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Materialforschung Blutender Kunststoff schließt Löcher von allein

Das Handy-Display zerbrochen, die Autoscheibe gesprungen? Solche Malheurs könnten ihren Schrecken verlieren, sollte ein neuer blutender Kunststoff alltagstauglich werden. Das selbstheilende Material flickt selbst zentimetergroße Löcher von allein.

Das sich immer wiederholende und nie endende Lied "Ein Loch ist im Eimer" ist vielleicht in Zukunft maximal 20 Minuten lang. Etwa so lange braucht ein neuartiger Kunststoff, um sich selbst zu heilen und Löcher von fast vier Zentimeter Durchmesser zu stopfen. Während in dem Volkslied der Eimerträger ewig nur die nötigen Schritte besingt, könnte sich ein Gefäß aus dem von US-Forschern entwickelten Material selbst helfen.

Den blutenden Kunststoff stellen Chemiker und Ingenieure der University of Illinois in Urbana-Champaign jetzt im Fachblatt "Science"  vor. Im Laborversuch statteten sie eine flache Scheibe mit zwei dünnen Kanälen aus. Durch diese zwei künstlichen Adern fließen zwei Komponenten, die erst zusammen eine Art Kleber ergeben. Sobald die Scheibe beschädigt wird, beginnt sie gleichsam zu bluten: Die Flüssigkeit aus den beiden Kanälen vermischt sich und bildet ein dickflüssiges Gel. Statt direkt zu erstarren, fließt es innerhalb von Minuten um die durchlöcherte Stelle. Die Eigenschaften des Gels helfen dabei, störenden Kräften wie der Schwerkraft zu trotzen und auf der richtigen Stelle zu haften.

"Clevere Kombination chemischer Reaktionen"

Erst im nächsten Schritt verfestigt sich die Masse zu einem harten Kunststoff - einem sogenannten Polymer. Dabei wirkt die erstarrte Region als Gerüst für die weiteren Reparaturarbeiten. Weiteres Gel kann über die zuvor beschädigte Stellen nachfließen und das fehlende Material Stück für Stück ersetzen, bis das Loch geschlossen ist (siehe Video).

Die Chemiker stopften so Löcher bis zu einer Größe von 35 Millimetern in rund 20 Minuten. In einigen Stunden war das Polymer ausgehärtet und hielt noch rund 60 Prozent der ursprünglichen Belastungsgrenze aus. "Der Ansatz mit einem stufenweisen Aushärten ist ein cleveres Zusammenspiel zweier gebräuchlicher Konzepte", meint Wolfgang Binder von der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, der nicht direkt an der Studie beteiligt war. "Ein fließendes Gel und das Aushärten in einer nachfolgenden Polymerisation." Der Chemiker arbeitet seit 2010 ebenfalls an selbstheilenden Materialien, die vor allem für die Flugzeugindustrie vielversprechend  sind.

Flugzeugbauteile sind ständig starken Kräften ausgesetzt. "Durch mechanische Belastung entstehen Mikrorisse", erklärt Chemiker Binder. "Könnte ein Flugzeug diese selbst reparieren, ließe sich dadurch natürlich die Sicherheit erhöhen." Belastungsbrüche könnten sich so verhindern lassen, Wartungs- und Reparaturkosten sinken.

Flugzeuge mit heilenden Einschusslöchern

Dass auch eine militärische Anwendung möglich ist, deuten die Forscher mit einem Größenvergleich der geflickten Löcher mit einer Pistolenkugel an. So ist denkbar, dass zukünftige Flugzeuge mit einer Haut aus dem speziellen Kunststoff beispielsweise in der Lage wären, noch während des Fluges Einschusslöcher zu flicken und damit flugtauglich zu bleiben. Ähnliche, aber weitaus einfachere Systeme kamen schon im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz: Bekam der Tank ein Leck, quollen Materialien wie Gummi in der doppelwandigen Hülle durch den Kontakt mit Treibstoff auf und verschlossen das Loch. Für den Einsatz unter solchen schwierigen Umweltbedingungen ist der heilende Kunststoff wegen der niedrigen Temperaturen und des schwankenden Luftdrucks bei Flügen noch nicht geeignet. Für die bisher nur im Labor ablaufenden chemischen Prozesse sind sie ein Problem.

Doch sollten die Materialforscher den blutenden Kunststoff noch verbessern und weiterentwickeln können, wäre das für Militärflugzeuge ein Vorteil: Sie könnten zumindest stellenweise auf eine dicke, teure und schwere Panzerung verzichten. Auch die US-Luftwaffe ist daher an den Ergebnissen interessiert und unterstützt White und seine Kollegen finanziell.

Simplere selbstheilende Materialien werden jedoch schon heute von der Industrie verbaut. "Materialien, die Kratzer reparieren und verschwinden lassen, sind schon bei einigen Auto-Lenkrädern im Einsatz", sagt Binder. Eine breite und vor allem kostensparende Anwendung im Alltag - und damit der selbstreparierende löchrige Eimer - sind aber noch Zukunftsmusik.

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