
Archäologie: Steinzeit-Totenwelt unter Hagen
Blätterhöhle in Westfalen Abstieg ins Totenreich der Steinzeit
Es ist so dunkel, dass es keinen Unterschied macht, ob man die Augen schließt oder öffnet - es herrscht absolute Schwärze. Und unter der Erde ist es still. Selbst der Atem ist noch unglaublich laut. Fast könnte man meinen, dies sei das große Nichts, stieße man nicht bei jeder Bewegung an den Fels, der in keiner Richtung mehr als ein paar Zentimeter entfernt ist.
Willkommen in der Welt unter dem Weißenstein, einem Kalkmassiv im westfälischen Lennetal. Vielleicht war es tatsächlich einmal eine mythische Unterwelt: Damals, in der Mittelsteinzeit und der Jungsteinzeit, als die Menschen ihre Toten hierher in die Blätterhöhle brachten.
Wir haben die Stirnlampen wieder eingeschaltet und robben durch den Fels nach unten. Im Lichtkegel tauchen auf der linken Seite Knochen auf: "Hier sind noch welche", sagt Grabungsleiter Jörg Orschiedt. "Eine menschliche Rippe." Ein Stück weiter kriechen wir am Schädel eines Kaninchens vorbei. Die zierlichen Nager waren aber nicht die Hauptmieter der Blätterhöhle. "Über Jahrhunderte lebten hier unten Dachse", sagt Orschiedt, "viele aufeinanderfolgende Generationen."
Was die Dachse vergaßen
Nun sind Dachse überaus ordentliche Tiere, die ihren Bau immer schön aufgeräumt halten. Also schaffen sie alles, was ihnen in die Quere kommt - wie etwa menschliche Knochen - nach draußen. Die archäologische Schichtenabfolge im Inneren der Höhle haben sie damit gründlich durcheinandergebracht. Glücklicherweise ließen sie eine kleine Erweiterung des engen Höhlengangs außer Acht. "Hier drin lagen sie", sagt Orschiedt, "ein Stück Schädeldach auf einem großen Stein, davor lehnte der Wildschweinschädel." Das menschliche Schädelstück gehörte einem etwa 35 Jahre alten Mann. Ganz in der Nähe lagen noch zwei Eberschädel - alle drei Prachtexemplare ihrer Art.
Die Bearbeitung der Wildschweinschädel und die Anordnung der Reste sind ein Hinweis: Hier wurde jemand sorgfältig zur letzten Ruhe gebettet - und zwar in der frühen Mittelsteinzeit vor 10.600 bis 10.900 Jahren, wie die C14-Datierung der Knochen verriet. "Diese Bestattung ist nicht nur für das Frühmesolithikum, sondern für die gesamte Mittelsteinzeit in Europa ein einzigartiger archäologischer Befund", sagt Orschiedt.
Das Arrangement mit den Wildschweinschädeln ist zwar der schönste und eindeutigste Beleg für komplexe Bestattungen in der Höhle, aber bei weitem nicht der einzige. Aus den ungestörten Schichten unterhalb der Dachsgänge bargen die Ausgräber weitere Knochen und Steinartefakte aus der Mittelsteinzeit. "Den Innenraum der Blätterhöhle haben die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten genutzt. Und zwar offenbar zu rituellen oder kultischen Zwecken", sagt Orschiedt. "Sie haben hier Leichen oder vielleicht auch nur Knochen zusammen mit Beigaben abgelegt."
Bestattungen über Jahrtausende hinweg
Nach einer längeren Pause am Ende der Mittelsteinzeit vor 5000 Jahren brachten die Leute ihre Toten auch in der Jungsteinzeit wieder in die Blätterhöhle. Die Archäologen fanden die Reste von mindestens sieben Personen. Eine davon war eine junge Frau. Sie war erst zwischen 17 und 22 Jahre alt, als sie um 3600 v. Chr. starb. Andere hatten länger gelebt. Ihre Überreste erzählen von chronischen Erkrankungen, Verschleiß und Zahnschmerzen: "Die Zähne von fünf Unterkiefern zeigen zum Teil Karies und Parodontose", sagt Orschiedt.
Die Zeit fühlt sich anders an unter der Erdoberfläche. Schwer zu sagen, wie lange wir dort unten waren. Wir zwängen uns durch die alarmgesicherte Stahlluke zurück in den Regen. Doch selbst die dicken Wolken lassen die Welt nicht grau erscheinen. Nach der Dunkelheit der Unterwelt ist die Oberwelt grell und laut - die Farben zu kräftig, die Stimmen zu schrill.
Der Vorplatz ist der Ort des Lebens, und das war er schon vor Jahrtausenden: Die Menschen haben hier gearbeitet, gekocht, gegessen, getrunken, gelacht. Die Archäologen fanden hier vier Feuerstellen aus der frühen bis späten Mittelsteinzeit. In der kleinsten von ihnen lagen zahlreiche Schalen von Landschnecken und Muscheln sowie angebrannte Froschknochen. Irgendwann um 6500 v. Chr. aber brach das überhängende Felsdach, das den Höhleneingang geschützt hatte, ab und krachte auf den Vorplatz. Damit war das Tor zur steinzeitlichen Unterwelt weitgehend versiegelt.
Hoffnung auf weitere Funde
Heute ist der Einstieg in die Höhle im Hagener Stadtteil Holthausen nur noch so groß wie eine Backofenklappe. Den unscheinbaren Spalt in der Felswand entdeckten Höhlenforscher des Arbeitskreises Kluterthöhle erst 2004 - völlig verstopft mit Sediment und Laub. 2007 fanden die Ausgräber eine weitere Öffnung weiter östlich. Sie könnte ein weiterer Eingang zur Blätterhöhle sein - oder aber in eine weitere, bisher unbekannte Höhle führen. Erste Funde von menschlichen Knochen im ersten Stück des Ganges stammen ebenfalls aus der Zeit um 8600 v. Chr., der frühen Mittelsteinzeit.
Ein Ende der Entdeckungen ist noch lange nicht in Sicht: Geophysikalische Untersuchungen von Wissenschaftlern der Ruhr-Universität Bochum haben gezeigt, dass die Sedimente noch sieben Meter in die Tiefe reichen. Und die Finanzierung der Grabung ist zumindest noch bis 2013 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gesichert, als Projekt an der Universität Köln. Um vorab einen Blick in die tieferen Schichten zu werfen, bohrten die Archäologen zur Probe über 180 Zentimeter nach unten, weit unter den frühmittelsteinzeitlichen Horizont. Selbst dort lagen noch winzige Holzkohlesplitter im Boden - ein eindeutiger Hinweis auf Feuerstellen und damit auf menschliche Aktivitäten. "Da unten sind wir dann in der Eiszeit", erklärt Orschiedt.
Die meisten Höhlen Westfalens wurden bereits im ausgehenden 19. oder frühen 20. Jahrhundert untersucht - als die Archäologie noch weit von C14-Datierungen und den heutigen feinen Grabungstechniken entfernt war. Damit wird die Blätterhöhle zur einmaligen Chance, diesmal alles richtig zu machen und eine zusammenhängende Nutzung von der eiszeitlichen späten Altsteinzeit bis in die schon warmzeitliche Mittelsteinzeit nachzuweisen.
Einmalige Chance für Archäologen
Die schönsten Funde bewahrt Orschiedt in seinem Büro im Historischen Centrum Hagen auf. Mit der Pinzette legt er vorsichtig eine Perle auf ein Blatt Millimeterpapier: nicht mal fünf Kästchen weit reicht sie. Und erst unter der Lupe wird sichtbar, wie filigran das Stück gearbeitet ist. Um das Hauptloch in der Mitte bohrte der Künstler noch vier weitere Kanäle, hauchdünn und regelmäßig. Das winzige Kunstwerk lag in der Nähe einer der Feuerstellen, wo jemand sie irgendwann im mittleren Mesolithikum verloren haben muss. Noch nie wurde etwas Ähnliches aus dieser Zeit gefunden.
Als nächstes schiebt Orschiedt ein kleines Plastiktütchen über den Schreibtisch. Darin liegt ein Stück Schädel und ein gelbes Kärtchen mit den Fundinformationen. "Das ist der älteste bekannte moderne Mensch Westfalens." Letztes Jahr holten die Ausgräber das Fragment aus dem untersten Horizont der Höhle. Der Mensch, dem dieser Schädel einst gehörte, starb vor rund 11.000 Jahren - die letzte Eiszeit war da eben erst vorbei.
Aber auch die jüngsten Funde hat Orschiedt aufbewahrt. Gewehrpatronen. Coladosen. Die Scherben einer Sektflasche. "Diese modernen Artefakte gehören auch zur Blätterhöhle. Sie sagen uns genauso wie die alten Funde etwas darüber, was Menschen in der Vergangenheit an diesem Ort gemacht haben - egal ob das nun in der Steinzeit war oder gestern."