Atomunfall in Fukushima Strahlungswerte in Tokio steigen rapide

Die Strahlung aus dem havarierten Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi erreicht zunehmend auch Tokio, Behörden messen in der Hauptstadt stark steigende Werte. Aus dem Unfall-AKW gibt es eine Erfolgsmeldung: Alle sechs Atomanlagen haben wieder Verbindung zum Stromnetz.
Strahlentest bei Geretteten: Höhere Werte in Tokio gemessen

Strahlentest bei Geretteten: Höhere Werte in Tokio gemessen

Foto: Wally Santana/ AP

Tokio - In Japan wächst die Sorge vor einer radioaktiven Belastung der Hauptstadt: Wie die Behörden mitteilten, wurde in Tokio ein starker Anstieg der Strahlungswerte gemessen. Im Bezirk Shinjuku im Zentrum seien am Dienstag 5300 Becquerel durch Cäsium-137 und 32.000 Becquerel durch Jod-131 erfasst worden. Das sei zehnmal so viel wie am Vortag, hieß es.

Diese Werte seien nicht unmittelbar gesundheitsschädlich, teilte das japanische Forschungsministerium mit. Man werde die weiteren Messungen aber beobachten. Während das Isotop Jod-131 eine Halbwertszeit von rund acht Tagen hat, ist Cäsium-137 erst nach etwa 30 Jahren zur Hälfte zerfallen.

Auch im Bereich des AKW Fukushima sind die Strahlungswerte gestiegen, wie der TV-Sender NHK unter Berufung auf das Forschungsministerium berichtete. Die Belastung mit Jod-131 liege bei 43.000 Becquerel pro Kilogramm Boden. Das sei 430-mal mehr als der Normalwert, erklärte Keigo Endo von der Gunma Universität. Die Belastung mit Cäsium-137 betrage mit 4700 Becquerel das 47-fache des Normalwerts.

Der Ort, an dem diese Werte gemessen wurden, liegt 20 Kilometer außerhalb der Evakuierungszone. Endo erklärte, die Strahlenbelastung überschreite die erlaubte Jahreshöchstdosis um das Vierfache, eine akute Gesundheitsgefährdung bestehe derzeit aber nicht.

In Trinkwasser in fünf Orten der Präfektur Fukushima ist ein für Babys zu hoher Wert an radioaktivem Jod festgestellt worden. Auch in Gemüse waren schon sehr hohe Werte festgestellt worden. Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo berichtete am Mittwoch (Ortszeit), in der Umgebung des Kernkraftwerks seien inzwischen auch radioaktiv belasteter Brokkoli und belastete Rohmilch entdeckt worden. Die Werte hätten die gesetzlichen Grenzwerte überschritten, hieß es ohne nähere Angaben.

Sorge bereitet Fachleuten auch die starke radioaktive Belastung, die im Meerwasser vor der Küste Japans gemessen wurde. Regierungssprecher Yukio Edano sagte dazu, es sei noch zu früh, um die Auswirkungen der Verstrahlung auf Fische im Meer und auf Pflanzen zu beurteilen.

Alle sechs Fukushima-Anlagen wieder am Stromnetz

Den Arbeitern am havarierten Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi ist ein wichtiger Schritt gelungen: Alle sechs Reaktoranlagen haben zum ersten Mal seit der Erdbebenkatastrophe vor eineinhalb Wochen wieder eine Verbindung zum Stromnetz, wie der Betreiber Tepco am Dienstag mitteilte.

Jedoch könne es noch Tage dauern, bis der Strom überall angestellt wird. Neuer Rauch und Dampf behinderten am Dienstag die Arbeiten. Die Regierung sprach weiter von einer "äußerst angespannten" Lage. Auch die Situation der Erdbebenopfer bleibt dramatisch. Im Land drohen neue Nachbeben.

Die Wiederherstellung der Stromversorgung in den Reaktoren der Krisenanlage Fukushima I ist entscheidend, um das Kühlsystem für die radioaktiven Brennstäbe anzuwerfen und somit eine Kernschmelze zu verhindern. Der Tsunami und das Erdbeben am 11. März hatten die Kühlung in mehreren Meilern zerstört. Bevor die Stromversorgung wieder steht, muss jedoch überprüft werden, ob die technischen Vorrichtungen noch intakt sind, was mehrere Tage dauern.

Fließt der Strom wieder, kann der wirkliche Zustand der Anlage beurteilt werden, sagte Hidehiko Nishiyama, Sprecher der japanischen Atomaufsicht. Auch könne dann überprüft werden, ob die derzeitigen Maßnahmen gegen einen Super-GAU ausreichend seien, sagte Nishiyama nach Angaben der Nachrichtenagentur Kyodo. Es sei unwahrscheinlich, dass sich die Lage wieder verschärfe.

Weiterhin Kühlung von außen

Am Dienstag sprühten die Arbeiter in Fukushima I wieder Wasser auf den teilweise zerstörten Reaktor 3, um diesen zu kühlen. Die Arbeiten waren am Vortag wegen Rauch unterbrochen worden. In Block 3 lagert auch hochgiftiges Plutonium. Über den Reaktorblöcken 3 und 2 stieg außerdem neuer Rauch auf.

Bei Block 3 sei das möglicherweise ein Hinweis auf brennende Trümmer oder Öl, erklärte Verteidigungsminister Toshimi Kitazawa. Bei dem weißen Dampf über Block 2 handle es sich hingegen um erhitztes Wasser. Nach Angaben des Energiekonzerns Tepco nahmen Dampf und Rauch jedoch ab - eine Gefahr für die Arbeiter sei unwahrscheinlich.

Hoffnungen auf ein schnelles Ende der Atomkrise dämpfte die Regierung jedoch: "Es ist nach meinem Gefühl schwierig, von Fortschritten zu sprechen", sagte Industrieminister Banri Kaieda nach Angaben von Kyodo. Die Regierung setzt nun zwei Atomexperten als Berater ein. Auch soll die Armee künftig täglich über die verstrahlte Anlage fliegen, um die Temperatur zu messen. Auch das US-Militär soll helfen. AKW-Betreiber Tepco entschuldigte sich derweil zum ersten Mal offiziell bei den Tausenden von Menschen, die wegen des Atomunfalls ihre Häuser verlassen mussten.

IAE: Keine schweren Schäden an Schutzhüllen

Die Schutzhüllen der Unglücksreaktoren sind nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nicht schwer beschädigt. Es lägen ausreichend Informationen vor, um sagen zu können, dass es in den Sicherheitsbehältern der Reaktoren keine großen Löcher gebe, sagte der IAEA-Verantwortliche für Reaktorsicherheit, James Lyons, am Dienstag in Wien. Auch trete aus den Sicherheitsbehältern keine große Menge Radioaktivität aus.

Dennoch schränkte er ein: "Es entweicht immer noch Radioaktivität aus der Anlage. Die Frage ist, wo sie herkommt: Aus dem ersten Sicherheitsbehälter (um den jeweiligen Reaktor) oder aus den Becken, in denen die benutzen Brennstäbe zum Abkühlen zwischengelagert werden." Die Frage sei schwierig zu beantworten, weil ein direkter Zugang nicht möglich sei.

Warnung vor Nachbeben

Die Evakuierungszone im Umkreis von 20 Kilometern um das Kraftwerk Fukushima I soll laut Regierungssprecher Edano beibehalten werden. Eine Ausweitung sei bisher nicht geplant. Das japanische Gesundheitsministerium ordnete jedoch an, rund 1600 ältere und bettlägerige Menschen aus einer erweiterten Schutzzone zu bringen, die 20 bis 30 Kilometer von den Meilern entfernt liegt. Dort sollen die Menschen grundsätzlich in ihren Häusern bleiben.

Die Behörden warnten vor weiteren schweren Nachbeben der Stärke 7 oder mehr. Die Zahl der Todesopfer der Katastrophe steigt fast stündlich. Am Dienstagabend (Ortszeit) lag ihre Zahl nach Angaben der Polizei bei rund 9200. Mehr als 13.780 Menschen würden noch vermisst. Weil Krematorien der Brennstoff ausging, mussten Tote in Massengräbern beerdigt werden. Rund 300.000 Menschen leben noch in Notunterkünften, in denen es oft am Nötigsten fehlt.

Die zwei Atomkraftwerke in Fukushima wurden nach Angaben des Betreibers von einer 14 Meter hohen Flutwelle getroffen. Das sei mehr als doppelt so hoch, als Experten bei der Planung der Anlagen erwartet hatten.

Zugleich wurde der Vorwurf laut, dass Feuerwehrmänner aus Tokio gezwungen worden sein sollen, stundenlang Wasser auf den radioaktiv strahlenden Reaktor im Atomkraftwerk Fukushima I zu sprühen. Industrie- und Wirtschaftsminister Banri Kaieda soll den Männern eine Strafe angedroht haben, falls sie die Aufgabe nicht ausführten, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo. Der Gouverneur von Tokio, Shintaro Ishihara, habe sich bei Regierungschef Naoto Kan darüber beschwert.

Der Wirtschaftsminister sagte daraufhin auf einer Pressekonferenz am Dienstag: "Wenn meine Bemerkungen Feuerwehrmänner verletzt haben, möchte ich mich in diesem Punkt entschuldigen." Er ging allerdings nicht näher darauf ein, ob die Vorwürfe gerechtfertigt sind.

mbe/dpa/dapd
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren