Wettlauf um Raketentechnik "Die Amerikaner wollen Europa aus dem Weltraum kicken"

Modell einer "Ariane 6" auf der Luft- und Raumfahrtmesse ILA in Berlin (April 2018)
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFPWeißer Rauch stieg im Januar auf über Lampoldshausen. In einem baden-württembergischen Teststand des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) zündeten Ingenieure damals das mächtige Raketentriebwerk "Vulcain 2.1" zum ersten Mal. Bei einer Reihe von Tests sollten seine Eigenschaften genau geprüft werden.
Mit einer Schubkraft von 130 Tonnen soll das teils im 3D-Drucker gefertigte Aggregat dabei helfen, die zukünftige "Ariane 6"-Rakete ins All zu bringen. An ihr arbeiten Europas Staaten derzeit mit Milliardenaufwand - um die zuverlässige, aber nicht mehr wettbewerbsfähige "Ariane 5" abzulösen.
Gefertigt werden die neuen Raketen unter anderem in Bremen und in der Nähe von Paris, abheben sollen sie dann vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana. Dort entsteht derzeit die neue Startrampe. In zwei Jahren soll es von dort aus den Jungfernflug geben.

SpaceX: Rakete startet mit Tesla ins All
Doch die "Ariane 6" hat ein Problem: Sie ist im Vergleich mit der amerikanischen Konkurrenz zu teuer. Konkret geht es um die Raketen des - von der US-Regierung kräftig unterstützten - Privatunternehmens SpaceX. Die sind - gebraucht - für etwa 50 Millionen Dollar pro Start zu haben. Es ist ein Preis, den die "Ariane 6" unter keinen Umständen erreichen kann, selbst wenn - wie versprochen - die Kosten im Vergleich zur "Ariane 5" halbiert werden.
SpaceX-Chef Elon Musk hat außerdem in Aussicht gestellt, dass die Startkosten mit der neuesten Version seiner "Falcon 9"-Rakete ("Block 5") sogar noch einmal kräftig sinken werden. Was also soll Europa tun? Von den Billigangeboten der Amerikaner profitieren - auch auf die Gefahr hin, dass die irgendwann enden? Oder mit Milliardenaufwand einen eigenen Zugang zum All behalten?
Alain Charmeau ist Chef der Ariane Group. Im Interview erklärt er, dass Musk seine Kampfpreise aus seiner Sicht nur dank massiver Hilfe aus Washington anbieten kann - und welche Probleme sich die Europäer dadurch einhandeln können. Ob seine Argumente Europas Staats- und Regierungschefs überzeugen, wird sich zeigen. Nur wenn sie der "Ariane 6" einen Grundstock von Einsätzen garantierten, würde die Rakete auch wirklich in Serie gebaut, so Charmeau.

Alain Charmeau ist Chef der Ariane Group. Das Unternehmen, ein Joint-Venture von Airbus und Safran mit 9000 Mitarbeitern, ist für den Bau der "Ariane"-Rakete verantwortlich. Der Franzose arbeitet seit 2005 für den Airbus-Konzern, davor war er beim europäischen Rüstungsunternehmen MBDA. Charmeau hat an der Elitehochschule École Nationale Supérieure d'Arts et Métiers in Paris und dem California Institute of Technology in Pasadena studiert.
SPIEGEL ONLINE: Die neue "Ariane 6"-Rakete soll im Juli 2020 das erste Mal starten. Kriegen Sie das hin?
Charmeau: Ja. Wir liegen im Plan.
SPIEGEL ONLINE: Damit das Projekt kein Rohrkrepierer wird, brauchen Sie Unterstützung. Europas Regierungen sollen sich verpflichten, eine bestimmte Menge an Raketen zu kaufen. Welche Zusagen haben Sie mittlerweile?
Charmeau: Der erste Start ist mit dem Entwicklungsvertrag finanziert. Jetzt brauchen wir Kunden für Starts Nummer zwei, drei und so weiter. Immerhin eine Bestellung haben wir schon von der EU-Kommission erhalten.
SPIEGEL ONLINE: Dort will man zwei Raketen für "Galileo"-Navigationssatelliten kaufen.
Charmeau: Nach unseren Plänen brauchen wir insgesamt fünf Starts im Jahr 2021 und acht im Jahr 2022. Ein Teil davon muss von den Regierungen oder der EU-Kommission abgenommen werden.
SPIEGEL ONLINE: Was stellen Sie sich konkret vor?
Charmeau: Wir denken an insgesamt vier "Galileo"-Starts, dazu eine Sonde der Esa, außerdem je eine deutsche und eine französische Regierungsmission. Wir brauchen ein klares Signal, dass wir mit der Produktion der weiteren Raketen anfangen können. Und wir brauchen insgesamt sieben Verträge für garantierte Starts. Bis Ende Juni.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt sportlich. Und warum ausgerechnet bis Ende Juni?

"Ariane 6" Rakete
Foto: ArianeGroupCharmeau: Weil die Produktion der ersten Rakete schon läuft. Unsere Fabriken, unsere Teams brauchen jetzt weitere Aufträge, um die Arbeit fortzusetzen. Der zweite Start der "Ariane 6" soll ja schon Ende 2020 oder Anfang 2021 stattfinden, je nach Kundenwunsch. Das ist in weniger als drei Jahren.
SPIEGEL ONLINE: Was passiert, wenn Sie die Verträge bis Ende Juni nicht haben?
Charmeau: Ohne Verträge müssten wir die Produktion anhalten.
Teuer für Washington, billig für Europa - aber warum?
SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, dass Sie Regierungsaufträge brauchen, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig startet die deutsche Bundeswehr ihre "SARah"-Aufklärungssatelliten auf Raketen der US-Firma SpaceX. Wie passt das zusammen?
Charmeau: Deutschland gibt viel Geld für die "Ariane 6" aus und hat seinen Anteil um 20 Prozent im Vergleich zum Vorgänger "Ariane 5" erhöht. Ich bin überzeugt, dass die deutsche Regierung Interesse an der Auslastung der Werke in ihrem Land hat. Deswegen wird man Satelliten - für den Verteidigungsbereich und andere - mit unseren "Ariane" und "Vega"-Raketen starten.
SPIEGEL ONLINE: Selbst bei militärisch sensiblen Satelliten macht Deutschland das eben nicht.
Charmeau: Aber in Zukunft machen sie es vielleicht.
SPIEGEL ONLINE: Einstweilen ist SpaceX preiswerter.
Charmeau: Entschuldigung, aber das stimmt nicht. Man sollte sich fragen, warum SpaceX der US-Regierung pro Start 100 Millionen Dollar in Rechnung stellt, Starts für europäische Kunden aber viel billiger anbietet. Warum machen die das?
SPIEGEL ONLINE: Weil sie so Starts für kommerzielle Kunden - wie auch die deutsche Regierung - billiger anbieten können.
Charmeau: Sie machen das, um Europa aus dem Weltraum zu kicken. Und die Öffentlichkeit und unsere Politiker sollten das wissen. Es geht um die Frage, ob Europa auch morgen noch im Weltraum aktiv ist. Unsere US-Freunde unterstützen das nicht wirklich. Ich unterschreibe auf der Stelle Verträge mit europäischen Regierungen für 100 Millionen Dollar pro Start. Das ist der Preis, den SpaceX von der eigenen Regierung verlangt. Wenn aber Deutschland Starts partout billiger einkaufen will, profitiert davon unser US-Wettbewerber.
"Heute kennt er Ihre Amazon-Bestellungen, morgen fährt er Ihr Auto"
SPIEGEL ONLINE: Warum soll eine Regierung mehr Geld für einen Start ausgeben, als sie muss? Man kann mit dem Geld auch Straßen und Brücken bauen oder Schulen sanieren.
Charmeau: Der einfachste Grund: Es schafft Arbeitsplätze in Deutschland. Und diese Firmen und ihre Mitarbeiter zahlen Steuern, die im deutschen Haushalt landen. Ich bin ziemlich sicher, dass Angestellte von SpaceX nichts ans deutsche Finanzamt zahlen. Und es geht noch um mehr.
SPIEGEL ONLINE: Und zwar?
Charmeau: Es geht um die Geschäfte der Zukunft. Warum investieren denn all die Milliardäre in den Weltraum? Warum kommt auch Jeff Bezos nach Deutschland und erklärt, dass das Land nicht in den Weltraum gehen sollte? Er macht Geld mit Ihren persönlichen Daten. Heute kennt er Ihre Amazon-Bestellungen, morgen fährt er Ihr Auto.
SPIEGEL ONLINE: Das wird er wohl sowieso machen. Wir haben uns in vielen Feldern doch längst von unseren Daten verabschiedet. Ich zeichne dieses Gespräch gerade mit einem iPhone auf. Da habe ich meine Daten doch längst abgegeben.
Charmeau: Sollten wir nicht wenigstens versuchen, um Eigenständigkeit zu kämpfen? Wir haben noch immer eine Industrie für Raketen und Satelliten, die weltweit absolut vorn dabei ist. Sollten wir das aufgeben?
SPIEGEL ONLINE: Umgekehrt gefragt: Warum sollten wir es partout behalten?
Charmeau: Da sind als Erstes die wirtschaftlichen Gründe. Es wird in der Zukunft einen riesigen Markt zur Auswertung von Weltraumdaten geben, für das Internet der Dinge, autonome Autos und so weiter. Es gibt aber auch strategische Gründe. Deutschland und Frankreich wollen beim Bau eines zukünftigen Kampfflugzeugs zusammenarbeiten. Solch ein Flugzeug fliegt nicht ohne Weltraumtechnik. Das dürfen wir nicht aufgeben.

Raumfahrzeug "IXV": Vor dem heißen Höllenritt
SPIEGEL ONLINE: Ein Grund dafür, dass SpaceX seine Starts so billig anbieten kann, ist auch, dass die Firma auf Wiederverwendbarkeit setzt. Wann kehrt die erste "Ariane"-Raketenstufe sanft zur Erde zurück, damit sie wiederverwendet werden kann?
Charmeau: Der Grund, warum SpaceX auf dem kommerziellen Markt billiger sind, hat nichts mit Wiederverwendbarkeit zu tun. Entscheidend ist nur, dass sie ihrer eigenen Regierung 100 Millionen Dollar pro Start berechnen. Und ich bin bereit, das auch so zu machen.
SPIEGEL ONLINE: Nichtsdestotrotz sagt SpaceX, dass sie ihre Raketen auch durch die Wiederverwendbarkeit billig anbieten können.
Charmeau: Woher wissen Sie das? Kennen Sie deren echte Kostenstruktur?
SPIEGEL ONLINE: Für mich als Kunde ist es jedenfalls billiger, meinen Satelliten auf einer gebrauchten SpaceX zu fliegen als auf einer "Ariane".
Charmeau: Weil die Firma Ihrer Regierung zu viel Geld abknöpft.
SPIEGEL ONLINE: Das haben Sie jetzt schon mehrmals gesagt.
Charmeau: SpaceX hat einen Markt an garantierten Starts für die Regierung, der vielleicht zehn Mal so groß ist wie für uns in Europa. Da kann man dann für den Rest leicht die Wiederverwendbarkeit in den Vordergrund stellen.
"Ich kann meinen Teams nicht sagen: 'Tschüs, dann bis nächstes Jahr'!"
SPIEGEL ONLINE: Sie haben auch mal gesagt, dass sich Wiederverwendbarkeit für Europa gar nicht lohnen würde. Wie das?
Charmeau: Nehmen wir mal an, wir hätten zehn garantierte Starts pro Jahr in Europa und würden eine Rakete haben, die man zehnmal wiederverwenden kann - dann würden wir genau eine Rakete pro Jahr bauen. Das ergibt keinen Sinn. Ich kann meinen Teams nicht sagen: 'Tschüs, dann bis nächstes Jahr'!
SPIEGEL ONLINE: Wie viele Starts bräuchte Sie denn, damit sich Wiederverwendbarkeit für Sie lohnt?
Charmeau: Das sehen wir uns gerade an. Vielleicht etwa 30 Starts pro Jahr. Wir müssen uns aber immer fragen, ob sich diese Technologien für uns rechnen. Aber wir bereiten das auf jeden Fall vor. Zum Beispiel ist unser zukünftiges "Prometheus"-Triebwerk wiederverwendbar. Wir arbeiten auch an der Technologie, eine Raketenstufe zu bergen und wieder zu benutzen. Wir wollen bereit sein.