MUSIKWISSENSCHAFT Täler des Wohlklangs
Wer würde bei Beethovens »Mondscheinsonate« ausgerechnet an winselnde, fiepende Hunde denken? Banausen oder Spötter vielleicht. Ganz sicher aber der amerikanische Musikforscher Norman Cook.
Der Mann ist überzeugt, das zarte, umnachtete Klavierstück trage insgeheim das Erbe primitiver Tierlaute in sich: Der Komponist, als er eine Tonart im melancholischen Moll wählte, habe nicht nur seiner Eingebung gehorcht - im Spiel seien, behauptet Cook, auch uralte Instinkte gewesen.
Cook war einmal Atomphysiker, dann verschrieb er sich der Psychologie, und heute ist er Professor für Informatik an der japanischen Kansai-Universität. Stets aber war der Vielbewanderte mit den großen Bewusstseinsfragen befasst. Seit Jahren geht er dem Verdacht nach, dass in unserer Musik, ob fröhlich oder traurig, ob Dur oder Moll, noch immer das urtümliche Lautgebaren anklingt, mit dem Säugetiere ihre Rangordnung auskämpfen: im Dur das Grollen und Röhren des Starken, im Moll hingegen das Winseln und Schniefen des Schwächeren, der sich am Ende trollt.
Ein altes Rätsel weckte im Forscher die Neugier: Warum unterscheiden die meisten Menschen Dur von Moll fast so geläufig wie hell von dunkel? Warum bleibt zumindest die populäre Musik so eisern dem Doppel der Tongeschlechter treu?
Ein Stück wie »Smoke on the Water« von Deep Purple, keine Frage, muss in düsterem g-Moll erklingen; das unbeschwerte »Ob-la-di, Ob-la-da« der Beatles in B-Dur. Moll, so scheint es, ist wie gemacht fürs Grübeln und Brüten, Dur dagegen für Festmusiken und Kinderlieder, für Nationalhymnen und Stadiongesänge.
Dur und Moll sind die Stimmungspole der abendländischen Musik. Ihr Magnetismus wirkt heute, fünf Jahrhunderte nach ihrer Entdeckung, mächtiger denn je. Alle Welt versteht das Prinzip; es ist - in Gestalt von Popmusik und Klassik - einer der großen Exportschlager des Westens. Selbst Asiaten, deren Musikkultur bis heute keinerlei Harmonien hervorbrachte, verehren einen Vladimir Horowitz als großen Pianisten, lassen sich vom Dur-Dreiklang gern vergnüglich stimmen und schmachten seufzend zum Moll.
Was ist es, das die westlichen Harmonien dem Gefühl so leicht erschließt? »Niemand konnte das erklären«, sagt Cook.
Dabei ist das bloße Klanggeschehen denkbar schlicht: Der Dur-Dreiklang unterscheidet sich von seinem Spiegelbild in Moll nur um einen einzigen versetzten Halbton (siehe Grafik) - so kurz ist der Weg von der Zuversicht in die düster gründelnde Schwermut.
Cook tüftelte und ließ seine Computer rechnen; jetzt präsentiert er eine Lösung. Er glaubt, dass er nachweisen kann, wie aus elementaren Tierlauten Dur und Moll wurden. Nebenbei fiel noch eine allgemeine Theorie der Misstöne ab.
Es war eine Detektivarbeit. Cook fing mit einer einfachen Tatsache an: Beim Dur- wie beim Moll-Dreiklang liegen die drei Töne verschieden weit auseinander. Akkorde mit zwei gleichen Abständen klingen dagegen unbehaglich, ja beklemmend. Wer »Alle meine Entchen« singt und dabei die »Entchen« um einen Halbton zu hoch anstimmt, bekommt eine Ahnung, wie symmetrische Intervalle den Ohren zusetzen. Auf den Anfangssilben der drei Wörter liegt ein sonderbarer Akkord, den Musiker »übermäßig« nennen.
Übermäßige Akkorde klingen unbestimmt, ja unerlöst, denn ihr Grundton ist kaum auszumachen. Sie schweben ortlos wie im Nichts und scheinen einer unbeseelten Physik entsprungen. Wo sie in der Musik vorkommen, verlangen sie nach Auflösung, nach Einordnung auf einer vertrauten Tonleiter. Das ist leicht getan: Es genügt, einen beliebigen ihrer drei Töne um einen Halbton hinauf- oder hinunterzuversetzen, und schon ist die unheimliche Symmetrie beseitigt.
Cook sah, dass sich dabei ein interessantes Muster zeigt: Die Auflösungen nach unten ergeben stets einen Akkord in Dur, nach oben dagegen in Moll. Und in ebendiesem Gesetz will der Forscher das Erbe des alten Säugetiers erkannt haben.
»Abwärtsfallende Töne zeigen im Tierreich oft Dominanz an«, sagt Cook. Kämpfende Rivalen senken zum Beispiel die Stimme, um größer zu erscheinen. Droht der eine dagegen zu unterliegen, so zieht er seine Stimme instinktiv empor; er fiept, er macht sich klein, um Gnade zu erlangen. Verhaltensforscher sprechen vom Frequenzcode der Säugetiere.
Auch in der menschlichen Sprache kommt dieser Code zum Vorschein. Fallende Tonkurven stehen meist für Dominanz und Zuversicht; sie sind typisch für den Kommandoton ("Basta!"), können aber auch Ruhe und Trost ausstrahlen. Wer die Sprechmelodie jedoch ansteigen lässt, erscheint unsicher, betont harmlos, im Grenzfall unterwürfig.
In der Musik, meint nun Cook, gehe es nicht anders zu. Dur steht für Selbstsicherheit und Auftrumpfen, Moll ist Betrübnis, Mutlosigkeit, »Mondscheinsonate«. Was Poeten als Seufzer der Kreatur besingen, nennt der Forscher, etwas nüchterner, die Resignation des Schwächeren. »Jeder Dur-Akkord entsteht durch einen Abwärtsschritt aus dem physikalisch neutralen Tonspektrum, jeder Moll-Akkord durch einen Aufwärtsschritt«, sagt Cook. »Das Gehör versteht das instinktiv als Frequenzcode.«
Durch die Musik anderer Kulturen sieht Cook sich bestätigt: Fast alle vermeiden neutrale, gleiche Abstände zwischen den Tönen. Man singt, fiedelt und klöppelt durchweg auf Tonleitern, deren Sprossen verschieden weit voneinander entfernt sind. Eine jede Skala hat ihr eigenes Profil aus kleineren und größeren Abständen; es wird vom Gehör so eindeutig verstanden wie ein Barcode vom Kassenscanner.
Dennoch steht Cook mit seinen Thesen gegen die Mehrheit der Musikwissenschaftler. Dort herrscht die Ansicht vor, welche Tonart den Menschen düster oder fröhlich stimme, sei fast ausschließlich kulturell geprägt. Im Übrigen könne er sich an so gut wie alle Harmonien gewöhnen.
Unerklärt bleibt damit freilich, warum die Welt sich gerade an Wohlklänge in Dur und Moll am allerliebsten gewöhnt. Kann es Zufall sein, dass Japaner wie von selbst in Pop und Klassik des Westens hineinfinden, aber Westler nur unter Mühe in die Finessen der japanischen Kunstmusik?
Der Leipziger Hirnforscher Thomas Fritz hat den Umgang mit Harmonien am lebenden Denkorgan untersucht. Wohlklänge, so fand er, werden im Hörzentrum des Gehirns bevorzugt verarbeitet, Dissonanzen nehmen eher einen anderen Weg (siehe Grafik). Das zeigte der Kernspintomograf am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, wo Fritz arbeitet. Mehr noch: »Bei den Konsonanzen«, sagt Fritz, »wurden Regionen aktiv, die auch beteiligt sind, wenn die Menschen ihre
Stimme gebrauchen.« Das Gehirn scheint also in die Konsonanz geradezu innerlich einzustimmen.
Allerdings sagt das noch nichts über die Frage, wer bestimmt, was überhaupt ein
Missklang ist. Die Gene? Die Physik? Oder doch die Gewohnheit?
Fritz machte sich deshalb auf nach Afrika, zum Bergvolk der Mafa in Kamerun. Die Mafa haben ihre sehr eigene Musik; die des Westens dagegen ist ihnen unbekannt. In dem entlegenen Dorf, das Fritz ansteuerte, gab es nicht einmal Batterien
für ein Transistorradio - ideal für Studien am unverbildeten Musikgeschmack. Im Gepäck hatte Fritz eine Sammlung tanzbarer Stücke von Bach bis Tango - je einmal im Original und einmal am Computer künstlich mit Dissonanzen versetzt.
Die Mafa hörten sich das Potpourri aufmerksam an. Die verzerrten Versionen sagten ihnen zwar insgesamt weniger zu, doch wenn ihnen das Original gefiel, ließen sie, zu des Forschers Erstaunen, auch die Verunstaltung gelten. Als Fritz den Mafa aber ihre eigene Musik auf die gleiche Weise verfremdet präsentierte, lehnten sie dies entschieden ab. Ihr Hörerlebnis war sichtlich geformt von der Vorstellung, wie Musik zu sein habe.
In manchen Punkten besteht aber Einigkeit unter den meisten Kulturen. Zweiklänge, die nur einen oder einen halben Tonschritt umfassen, schneiden bei Experimenten besonders schlecht ab; schon vier Monate alte Säuglinge reagieren darauf mit Unmut. Größere Intervalle werden, je nach Vorliebe, eher hingenommen. Als besonders harmonisch aber gelten Oktaven oder Quinten, vermutlich weil ihre Schwingungszahlen in einem simplen Verhältnis zueinander stehen.
Viele Forscher haben schon versucht, den Grad der Abneigung aus der Physik der Klänge zu erklären - mit wenig Erfolg. Die Berechnungen passten nie ganz zum ermittelten Hörgefühl. »Kein Wunder«, sagt nun der Aufrührer Cook, »die haben immer nur Intervalle aus zwei Tönen untersucht. Die Harmonie ergibt sich aber erst aus dem Dreiklang.«
Cook ließ seinen Computer deshalb die Verträglichkeit aller erdenklichen Dreiklänge durchkalkulieren, und zwar mitsamt ihren Obertönen. Diese schwingen über dem Grundton in bestimmten Lagen hörbar mit; sie verleihen ihm sein Klangprofil, und sie tragen auch ihren Teil zum Zusammenspiel von Akkorden bei. Selbst wenn die Grundtöne leidlich harmonieren, kann doch im Gewirr der Obertöne allerhand Reibung und Zwietracht ausbrechen.
Das Ergebnis der Berechnung ist verblüffend und auch noch hübsch anzusehen: Der Computer schuf eine Art Landkarte der Harmonien, ein dreidimensionales Höhenprofil, auf dessen Gipfeln, Kämmen und Graten seiner Kalkulation zufolge die Misstöne angesiedelt sein müssten - je höher, desto anstrengender.
Nur zwei einfache Grundannahmen stecken in dem Rechenwerk: Symmetrische Akkorde klingen unangenehm, und sehr enge Tonabstände mag auch kaum ein Mensch - und siehe da, die Rechnung ging auf. Die Landkarte des Computers, so versichert Cook, entspricht genau dem experimentellen Befund. Die Dissonanzen verteilen sich über die Höhenzüge, die Harmonien in Dur und Moll dagegen liegen drunten in den Tälern des Wohlklangs.
»Die Komponisten der Renaissance haben das alles von allein entdeckt«, sagt Cook. Probierend und studierend rückten sie von einem Akkord zum nächsten vor, bis sämtliche Täler besiedelt waren, die schöne Klänge versprachen.
Im 15. Jahrhundert fühlten die Tonsetzer sich in der Tat wie Entdecker eines Kontinents voller Wunder. Die Musik vor ihnen kannte nur simple Intervalle; über den Zweiklang hatte sie nicht hinausgefunden. Nun aber schwelgte man in immer neuen magischen Schwebungen des Mehrklangs.
Die Entdeckung der Harmonien gelang in Europa und sonst nirgendwo. Andere Weltgegenden haben ehrwürdig komplexe Musiksprachen hervorgebracht, sie haben Vierteltöne und Zwölf-Elftel-Takte. Harmonien aber haben sie nicht.
Der Münchner Musikpsychologe Rolf Oerter weiß dafür eine Erklärung. Sie beginnt mit Pythagoras. Der antike Denker experimentierte bereits mit einer schwingenden Saite; er teilte sie in der Mitte und auf dem Drittel ihrer Länge, er sann über Schwingungen nach und entdeckte die Obertonreihen, die für den Zusammenklang so entscheidend sind. »Nirgendwo außerhalb Europas verband sich die Musik so gründlich mit der Wissenschaft«, sagt Oerter. Noch im Spätmittelalter galt die »Musica« zusammen mit Geometrie und Arithmetik als ein Teilfach der Mathematik.
Das war das Rüstzeug, mit dem die Komponisten als Architekten mehrstöckiger Harmonien auftrumpfen konnten. »Sie mussten nur ihre Melodien und Rhythmen möglichst einfach halten«, sagt Oerter, »sonst funktioniert der Zusammenklang nicht.«
Dieser Zwang zur Schlichtheit schuf ein global verständliches Idiom, das auch ohne langwierige Einübung einleuchtet. Und wenn Norman Cook recht behält, ist nun auch geklärt, warum all diese Harmonien so verschieden aufs Gefühl wirken.
Die Forschergemeinde bleibt dennoch skeptisch. »Man kann die schönsten Sachen ausrechnen«, sagt der Musikpsychologe Reinhard Kopiez aus Hannover. »Aber was hat das mit der Realität des Hörens zu tun? So was ist sehr schwer zu belegen.«
Auch Cook muss einräumen, dass die Musik voller Abweichungen von der Regel ist: War nicht schon Franz Schubert bekannt für sein »trauriges Dur«? Seine Melodie vom Lindenbaum ("Am Brunnen vor dem Tore ...") klingt wie in Moll gesetzt.
Die legendären bulgarischen Frauenchöre wiederum verdanken ihren gellenden Gesang der Vorliebe für kleine Intervalle im Sekundenabstand, die eigentlich verboten klingen. Andere Beispiele von Dissonanzen gibt es zuhauf. Selbst die Popmusik ist voll davon; ohne lästerlich verzerrte Gitarren und andere Nervtöne käme sie gar nicht mehr aus.
Viele Menschen lernen ja auch gegen alle angeborene Abneigung, Kaffee zu lieben. Am Erbgut ändert das freilich gar nichts: Kleinkindern bittere Getränke einzuflößen ist nicht ratsam.
Cook würde nicht bestreiten, dass in der Musik alles möglich ist. »Auch Dissonanzen haben ihre Reize«, sagt er. »Aber es zieht uns doch immer wieder zu den wohltuenden Harmonien zurück.« MANFRED DWORSCHAK
* In Kamerun.* »Musikalische Gesellschaft«, Gemälde von Pieter Coecke vanAelst (1502 bis 1550).