
Dieseldebatte Ein ganzes Land mit Stockholm-Syndrom

Auspuff mit Abgasen eines Verbrennungsmotors (Symbolbild)
Foto: imago/ Michael Weber"Bei hohen Kaufsummen ist - wenn man von den 'Superreichen' absieht - der verlorene Spielraum für alternative Geldverwendungen besonders groß (man legt sich für einen längeren Zeitraum fest)."
Hans Raffée, Bernhard Sauter und Günter Silberer, "Theorie der kognitiven Dissonanz und Konsumgüter-Marketing" (1973)
Die meisten unter 55 haben vermutlich keine Ahnung, wo dieser Begriff eigentlich herkommt. Irgendwas mit Geiselnahme, aber welche? Sie trug sich in der Bank am Stockholmer Norrmalmstorg zu, im August 1973, und dauerte mehrere Tage. Die ganze verrückte Geschichte können sie hier nachlesen.
Den Begriff, "Stockholm-Syndrom", prägte der schwedische Psychiater Nils Bejerot , dem während der Geiselnahme Zugang zur Bank gewährt worden war: Geiseln entwickeln unter Umständen eine irrationale Sympathie für ihre Geiselnehmer, weil die ihnen gelegentlich winzige Wohltaten angedeihen lassen - Essen, ein Gang zur Toilette. Die als gesichtslos erlebten Sicherheitskräfte draußen werden im Kopf der Geiseln langsam zu den Bösen. Sie halten die Sache nur auf und machen den netten Geiselnehmern das Leben schwer. Merken Sie sich bitte dieses Bild.
Verrechnet, immer in der gleichen Richtung
Kommen wir damit zur Nachrichtenlage dieser Woche. Nein, Sie haben keinen Banküberfall verpasst.
Ein Lungenarzt, der mit einem von Meinung und Anekdoten geprägten Papier die deutsche Dieseldebatte wochenlang dominieren konnte, hat sich auch noch verrechnet. Mehrmals. Immer zugunsten seiner dem wissenschaftlichen Konsens und den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) widersprechenden Thesen.
Der Lungenarzt Dieter Köhler räumte all das gegenüber der "taz" sogar ein - findet aber, dass er trotzdem Recht hat. Zur Erinnerung: Das von einigen Personen unterzeichnete, hanebüchen argumentierte, ohne Evidenz auskommende Köhler-Papier motivierte den in solchen Fragen auch nicht rational agierenden Verkehrsminister sogar, eine Änderung der Schadstoffgrenzwerte anzuregen.
Diesel, Diesel, wo kam der Schlamassel noch mal her?
Zweite Nachricht: Die EU gesteht der Bundesregierung ein Gesetz zu , mit dem Dieselfahrverbote in deutschen Städten möglichst vermieden werden sollen. Auch hier stehen wieder die Grenzwerte im Zentrum. Gesetz und EU-Genehmigung sind eher symbolisch, es geht wohl vor allem darum, Dieselfahrern zu signalisieren, dass man auf ihrer Seite steht.
Diesel, Diesel. Wer war noch mal an dem Schlamassel schuld? Die Wissenschaftler, die in Studien wieder und wieder Zusammenhänge zwischen diversen Erkrankungen, Stickoxiden und Feinstaub nachgewiesen haben? Die EU mit ihrem 1999 beschlossenen und 2008 bestätigten NO2-Grenzwert ? Autokäufer?
War da nicht noch was? Oder besser: jemand?
Ah, richtig! Da ist diese in Deutschland offenbar nahezu quer durch die Parteienlandschaft als systemrelevant eingestufte Branche, deren Vertreter bis heute beklagen, es gebe keine ausreichenden "Innovationsanreize" für weniger umweltschädliche Antriebstechniken. Die aber extrem innovativ war, was die Entwicklung, den Einbau und die jahrelange Verschleierung von Betrugssystemen angeht. Weil sie nicht innovativ genug war, sich dem aktuellen Regulierungsumfeld anzupassen, hat sie ihr Versagen zu vertuschen versucht.
Diese Branche hat ihren Käufern jahrelang in vollem Bewusstsein illegale Ware angedreht. Sie weigert sich bis heute, diesen Sachmangel vollständig auf ihre Kosten zu beseitigen. Ja, sie erlaubt sich sogar, ihre Kunden davor zu warnen, den Fehler von anderen reparieren zu lassen - das wäre nämlich ganz schlecht für die Garantie. Es ist, sorry, atemberaubend.
Ein gigantischer Kriminalfall, beschimpft werden die Zeugen
Wie kann es sein, dass dieser gigantische Kriminalfall mit Millionen direkt und Abermillionen indirekt Geschädigten nicht das zentrale Thema ist? Wieso streiten Ärzte mit Forschern, Umweltorganisationen mit Politikern? Wieso gehen all die erbosten Dieselkäufer nicht in Wolfsburg oder Ingolstadt auf die Straße und beschimpfen die Täter?
Ich kann mir das nur mit einer Kombination aus Stockholm-Syndrom und einem verwandten Konzept, der "post-purchase rationalisation" erklären. Letztere ist schnell erklärt - Details bietet das eingangs zitierte Buch: Wer etwas Unnötiges, zu Teures oder Fehlerhaftes gekauft hat, legt sich hinterher womöglich Begründungen zurecht, warum der Kauf trotzdem sinnvoll war. Um kognitive Dissonanz zu reduzieren, denn die ist unangenehm. Niemand gesteht sich gern einen Fehler ein. Im konkreten Fall: Es ist leichter, auf die Deutsche Umwelthilfe, Richter und die WHO sauer zu sein als auf den Automobilhersteller, dem man 30.000 oder 40.000 Euro für ein betrügerisches Produkt ausgehändigt hat.
Heimliches Motto: "Im Moment geht's ja noch."
Das Stockholm-Syndrom hat unterdessen augenscheinlich ganz Deutschland im Griff: Statt auf die Bankräuber schimpfen Politik, Autofahrer und viele Journalisten lieber auf Gesetze, Polizei, Gerichte und Zeugen. Böse Wissenschaftler, arme Konzerne. "Diesel-Irrsinn!". Der Geiselnehmer Autoindustrie hat fast alle eingewickelt - die einen mit "Wirtschaftsstandort!", die anderen mit "Arbeitsplätze!", wieder andere mit "Das wird man ja wohl noch fahren dürfen!".
Man tut der Branche mit all der Zuneigung keineswegs einen Gefallen. Mit ihrer staatlich geförderten Reformunfähigkeit ist sie dabei, sich selbst obsolet zu machen. Die wirklich relevanten Innovationen finden heute anderswo statt. Das heimliche Motto der deutschen Automobilbranche ist: "Im Moment geht's ja noch." So ähnlich muss die Stimmung bei Kodak um die Jahrtausendwende gewesen sein.
Glauben Sie, die Generation Greta Thunbergs wird noch Verbrennungsmotoren kaufen wollen?
Deutschland braucht dringend eine (bessere) Strategie in Sachen Künstliche Intelligenz. Noch dringender aber brauchen wir eine Autostrategie, die darüber hinausgeht, die Branche immer wieder vor den Konsequenzen ihrer eigenen kapitalen Fehlentscheidungen zu beschützen.
Autokanzlers Hammerzitat
Das aktuell prägnanteste Beispiel dafür lieferte kürzlich der ehemalige Autokanzler. Zum Thema Autobahn-Tempolimit sagte Gerhard Schröder (immer noch SPD) dem SPIEGEL, er sei immer dagegen gewesen, weil - Obacht - "die Autos hierzulande so ausgelegt sind, dass man sie schnell fahren kann". Eine Geschwindigkeitsbegrenzung, wie es sie bekanntlich in praktisch jedem Land der Welt gibt, in dem diese Autos gekauft werden, sei "der falsche Weg, mit dieser für uns so wichtigen Industrie umzugehen".
Mit anderen Worten: Schröder findet, dass die Bewohner dieses Landes kollektiv mehrere Millionen Tonnen CO2 und Dutzende Raser-Opfer im Jahr nun einmal zu investieren haben - als Marketingmaßnahme für die Geiselnehmer.