AKW Fukushima Stabil am Abgrund
Wie viel Zeit bleibt den Arbeitern in Fukushima noch, um die Havariereaktoren irgendwie unter Kontrolle zu bekommen? Die kommenden Tage werden darüber entscheiden, ob der Reaktor einigermaßen kontrolliert abkühlen kann - oder ob es doch zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität kommt. Besonders düster klang die Prognose, die Thierry Charles gab, Direktor für Anlagensicherheit beim Institut für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit (IRSN) in Paris: "In den nächsten 48 Stunden entscheidet es sich", sagte er am Mittwoch. Gelinge es nicht, das Abklingbecken bis dahin wieder aufzufüllen, werde eine "sehr bedeutende" Verseuchung die Folge sein.
Ganz so ist es dann doch nicht gelaufen. Graham Andrew von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA sagte am Freitag: Die Situation in der Anlage sei sehr ernst, habe sich aber in den vergangenen Stunden nicht verschlimmert. ( Alle Nachrichten im Liveticker).
Tatsächlich muss es als Erfolg der japanischen Bemühungen gewertet werden, dass es bisher nicht zur ganz großen Katastrophe in Fukushima gekommen ist. Denn noch liegen die Strahlenwerte in der Nähe der Meiler vergleichsweise niedrig. Mit starker Betonung auf dem Wort "vergleichsweise". Eine "gewisse Dichtigkeit der Reaktordruckbehälter" müsse es noch geben, sagte Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Der Zustand ist definitiv ernst, aber er könnte sich auf einem kritischen Niveau stabilisieren.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat erklärt, dass von Fukushima derzeit keine unmittelbar gesundheitsschädliche Strahlenbelastung für das weitere Umland ausgeht. Doch wird das auch so bleiben? "Sonnabend wird sich das entscheiden", sagte Sebastian Pflugbeil, Chef der Gesellschaft für Strahlenschutz, dem Fernsehsender n-tv. Entweder weite sich Fukushima zu einer "Katastrophe schlimmer als Tschernobyl" aus, oder man käme mit einer "ganz kräftigen Schramme noch mal gerade so davon". Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) nannte den Zustand des Reaktors "anhaltend kritisch".
Die Kühlung der Reaktoren und der Abklingbecken der Reaktoren 1 bis 4 ist entscheidend. In den Reaktoren könnte sonst eine Kernschmelze einsetzen beziehungsweise weiterlaufen. Dabei entstehen leicht flüchtige Radioisotope wie Cäsium 137. Außerdem frisst sich die heiße Masse langsam nach unten durch das Reaktorgebäude. In den Abklingbecken könnten sich trocken gefallene Brennstäbe entzünden. Die Hitze des Feuers würde dann wohl größere Mengen radioaktiver Partikel nach draußen schleudern.
"Ich halte solche Schätzungen für sehr gewagt"
Am Donnerstag waren Hubschrauber im Einsatz, am Freitag setzten die japanischen Einsatzkräfte allein auf Wasserwerfer, vor allem am Block 3. Nach Angaben der BBC versprühten sie innerhalb von 40 Minuten etwa 50 Tonnen Wasser. Am Reaktor 3 hat man Angst vor dem hochgiftigen Plutonium in den Brennstäben. Nebenan, im Block 4, ist das - zumindest zum Teil - trocken gefallene Abklingbecken das Problem. Darin liegt auch der Reaktorkern des vierten Blocks, wegen Wartungsarbeiten in der Zeit vor dem Erdbeben.

"Ich kann bestätigen, dass dort noch Wasser im Pool ist", sagte eine Sprecherin der japanischen Atomaufsicht. Daten zum exakten Wasserstand konnte sie allerdings nicht nennen. Die Lobby-Organisation Japan Atomic Industrial Forum erklärte am Freitag, über Reaktor 4 sei Wasserstoff nachgewiesen worden. Das heißt, dass die Hüllen zumindest einiger Brennstäbe sich wegen der großen Hitze zersetzen - und dass Explosionsgefahr besteht. Nach einer Übersicht des Bundesumweltministeriums befinden sich in dem Abklingbecken bis zu 1279 Brennelemente.
"Die Brennelementbecken machen mir mehr Sorgen als die Reaktoren. Das ist echt kritisch", sagte Reaktorsicherheitsexperte Hans-Josef Allelein von der RWTH Aachen im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Trotzdem wollte er keine Prognose darüber abgeben, wie viel Zeit den japanischen Katastrophenschützern noch bleibt. "Ich halte solche Schätzungen für sehr gewagt." Zu wenig wisse man über den Zustand der Kühlsysteme und die Bemühungen, die Brennelementbecken wieder aufzufüllen.
Noch immer läuft das Notkühlsystem in weiten Teilen der Anlage nicht. Lediglich in den weitgehend unzerstörten Blöcken 5 und 6, so meldet die Betreiberfirma Tepco, sei die Notstromversorgung inzwischen wieder in Betrieb. Nach Angaben der IAEA ist dazu ein Diesel-Generator im Einsatz. Am Samstag könnte die Stromversorgung am Reaktor 4 wieder hergestellt werden, sagt die Betreiberfirma Tepco. Die Japanische Atomsicherheitsbehörde hatte zuvor bereits in Aussicht gestellt, dass zu diesem Zeitpunkt auch die Blöcke 1 und 2 wieder versorgt werden könnten.
Das Problem: Zum Zustand der Technik in den teilweise völlig zerstörten Reaktorhallen gibt es keine genauen Angaben. Auf Fernsehbildern sehen die von Wasserstoffexplosionen verwüsteten Gebäude aus wie nach einem Bombenanschlag. Nuklear-Experte Knebel hofft drauf, dass zumindest die Notkühlsysteme an der sogenannten Kondensationskammer wieder in Betrieb genommen werden können. Sie liegen unter dem Reaktordruckbehälter. "Wenn diese Notkühlsysteme zum Laufen gebracht werden können, bekommt man Wärme aus dem Kreislauf heraus."
Das Kühlen ist dann eine monate-, wohl eher jahrelange Aufgabe. Im Übrigen ist bereits das geplante Anschalten des Stroms für die Notpumpen nicht ohne Risiken. "Wenn es zu einem Kurzschluss kommt, könnten wichtige Komponenten unwiederbringlich verlorengehen", warnt Sicherheitsexperte Allelein.