Fotostrecke

Stresstest: Atomkraftwerke europaweit im Sicherheitscheck

Foto: dapd

EU-Stresstest Oettinger will Versicherung gegen AKW-Unfälle

Die EU rüffelt Europas Atomindustrie. Laut einem Stresstest gibt es bei vielen Kernkraftwerken Mängel - auch in Deutschland. EU-Kommissar Oettinger verlangt nun eine Versicherung gegen Unfälle. Der Strompreis könnte dadurch steigen.

Brüssel/Hamburg - Norddeutschland leuchtet grün auf Erdbebenkarten, dort sind keine starken Erschütterungen aus den vergangenen Jahrtausenden bekannt. Geologen erwarten in der Region schlimmstenfalls leichtes Zittern. Dennoch fordert die Europäische Union (EU) in ihrem AKW-Stresstest, der am Donnerstag in Brüssel vorgestellt wurde, Erdbebenwarngeräte für die Atomkraftwerke in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Von denen sind nur noch Brokdorf, Emsland und Grohnde aktiv.

"In jedem Kernkraftwerk sollten seismische Messinstrumente vorhanden sein, um eventuelle Erdbeben zu messen und anzukündigen", teilt die EU-Kommission mit. In den AKW im Rest der Bundesrepublik sind dem Stresstest zufolge keine entsprechenden Nachrüstungen notwendig.

Zwar lassen sich Beben nicht vorhersagen. Doch unmittelbar nach einem Erdstoß kann der Betrieb von Atomkraftwerken vor dem Eintreffen zerstörerischer Bodenschwingungen umgestellt werden. So können mögliche Schäden verringert werden. Deshalb gibt es Erdbebenwarngeräte, die vorauseilende, aber harmlose Bebenwellen registrieren.

Ernster erscheint ein anderes Ergebnis der EU-Analyse: Mehrere deutsche Meiler haben dem Stresstest zufolge möglicherweise Probleme bei stärkeren Erschütterungen. Auch hier nennt die EU zwar die eigentlich nicht gefährdeten AKW in Norddeutschland. Zudem werden die Anlagen Isar und Grafenrheinfeld aufgeführt. Sie liegen in Regionen, in denen Beben nicht ausgeschlossen werden können. Beide AKW würden dem Stresstest zufolge Erschütterungen von einem Zehntel der Erdbeschleunigung womöglich nicht standhalten; solch ein Wackeln ist bei Erdbeben aber zu erwarten. Bereits frühere Studien hatten die Bebensicherheit deutscher AKW in Frage gestellt.

Fotostrecke

Erdbeben in Europa: Wo der Boden gewackelt hat

Foto: GFZ

Auf dem Prüfstand standen in Deutschland zwölf Standorte mit 17 Reaktoren. Einen Mangel haben dem Test zufolge alle deutschen AKW: Die Anleitungen für schwere Unfälle seien nicht optimal umgesetzt. Damit sei nicht sichergestellt, ob im Ernstfall optimal reagiert werden könnte.

Der zuständige EU-Energiekommissar Günther Oettinger will nun eine Pflichtversicherung gegen Unfälle von Atomkraftwerken einführen. "Ich denke, dass bestimmte Versicherungspflichten verbindlich vorgeschrieben werden sollten", sagte Oettinger. Dadurch sollten unter anderem die Vollkosten für Kernkraftstrom noch mehr einer ehrlichen umfassenden Vollkostenrechnung entsprechen als es derzeit geschieht.

Oettinger will Vorschläge für eine mögliche Versicherungspflicht im Frühjahr vorlegen. Er räumte ein, dass dies den Strompreis verteuern und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit von Atomstrom sicher nicht stärken werde. Sein Auftrag sei es aber nicht, "durch Sicherheitsdumping den Kernkraftstrom billig zu machen."

Umweltminister Altmaier fordert Konsequenzen

Generell sei die Situation der AKW in der EU aber "zufriedenstellend", sagte Oettinger. "Doch zufrieden geben sollten wir uns damit nicht." Alle beteiligten Behörden müssten darauf hinwirken, dass in jedem Kernkraftwerk in Europa "die höchsten sicherheitstechnischen Standards eingehalten werden".

Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) fordert Konsequenzen aus dem Stresstest. Er verlangt vergleichbare Kriterien für Europa. Bei der Umsetzung der Empfehlungsmaßnahmen der EU-Kommission werde Deutschland allerdings den Atomausstieg bis 2022 miteinbeziehen: "Es ist natürlich wenig vermittelbar, wenn Deutschland jetzt noch stark nachrüstet und Frankreich nicht, obwohl die Atomkraftwerke dort noch 20 Jahre in Betrieb sind", sagte Altmaier am Donnerstag in Wien.

Fast alle der 145 Reaktoren in den EU-Ländern haben der Analyse zufolge Sicherheitslücken. Die wichtigsten Mängel sind demnach:

  • In 121 Reaktoren müssen Erdbebenmessgeräte installiert oder nachgerüstet werden.
  • Bei 32 Reaktoren fehlen mit Filtern ausgestattete Abluftsysteme in der Sicherheitsumschließung, um bei einem Unfall den Druck im Reaktorbehälter gefahrlos ablassen zu können.
  • Bei 81 Reaktoren lagert die Ausrüstung zur Bekämpfung schwerer Unfälle nicht an einem Ort, der rasch zugänglich ist und auch bei Verwüstung unversehrt bleibt.
  • In 24 Reaktoren fehlt ein Ersatzkontrollraum, falls der Hauptkontrollraum nicht mehr betreten werden kann.
  • Nur in 54 Reaktoren wenden die Betreiber die aktuellen Standards für die Risikoeinschätzung bei Erdbeben an. Zur Einschätzung der Überflutungsgefahr trifft dies auf 62 Reaktoren zu.

Die beanstandeten Betreiber müssten nach Ansicht der EU-Kommission nachrüsten - vorschreiben kann Brüssel dies aber nicht. Der Test deckte vor allem bei französischen Kernkraftwerken zahlreiche Mängel auf. Kritikpunkte sind oft fehlende oder ungenügende Erdbebenmessgeräte, die sichere Lagerung von Unfallausrüstung und Mängel bei der Prüfung von Erdbeben- und Flutgefahren.

Die Fachleute kritisieren für quasi alle französischen Standorte die Lagerung von Unfallausrüstung und sehen Mängel bei der Prüfung von Erdbeben- und Flutgefahren. Das gilt auch für Frankreichs ältestes Atomkraftwerk Fessenheim direkt am Rhein, das bis Ende 2016 stillgelegt wird.

Gefahren in Deutschlands Nachbarländern

In den Niederlanden weist das AKW in Borssele vier Kritikpunkte von der Umsetzung der Leitlinien bis zur Lagerung der Notfallausrüstung auf. Wenig zu beanstanden hatten die Experten bei den belgischen Reaktoren in Doel und Tihange.

Mehr Anlass zur Kritik gab es in den ehemaligen Ostblockstaaten Tschechien und Bulgarien, wo bei allen geprüften AKW Schutzvorrichtungen gegen Gasexplosionen nach schweren Unfällen fehlen. Das gilt auch für Rumänien und die Slowakei. Diesen Punkt bemängelt die EU-Kommission auch in Schweden, Spanien und Großbritannien.

Besonders schwerwiegende Mängel belegt der EU-Report für zwei Werke - Olkiluoto in Finnland und Forsmark in Schweden -, wo die Betreiber weniger als eine Stunde Zeit haben, um nach einem kompletten Stromausfall oder einem Ausfall der Kühlsysteme die Sicherheitssysteme wieder hochzufahren.

Um die Mängel zu beheben, müssten die Betreiber EU-weit nach Berechnung der EU-Kommission für alle 134 noch laufenden Reaktoren in den kommenden Jahren zwischen 10 und 25 Milliarden Euro investieren. Der Löwenanteil entfällt dabei auf Frankreich, das besonders viel Strom aus Atomkraft erzeugt. Innerhalb der EU setzen derzeit 14 von 27 Staaten auf Kernenergie.

Als Reaktion auf das Atomunglück im japanischen Fukushima hatte die EU europaweit alle 145 Nuklearreaktoren - aktive und stillgelegte - auf ihre Sicherheit geprüft. In Deutschland waren es zwölf Anlagen: Biblis, Brokdorf, Brunsbüttel, Emsland, Grafenrheinfeld, Grohnde, Gundremmingen, Isar, Krümmel, Neckarwestheim, Philippsburg, Unterweser.

boj/dpa/Reuters
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten