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Raketenabwehr: Drohnen gegen Atomwaffen

Foto: DARPA

Abwehrsystem Tarnkappen-Drohnen sollen Atomraketen abschießen

Es ist ein neuer Schlag gegen die geplante Raketenabwehr der USA: Forscher halten das bisherige System für wirkungslos - und üben scharfe Kritik an Politikern, die eine funktionierende Abwehr vorgaukeln. Jetzt sollen Tarnkappen-Drohnen startende Atomraketen abschießen.

Atomraketen von Schurkenstaaten können den USA nichts anhaben - das ist die Botschaft, die US-Politiker gern unters Volk streuen, wenn sie über die Nationale Raketenabwehr reden. Zahlreiche Fachleute halten das für ein gefährliches Hirngespinst - und eine neue Studie untermauert diesen Standpunkt erstaunlich deutlich.

Im Zentrum der Kritik der US-Rüstungsexperten George Lewis und Theodore Postol steht die aktuelle Nuklearstrategie der Vereinigten Staaten, die das Pentagon im April veröffentlicht hat. Im "Ballistic Missile Defense Review"  werde die Raketenabwehr als "erprobt und effektiv" beschrieben. Das sei ein "alarmierender technischer Mythos", schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt "Bulletin of the Atomic Scientists" . "Das Verteidigungsministerium hat bisher nichts vorgelegt, das darauf hindeutet, dass die Abwehrsysteme jemals im Krieg funktionieren würden."

Nur zwei von Dutzenden Tests der vergangenen 13 Jahre hätten realistische Bedingungen simuliert - und ausgerechnet diese beiden Versuche, die 1997 und 1998 stattfanden, seien gescheitert. Die Behauptung des Pentagons, die USA seien schon heute vor einem Raketenangriff geschützt, sei "phantastisch, unverfroren und gefährlich", so Lewis und Postol. Sie schlagen eine neue Lösung des Problems vor: Tarnkappen-Drohnen sollen feindliche Raketen unmittelbar nach dem Start abschießen.

Abschuss per Tarnkappen-Drohne

Die Start- oder auch Boostphase, in der eine Langstreckenrakete beschleunigt und ins All getragen wird, dauert in der Regel rund drei Minuten. In dieser Zeit ist die Rakete relativ langsam, leicht zu orten und weit entfernt von ihrem Ziel. Bisher waren Experten allerdings skeptisch. 2003 etwa erklärte die American Physical Society den "Early Intercept" für nicht praktikabel: Die Kürze der Startphase mache es nahezu unmöglich, das Ziel rechtzeitig zu identifizieren und erfordere die Stationierung extrem vieler Abfangraketen in unmittelbarer Nähe des Startortes. Das Pentagon hatte für den Startphasen-Abschuss bisher lediglich den "Airborne Laser", eine gewaltige Energiewaffe in einer Boeing 747, vorgesehen. Laut der aktuellen Nuklearstrategie soll nun zumindest die Machbarkeit des "Early Intercept" mit Hilfe bereits vorhandener Technik erforscht werden.

Dazu ist im Pentagon-Papier von einer schnelleren Erfassung und Identifizierung startender Interkontinentalraketen die Rede - nicht aber von dem, was Lewis und Postol jetzt vorschlagen. Sie glauben, die bisherigen Probleme beim "Early Intercept" ließen sich mit Hilfe von Tarnkappen-Drohnen lösen, die mit schnell fliegenden Abfanggeschossen ausgerüstet sind.

Keine Bedrohung mehr für Russland?

Derartige Stealth-Drohnen befinden sich bereits in der Erprobungsphase - wie etwa die X-47 "Pegasus" des US-Rüstungskonzerns Northrop Grumman. Da sie für Radaranlagen so gut wie unsichtbar sind, könne der Angreifer nie wissen, ob seine Atomrakete schon kurz nach dem Start abgeschossen würde, meinen Lewis und Postol. Außerdem könnten die Stealth-Drohnen unbemerkt in feindlichen Luftraum eindringen und so die alles entscheidende Entfernung zur Startrampe der Langstreckenrakete verkürzen.

Rüste man die Drohnen mit Abfanggeschossen aus, die eine Höchstgeschwindigkeit von fünf Kilometern pro Sekunde erreichen, könne das Abwehrsystem jede Abschussrampe in Iran abdecken, rechnen die Forscher vor. Selbst bei einem weniger fortschrittlichen Abfanggeschoss, das nur vier Kilometer pro Sekunde schnell fliege, habe man beste Chancen auf einen Abschuss.

Noch einfacher sei es im Fall von Nordkorea, da das Land wesentlich kleiner sei als Iran und die Drohnen ungestört über den angrenzenden Meeren oder gar im russischen Luftraum operieren könnten. Um der Gefahr eines Raketenangriffs zu begegnen, müssten lediglich zwei Drohnen ständig in der Luft sein. Dafür sei eine Flotte von vier bis fünf unbemannten Fliegern erforderlich, heißt es in dem Fachartikel.

Der "Charme" dieses Vorschlags bestehe darin, dass Russland sich nicht mehr bedroht fühlen müsste, meint Götz Neuneck vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Uni Hamburg. Wie auch Lewis und Postol betonen, sei der "Early Intercept" mit Hilfe von Stealth-Drohnen in dieser Form nur für den Abschuss einzelner Raketen geeignet. "Die Russen könnten ein solches System allein mit der großen Zahl ihrer Raketen spielend überwinden", so Neuneck.

Warum auch Stealth-Drohnen keine absolute Sicherheit bieten - und die Gefahr noch vergrößern könnten

Laut dem neuen Start-Vertrag, den US-Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Dmitrij Medwedew in diesem Jahr unterzeichnet haben, dürfen beide Länder weiterhin 1550 einsatzfähige nukleare Langstreckenwaffen besitzen. "Ein ganzes russisches Raketenfeld ist mit wenigen Stealth-Drohnen nicht auszuschalten", sagt Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). "Außerdem können die Russen ihre Raketen auch von mobilen Rampen abschießen."

Iran und Nordkorea verfügen dagegen derzeit nur über Flüssigtreibstoff-Langstreckenraketen, die von stationären Rampen aus gestartet werden müssen. Zudem können sie erst unmittelbar vor dem Start betankt werden, da Teile ihres Kraftstoffs aggressiv sind. Derartige Vorbereitungen, die etwa 24 Stunden dauern, wären per Satellit sofort sichtbar.

Zweifel am Drohnen-Konzept

Dennoch bezweifelt Neuneck, dass der "Early Intercept" mit Stealth-Drohnen funktionieren kann. "Wenn ein Staat eine nukleare Abschreckung anstrebt, will er auch erreichen, dass er seine Raketen ohne Vorwarnung starten kann", so Neuneck. Würden die Iraner Silos für ihre Raketen bauen, könne man die Startvorbereitungen per Satellit nicht mehr erkennen. "Natürlich würde man vorher den Bau der Silos sehen", meint Neuneck. "Welche Folge das hätte, wäre aber eher eine politische als eine technische Frage."

Lewis und Postol aber sind sicher, dass die Stealth-Drohnen-Methode funktionieren kann. Denn sie basiere, anders als die teils futuristischen Konzepte des Pentagons, auf bereits vorhandenen Technologien. Außerdem laufe die Zeit davon: Iran habe bereits Technologien demonstriert, welche die bisherigen amerikanischen Abwehrsysteme nutzlos machen würden.

Neue iranische Raketen hätten beispielsweise keine Heckflügel mehr. Das Abwehrsystem könne so nicht mehr erkennen, wo sich der Sprengkopf befinde, und das Gehäuse überschlage sich im Flug. Solche Raketen "würden die Abfanggeschosse leicht überwinden, bevor sie den Atomsprengkopf orten und treffen könnten", so die Forscher. Das hätten schon Erfahrungen aus dem Golfkrieg von 1991 gezeigt: Irakische Raketen, die sich im Flug überschlugen, hätten die amerikanischen "Patriot"-Abwehrraketen vor unlösbare Probleme gestellt.

Gegenmaßnahmen erschweren Abschuss

Auch andere Maßnahmen machen den erfolgreichen Abschuss einer anfliegenden Rakete schwierig oder gar unmöglich. So kann die Oberstufe einer Interkontinentalrakete nach dem Ausstoß des nuklearen Sprengkopfs gesprengt werden - der Gefechtskopf fliegt dann in einer Wolke von Schrott durchs All. Für das Radar des Verteidigers wäre er kaum noch zu finden.

Atomraketen können außerdem Ballons, Störsender, heiße Aerosole oder Metall-Täuschkörper freisetzen. Sie alle würden die Zahl der potentiellen Radar- und Infrarotziele derart erhöhen, dass nur extrem aufwendige Suchtechnik oder aber eine große Zahl von Abfanggeschossen die Vernichtung des anfliegenden Sprengkopfs garantieren könnten. Am Ende ist der Angreifer aber immer im Vorteil: Egal, ob er seine Raketen mit Täuschkörpern ausstattet oder einfach mehr Raketen baut - er hat immer einen geringeren technischen Aufwand als der Verteidiger.

Kritiker wenden deshalb schon seit Jahren ein, dass es grundsätzlich kein Raketenabwehrsystem mit hundertprozentiger Sicherheit geben könne - was angesichts der Zerstörungskraft einer einzigen Atomwaffe aber notwendig sei. "Unter kritischen Experten herrscht Einigkeit, dass die bisherigen Systeme kaum mehr als eine Subvention für die Rüstungsindustrie waren", sagt der Berliner Fachmann Nassauer.

Auch Neuneck hält die Kritik von Postol und Lewis an den Versprechungen des Pentagons für berechtigt. "Der Beweis der technischen Reife des US-Raketenabwehrsystems unter realen Bedingungen ist mitnichten erbracht", sagt der Physiker. "Die Tests waren bislang eher Grundlagenforschung als realistische Versuche." Vor diesem Hintergrund sei es "skandalös", wenn in der Politik von einem heute schon existierenden vollständigen Schutz vor ballistischen Raketen gesprochen werde. Solche Behauptungen kommen inzwischen nicht mehr nur aus Washington. Erst vergangene Woche warb Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Russland für die Raketenabwehr. Dabei war gar von einem "gemeinsamen Sicherheitsdach von Vancouver bis Wladiwostok" die Rede.

Warnung vor nuklearer Katastrophe

Doch Kritik gibt es auch am Konzept von Lewis und Postol. Aufgrund ihrer Tarnkappen-Eigenschaften sind die unbemannten Flieger klassische Angriffswaffen - und könnten neben startenden Atomraketen auch jedes andere Ziel beschießen. Dass die Drohnen für eine funktionierende Raketenabwehr außerdem ständig in der Luft sein müssten, dürfte die potentiellen Gegner der USA und eine Reihe weiterer Staaten nicht unbedingt beruhigen.

"Bewaffnete Drohnen erzeugen ihre eigenen Probleme mit Destabilisierung und neuen Bedrohungen", sagt Jürgen Altmann, Physiker an der TU Dortmund. Denn die Technologie werde kein "Quasi-Monopol" der USA und Großbritanniens bleiben, erklärt der Physiker mit Hinweis auf die öffentlichkeitswirksame Vorstellung einer iranischen Drohne im August.

"Wenn wir als Nation nicht erkennen, dass unser Verteidigungssystem unzuverlässig ist und kein robustes und verlässliches mit existierender Technologie bauen", so die finstere Warnung von Lewis und Postol, "dann haben wir es uns selbst zuzuschreiben, wenn die USA zum Opfer einer Katastrophe werden."

Neuneck aber befürchtet, dass die Fixierung auf die abstrakte Bedrohung durch ballistische Raketen genau das herbeiführen könnte. "Eine Atomwaffe kann man auf viele Arten ins Ziel bringen", so der Physiker. Eine ballistische Rakete sei die technisch schwierigste, fehleranfälligste und aufwendigste Methode. Viel einfacher sei es, eine Atombombe etwa an Bord eines Schiffes zu verstecken und in einem Hafen zur Explosion zu bringen.

"Deshalb ist es vielversprechender, iranische oder nordkoreanische Atomwaffen von vornherein zu verhindern, als vorzugaukeln, sich mit einem Raketenabwehrsystem schützen zu können", so Neuneck. "Denn ob ein solches System funktioniert, weiß man erst im Kriegsfall."

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