Umfrage zu Tschernobyl Deutsche halten Atomkatastrophe auch in Westeuropa für möglich

Luftaufnahme des zerstörten Meilers von Tschernobyl (April 1986)
Foto: STR/ AP

Luftaufnahme des zerstörten Meilers von Tschernobyl (April 1986)
Foto: STR/ APAm 26. April 1986 geriet im Atomkraftwerk Tschernobyl ein Experiment außer Kontrolle. Die Bediener-Crew wollte das Not- und Nachkühlsystem des Reaktors testen, was gründlich schiefging. Reaktor vier flog in die Luft, große Mengen radioaktiver Nuklide wurden freigesetzt. Tagelang brannte der zerstörte Meiler, Tausende Arbeiter wurden verstrahlt.
Spätestens seit diesem bislang schwersten Nuklearunfall überhaupt hat es die Atomkraft schwer in Deutschland. Und die Skepsis der Menschen ist nach wie vor groß, wie eine neue Greenpeace-Umfrage zeigt, die SPIEGEL ONLINE vorliegt. Demnach halten 85 Prozent der Deutschen über 45 Jahre einen ähnlich schweren Atomunfall auch in Mittel- und Westeuropa für möglich.
TNS-Emnid hat im Auftrag der Umweltschutzorganisation Greenpeace 1012 Menschen in Deutschland zu Tschernobyl befragt, die 1986 mindestens 15 Jahre alt waren. 61 Prozent der Teilnehmer sagten, der Atomunfall habe ihre persönliche Meinung über die Atomkraft negativ verändert. 66 Prozent erklärten, sie hätten im Unfalljahr Sorge gehabt, dass Tschernobyl sie auch persönlich betreffen könne.
Die Ängste kommen nicht von ungefähr: Im März 2011 zeigte sich im AKW Fukushima , dass verheerende Atomunfälle auch in den angeblich deutlich sichereren Kraftwerken westlicher Bauweise passieren können. Die Atomlobby hatte immer wieder erklärt, die spezielle sowjetische Bauart und die schlechten Sicherheitsstandards seien schuld gewesen am GAU in Tschernobyl.
Der dortige Meiler vom Typ RBMK nutzte zum Abbremsen der schnellen Neutronen Graphit. Die Neutronen entstehen bei der Kernspaltung, müssen aber abgebremst werden, damit sie weitere Kernspaltungen auslösen. In Tschernobyl geriet dieser Vorgang außer Kontrolle. Die Leistung stieg bis auf den hundertfachen Wert über normal, der Brennstoff überhitzte, das Reaktorgebäude wurde zerstört.
Ein solch unkontrollierter Leistungsanstieg sei in Leichtwasserreaktoren, wie sie in Deutschland genutzt werden, nicht möglich, erklärt unter anderem die Lobbyorganisation Deutsches Atomforum. Außerdem verfügten die Meiler hierzulande über druckfeste Sicherheitsbehälter, welche die Freisetzung radioaktiver Stoffe verhindern sollen. Ein weiteres Sicherheitsargument für westliche Meiler: Weil Wasser zugleich als Moderator und Kühlmittel eingesetzt werde, komme die Kettenreaktion automatisch zum Erliegen, sobald es an Wasser mangle.
Das stimmt tatsächlich, doch in Fukushima geschah etwas, mit dem AKW-Experten so nicht gerechnet hatten. Die nach dem schweren Erdbeben automatisch abgeschalteten Meiler überhitzten, weil sowohl die Stromversorgung als auch bereitstehende Notstromaggregate ausgefallen waren. Die Kühlpumpen konnten nicht betrieben werden, um die gigantische Restwärme der Brennstäbe abzuführen. Es kam teils zu Kernschmelzen und Explosionen, die Sicherheitsbehälter wurden zerstört.
Streit um Biblis, Cattenom, Tihange
Nach dem Gau von Fukushima musste sogar die eigentlich AKW-freundliche CDU von Kanzlerin Angela Merkel den Atomausstieg für Deutschland beschließen.
Für eine stetige Verunsicherung der Menschen hierzulande sorgen zudem die Pannen und Zwischenfälle an diversen AKW in Mittel- und Westeuropa. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Sicherheitskontrollen in den deutschen Kraftwerken Philippsburg 2 und Biblis nur vorgetäuscht worden waren .
Heftigen Streit gibt es außerdem wegen der französischen Kernkraftwerke Fessenheim und Cattenom nahe der Grenze zu Deutschland, deren Stilllegung von deutscher Seite immer wieder gefordert wird. Ähnlich umstritten sind die Meiler Tihange 2 und Doel 3 in Belgien, die trotz Rissen in Druckbehältern weiterlaufen. Die Bundesregierung ersuchte Belgien kürzlich sogar, die zwei Reaktorblöcke aus Sicherheitsgründen vorübergehend vom Netz zu nehmen - ein ungewöhnlicher Schritt.
Für Greenpeace ergibt sich aus Tschernobyl und den Pannen westeuropäischer Meiler eine klare Forderung: "Europa muss aus der Atomkraft aussteigen", wie Tobias Münchmeyer sagt, Nuklear-Experte der Umweltschutzorganisation. Es sei ein Skandal, dass "Schrottmeiler" wie Fessenheim, Tihange und Doel noch liefen.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Arbeiter in einem der Reaktorgebäude des AKW Tschernobyl (1982): Der erste von vier Meilern in dem ukrainischen Kraftwerk ging 1977 in Betrieb. Reaktor Nummer 4, in dem es am 26. April 1986 zum schwersten Unfall in der friedlichen Nutzung der Kernenergie kam, war im Jahr 1983 ans Netz gegangen.
AKW Tschernobyl (März 1999): Nach dem Unfall in Meiler 4 wurden die übrigen drei Reaktorblöcke noch Jahre weitergenutzt. Meiler 3, dessen Kontrollraum hier zu sehen ist, ging als letzter im Dezember 2000 vom Netz.
Intakte Meiler am Kraftwerk Tschernobyl (März 1999): Die Reaktoren in dem AKW nutzten nicht Wasser, sondern Graphit als Moderator. Der Moderator bremst bei der Kernspaltung erzeugte schnelle Neutronen ab, damit sie weitere Atomspaltungen auslösen können. In Meiler 4 verlor das Personal bei einem Sicherheitstest aber die Kontrolle über den Reaktor. Die Leistung stieg bis auf den hundertfachen Wert über Normal, der Brennstoff überhitzte, das Reaktorgebäude wurde zerstört.
Durch die Explosion am 26. April 1986 wurde auch Uran, das Brennmaterial des AKW, aus dem Gebäude geschleudert. Zudem stand das Graphit in Flammen - der Brand konnte erst nach Tagen gelöscht werden. Die Detonation wirbelte radioaktive Teilchen in die Luft - vor allem Cäsium-137. Eine strahlende Wolke breitete sich über weite Teile Europas aus.
Zerstörter Leitstand des Reaktors Nummer 4: Mehr als 30 Menschen kamen unmittelbar durch das Unglück ums Leben, insgesamt starben je nach Schätzung zwischen 10.000 und mehr als 100.000.
Angst vor Strahlung (Mai 1986): Ein holländischer Lkw, der aus Osteuropa kommt, wird an der deutsch-deutschen Grenze in Herleshausen dekontaminiert. Der Super-GAU von Tschernobyl veränderte die Welt. Einige Staaten stiegen aus der Kernkraft aus, andere setzen weiter auf Atom.
Luftaufnahme des zerstörten Meilers 4: Drei Tage nach dem GAU wird die Stadt Prypjat mit 50.000 Einwohnern unmittelbar am AKW-Gelände geräumt. Bis heute ist sie eine Geisterstadt. Im Mai 1986 beginnen die Behörden mit der Räumung aller Orte in einer 30-Kilometer-Sperrzone. Insgesamt müssen 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen.
Lage des Kraftwerks: Das heutige Weißrussland bekam große Mengen des Fallouts ab. Weil der Wind kurz nach dem Unglück immer wieder drehte, wurden strahlende Nuklide in ganz unterschiedliche Richtungen getragen - bis nach Deutschland, Skandinavien und die Türkei.
Messungen der Strahlung in der 30-Kilometer-Sperrzone (Mai 1986): "Es gab am Anfang überhaupt keine Informationen", berichtet ein Zeitzeuge. "Alles war damals als Geheimnis eingestuft."
Blick auf den zerstörten Reaktor in Tschernobyl: Am 29. September 1986 ging Block 1 des AKW Tschernobyl wieder in Betrieb, die Blöcke 2 und 3 folgten im November.
Reparaturarbeiten am explodierten Meiler (1. Oktober 1986): Fünf Monate lang wurde ein Betonsarkophag gebaut, der den Unglücksreaktor seitdem umhüllt.
Regen, Frost und Sturm setzen dem 65 Meter hohen Provisorium zu. Später bildeten sich mehr als hundert Risse, tragende Wände drohen einzustürzen. Noch heute befinden sich 200 Tonnen Uran in dem zerstörten Reaktor.
Der Bau einer neuen Schutzhülle aus Stahl hat bereits begonnen. Sie soll 100 Jahre lang halten und über das alte Reaktorgebäude geschoben werden.
Die mehr als 100 Meter hohe Hülle wird laut bisheriger Planung im November 2017 fertig sein. Die Kosten werden auf gut 2,1 Milliarden Euro geschätzt.
Sperrgebiet: Bis heute ist die Zone im Umkreis von 30 Kilometern um das AKW-Gelände gesperrt. Es wird wohl noch Jahrzehnte dauern, bis die Strahlung so weit gesunken ist, dass Menschen zurückkehren können. Die Werte schwanken jedoch von Ort zu Ort stark.
Kei Kobayashi (Tepco) arbeitet an der Wasseraufbereitung in dem havarierten AKW. Am 11. März 2011 hatten ein Erdbeben der Stärke 9,0 und ein Tsunami mit 14 Meter hohen Wellen das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi getroffen. Es kam zu einer dreifachen Kernschmelze, dem schlimmsten atomaren Desaster seit der Katastrophe in Tschernobyl.
Rund 1200 Angestellte des Betreiberkonzerns Tepco sowie zusätzlich 7000 Arbeitskräfte von angeheuerten Vertragsunternehmen sind auch fünf Jahre nach dem GAU täglich in der Atomruine im Einsatz. Fotograf Christopher Furlong hat einige von ihnen porträtiert.
Hideaki Tokuma (Tepco) kümmert sich um die etwa tausend Tanks mit kontaminiertem Wasser, die sich inzwischen auf dem AKW-Gelände befinden. In den Tanks wird das Wasser nach Durchlaufen eines Filters gelagert - fast 800.000 Tonnen haben sich im Laufe der Zeit angesammelt.
Tokuma bezeichnet seine Aufgabe als herausfordernd, aber lohnend. Es gebe keine Routine bei dem Job. Er fühle sich so, als müsste er eine Bahnstrecke planen, die Schienen verlegen und dann noch den Zug selbst steuern.
Kobayashi sagt über seine Arbeit: Jeden Tag lerne er etwas Neues. 30 bis 40 Jahre kann es nach Angaben des Fukushima-Betreibers Tepco dauern, bis das Kraftwerk endgültig gesichert ist.
Yasushi Ooishi (Tepco) arbeitet ebenfalls an der Aufbereitung des mit radioaktiver Strahlung belasteten Wassers.
Ooishi sagt, die völlige Stilllegung des Kraftwerks sei zwingend notwendig. Laut Tepco sind bislang zehn Prozent geschafft. Er würde sich wünschen, dass es schneller vorangehe, sagt Ooishi, aber es gebe Hindernisse - und sein Team könne nicht alles so machen wie gewünscht, wegen der Zusammenarbeit mit Regierungsbeamten und lokalen Behörden.
Yusuke Nakagawa (Tepco) arbeitet in dem Team, das sich um die Roboter kümmert, die für die Dekontaminierung in den Reaktorgebäuden eingesetzt werden.
Nakagawa sagt, er wolle zur Besserung der Lage in Fukushima beitragen. Die Dekontaminierung der Reaktorgebäude sei die entscheidende Aufgabe bei der Stilllegung des Kraftwerks.
Shuji Hoshi (Toshiba) arbeitet am Wasseraufbereitungssystem. Täglich dringen Hunderte Tonnen Grundwasser in die Reaktorgebäude ein und vermischen sich dort mit dem verstrahlten Wasser zur Kühlung der geschmolzenen Brennstäbe. Wo die liegen, weiß auch nach fünf Jahren niemand genau.
Hoshi sagt, die Unterstützung seiner Familie sei enorm wichtig, weil er nun weit weg von seinem Zuhause lebe.
Isao Abe (Kajima Corporation) arbeitet an einem Eiswall aus gefrorenem Boden. Dieser wurde um die Reaktoren gebaut - in dem Bemühen, die täglich weiter steigenden Wassermassen zu reduzieren.
Abe sagt, seit der Katastrophe seien immer wieder Kollegen von ihm angewiesen worden, in Fukushima zu arbeiten. So habe er gewusst, dass er früher oder später auch an der Reihe sein würde.
Masaya Uehara (Kajima Corporation) arbeitet ebenfalls an dem Eiswall. Doch aus Sorge um ein zu starkes Absinken des Grundwasserspiegels darf Tepco den Wall zunächst nur stellenweise betreiben. Ob das etwas bringt, ist unklar.
Uehara sagt, es sei enttäuschend, wenn Menschen negative Meinungen über seinen Job hätten. Zugleich sei das aber auch eine Motivation für ihn.
Mitsuyoshi Sato (Toshiba) arbeitet im Team, das sich um die staubsaugerähnlichen Roboter kümmert, die bei der Dekontaminierung der Reaktorgebäude zwei und drei im Einsatz sind.
Sato sagt, er habe sich fünf Monate nach der Katastrophe freiwillig gemeldet, um die Wasseraufbereitung in Fukushima zu erforschen. Nachdem das Projekt abgeschlossen war, bot er an, bei der Dekontaminierung mitzuhelfen. Sato ist inzwischen seit viereinhalb Jahren in Fukushima. Eigentlich habe er andere Dinge, zu denen er gerne forschen würde, sagt Sato. Aber er habe das Gefühl, sein Job in der AKW-Ruine sei etwas, das jetzt getan werden müsse.
Kazuyuki Ogaki (Toshiba) überwacht die Strahlendosis, der die Arbeiter im havarierten Atomkraftwerk ausgesetzt sind.
Ogaki stammt aus Fukushima. Seine Kinder, sagt er, hätten seit der Katastrophe nicht einmal in das Haus zurückkehren dürfen, in dem sie aufwuchsen. Mehr als 100.000 Menschen hatten nach dem GAU wegen der Strahlenbelastung in der Region ihre Häuser verlassen müssen.
Shinichi Koga (Kajima Corporation) arbeitet an dem Eiswall.
Koga sagt, der schwierigste Teil seines Jobs sei die Umgebung, in der er seine Schutzausrüstung tragen müsse. Zudem gebe es viele Beschränkungen durch staatliche Behörden.
Kenji Shimizu (Tepco) arbeitet als Kontrolleur für das Roboterprojekt, das die Sicherheitsbehälter untersucht, um Verschmutzungen auf dem Reaktorgelände festzustellen.
Shimizu sagt, sein Team stelle sicher, dass in einer sicheren Umgebung gearbeitet werde. Deshalb empfinde er es als kaum gefährlich, in Fukushima zu arbeiten - auch wenn das für viele Menschen wohl schwer zu verstehen sei.
Eiji Sakata (Tepco) arbeitet in dem Team, das die allgemeine Sicherheitssteuerung auf dem Reaktorgelände überwacht.
Sakata sagt, die Sicherheitssteuerung in Fukushima sei schwieriger als an anderen Orten. Er und seine Kollegen müssten viel auswendig lernen, da sie Dokumente nicht einfach mit rein- und wieder rausnehmen könnten. Auch die verbale Kommunikation sei wegen der Schutzmasken kompliziert.
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden