmeter kontaminiertes Wasser hatte das Kühlsystem während der Nacht durch den Riß ausgespien, annähernd drei Viertel einer kompletten Füllung des primären Kühlkreislaufs, ein Zehntel des gesamten Wasservorrats, der im Reaktorgebäude als Kühlreserve gelagert ist.

Dabei hatten die Betreiber des Reaktors im Département Vienne noch Glück im Unglück:

* Der neue, gerade erst in Betrieb genommene Reaktortyp enthält weniger Radioaktivität als ein alter, das Kühlwasser, das sich als heißer Dampf im Containment niederschlug, war vergleichsweise gering kontaminiert.

* Der Reaktor, erst im Probelauf, war bereits seit sechs Tagen abgeschaltet, als sich der Riß an einer Rohrkrümmung im Nachkühlsystem öffnete. Die Brennstäbe im Kern des Atommeilers produzierten in dieser Phase nur noch wenig Hitze. Nach dem Absperren des defekten Rohrs konnte der zweite Strang des Nachkühlsystems die Ableitung der Restwärme allein bewältigen.

Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln, die den Civaux-Störfall für die deutsche Nukleargemeinde auswertete, beklagte später »Handlungsunsicherheiten« - eine diplomatische Umschreibung für die Ratlosigkeit, die während der heißen Phase in der Schaltwarte und unter den in der Nacht eingeschalteten Spezialisten des staatlichen Reaktorbetreibers Electricité de France (EdF) geherrscht hatte.

Als ein Kardinalproblem des neuen französischen Meilers erwies sich der Umstand, daß es - konstruktionsbedingt - überaus schwierig war, das Leck kurzfristig zu orten. »Die haben eine Lektion erteilt bekommen, aus der sie hoffentlich die richtigen Schlüsse ziehen«, urteilt ein GRS-Experte.

Doch es kam noch schlimmer. Als Werkstoffexperten der EdF den defekten Rohrkrümmer Ende Mai im Labor unter die Lupe nahmen, wurde klar, daß das Rohr nicht, wie anfangs angenommen, aufgrund eines Herstellungsfehlers zu Bruch gegangen war, sondern unter dem Einfluß brutaler Temperaturwechsel - Folge eines kapitalen Konstruktionsfehlers: Die Herstellerfirma Framatome hatte den geschweißten Krümmer unmittelbar neben einer Rohrweiche plaziert, durch die während des Probebetriebs mit hoher Frequenz abwechselnd kaltes und heißes Wasser strömte, je nachdem ob das heiße Kühlwasser über den Nachkühler oder über einen Bypass direkt in den Kreislauf zurückgeleitet wird (siehe Grafik).

Die EdF-Verantwortlichen entschlossen sich daraufhin zu einem beispiellosen Schritt in der Geschichte der französischen Atomindustrie: Sie stoppten die ganze Bauserie. Der Reaktorkern von Civaux-1 wurde entladen, ebenso die Kerne der beiden 1996 und 1997 gestarteten N4-Blöcke am Standort Chooz in den Ardennen. Die noch für dieses Jahr geplante Inbetriebnahme eines zweiten Blocks in Civaux rückte in weite Ferne.

Nun arbeiten Framatome-Ingenieure an der Um- und Neukonstruktion des Nachkühlsystems. Nachdem schon die in den N4-Meilern eingesetzten konventionellen Turbinen unter massiven Anlaufschwierigkeiten litten, gerät das jüngste und leistungsstärkste Framatome-Produkt damit schon zum zweitenmal unter den Verdacht mangelnder Zuverlässigkeit.

Das Debakel trifft die französischen Atomstromer zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Die atomare Rückholaktion der N4-Reihe ist nur der Höhepunkt einer schwarzen Serie, die die einst kraftstrotzende Branche in Frankreich schwer belastet.

Schon seit Anfang der neunziger Jahre erzwingen Risse an den Steuerstabdurchführungen der Reaktordeckel das bisher aufwendigste Austauschprogramm in der französischen Reaktorflotte. Mittlerweile sind 24 Druckbehälter mit neuen Stahlhauben bestückt (Stückpreis: rund 15 Millionen Mark). Trotz der Nachrüstung tropft immer mal wieder säurehaltiges Kühlmittel nach außen, wo es neue Korrosionsherde bilden kann.

Ende 1997 fiel völlig unerwartet ein 1300-Megawatt-Block der Atomzentrale Flamanville bei einem Drucktest der inneren Containmenthülle durch, der routinemäßig nach jeweils zehn Betriebsjahren fällig wird. Seit der Inbetriebnahme hatte sich die Leckrate nahezu verdoppelt.

Die Betonhülle, die bei dem Test überprüft wird, soll nach schweren Unfällen den unkontrollierten Ausstoß radioaktiver Gase verhindern. Inzwischen hat sich das Problem poröser Containment-Wände ausgeweitet und zur Abschaltung weiterer Reaktoren im elsässischen Cattenom und in Belleville-sur-Loire geführt.

Mit einer aufwendigen Kunstharzauskleidung müht sich die EdF, das Problem in den Griff zu kriegen. Nach ersten Versuchen in Cattenom meldeten die Ingenieure eine Absenkung der Leckrate. Doch mußten sie gleichzeitig eingestehen, daß die zur Abdichtung eingesetzte Kunstharzschicht offenbar nur unzureichend auf dem Betonuntergrund haftet.

Um die Wiederinbetriebnahme der beiden abgeschalteten Blöcke der Atomzentrale Belleville entwickelte sich im Sommer ein monatelanges Tauziehen zwischen der EdF und der zuständigen Umweltministerin Dominique Voynet. Die EdF möchte die Reparatur bis zum nächsten regulären Brennelement-Wechsel in 18 Monaten verschieben. Die grüne Atomaufseherin dagegen verlangt strikte Einhaltung der Vorschriften und die Abdichtung des Containments vor dem Wiederanfahren des Kraftwerks.

Ergebnis der Querelen und Rückschläge: In Frankreich, dem Mekka der weltweiten Atomgemeinde, stehen derzeit 6000 Megawatt Atomstromleistung ungeplant nicht zur Verfügung, fast zehn Prozent der nationalen Reaktorleistung.

Reguläre Stillstände für Revisionsarbeiten und Brennelement-Wechsel verschärfen die Lage. Nach einer Aufstellung der Atomsicherheitsbehörde DSIN von Mitte September sind derzeit von 59 französischen Leistungsreaktoren 15 nicht am Netz.

Die Folge: Der französische Strommonopolist EdF, noch vor nicht allzu langer Zeit wegen massiver Überkapazitäten im In- und Ausland kritisiert, fahndet seit Monaten in den Nachbarländern nach freien Stromkapazitäten. Gebraucht wird der Importstrom auch, um langfristige Exportverpflichtungen erfüllen zu können.

Im Juli lancierte der staatliche Strommonopolist offenbar gezielt einen internen Alarmruf an die Öffentlichkeit, in dem für den Fall eines strengen Winters mit massiven Stromunterbrechungen gedroht wird. Wenn es wirklich ernst wird, könnte die EdF auch auf alte Kohle- und Ölkraftwerke zurückgreifen, die derzeit in Reserve gehalten werden. Doch die haben den gleichen Nachteil wie kurzfristig ausgehandelte Importverträge: Sie sind teuer und versauen die Bilanz.

Für Mycle Schneider, den Leiter des Pariser Weltinformationsdienstes für Energie und Träger des alternativen Nobelpreises, liegt der tiefere Grund für die akute Stromnot der Franzosen in deren Totalabhängigkeit von Atomkraftwerken: Sie decken normalerweise fast 80 Prozent des französischen Strombedarfs.

Schneider ist überzeugt, daß Nuklearstrom in Zukunft auch in Frankreich Marktanteile verlieren wird. Pannenserien wie die aktuelle, meint er, beförderten diese Entwicklung.

Darauf gibt es erste Hinweise. So wecken die porösen Containments unter Fachleuten Zweifel an der von der EdF tapfer propagierten 40jährigen Lebenserwartung der französischen Meiler.

Die möglichen Folgen bewertete kürzlich das staatliche Commissariat Général du Plan in einem Szenario im Auftrag des Pariser Industrieministeriums. Danach würde bei einer durchschnittlichen Reaktorlebensdauer von nur noch 30 Jahren die Atomstromkapazität schon ab 2007 dramatisch zurückgehen - mit entsprechenden Auswirkungen auf die Stromproduktion in den folgenden Jahrzehnten.

Eine Privatisierung der staatlichen Stromwirtschaft vorausgesetzt, werde die Logik der privaten Kraftwerksbetreiber zu einem massiven Einsatz von Gas-Kombiturbinen anstelle von Atomkraftwerken führen, heißt es in der Expertise der staatlichen Zukunftsforscher.

Schon im Jahr 2020 wäre die französische Energiewirtschaft nach diesem Szenario nicht wiederzuerkennen: Erdgas hätte Uran als dominierenden Rohstoff für die Stromerzeugung abgelöst.

[Grafiktext]

Thermoschock im Rohr Der Unfall im französischen Atomkraftwerk Civaux-1 Das Leck entstand, als der Reaktor ab- geschaltet war. Der Riß war die Folge lokal rasch wechselnder Temperaturen ("thermische Ermüdung") entlang einer Rohrkrümmung in Strang A des Nach- wärmesystems. 300 Kubikmeter radio- aktiv verstrahltes Wasser spritzten ins Reaktorgebäude. Nach Ortung des De- fekts wurde der Bereich abgesperrt und die Nachwärme über den verbliebenen Strang B abgeführt.

[GrafiktextEnde]

[Grafiktext]

Der Unfall im französischen Atomkraftwerk Civaux-1

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Thermoschock im Rohr Der Unfall im französischen Atomkraftwerk Civaux-1 Das Leck entstand, als der Reaktor ab- geschaltet war. Der Riß war die Folge lokal rasch wechselnder Temperaturen ("thermische Ermüdung") entlang einer Rohrkrümmung in Strang A des Nach- wärmesystems. 300 Kubikmeter radio- aktiv verstrahltes Wasser spritzten ins Reaktorgebäude. Nach Ortung des De- fekts wurde der Bereich abgesperrt und die Nachwärme über den verbliebenen Strang B abgeführt.

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[Grafiktext]

Der Unfall im französischen Atomkraftwerk Civaux-1

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* Der noch unfertige, inzwischen gestoppte, Block 2während der Bauarbeiten.

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